Pandemie 2022-1: Naturerfahrungen durch die Jahrhunderte

Meine Lektüre im ersten Quartal 2022 – Von Younghusband über Zweig zu Schrott

Berlin, 17. Februar 2022 (ssl) Nun gehen meine gesammelten pandemischen Leseerfahrungen schon ins dritte Jahr. Es ist eher Zufall, dass sie diesmal mit Büchern über individuelle Methoden und Erfahrungen beginnen, wie sich der/die Einzelne durch Naturerfahrung, ob extrem oder alltäglich, möglicherweise höhere, auf jeden Fall aber optimistische Lebensperspektiven aneignen kann, aber in anhaltenden Corona-Zwängen kann das ja nicht schaden. Bemerkenswert ist dabei, dass das Erscheinungsdatum der beiden ersten Bücher knapp 90 Jahre auseinander liegt.

Mohn. Zu dem Buch „Wo die wilden Pflanzen wohnen“ (#54)

(Zur Systematik, oder besser gesagt: Anarchie, der Buchauswahl finden Sie etwas am Ende des Posts.)

(51) Younghusband, Francis: Everest: The Challenge

Titelseite mit einem der zahlreichen Schwarzweißfotos. Die Qualität der wiedergegebenen Bilder des Hochgebirges ist meist überraschend gut.

Gelesen: London u.a.: Thomas Nelson & Sons Ltd. 1936. Gelesen in der 5. Auflage der „Travel and Adventure Series“ 1945. Leinen mit Schutzumschlag, Zahlreiche Karten und Schwarz-Weiß-Fotos, 250 Seiten.

Heute lieferbar: Hassell Street Press (9. September 2021), ISBN 978-1014293367, gebunden ca. 25,– €, Taschenbuch ca. 17,– bis 25,– €.

Inhaltsangabe: Die ersten gescheiterten Versuche, den höchsten Berg der Erde zu besteigen, und ihre Auswirkungen auf Wissenschaft und Erkenntnis. Younghusband schildert auch mehrere erfolgreiche Expeditionen auf andere Himalaya-Gipfel. Im zweiten Teil seines Buches geht er von der im ersten Teil postulierten positiven Wirkung der Hochgebirgserfahrung auf den Menschen aus und widmet sich der Frage, wie sich europäisch sozialisierte Menschen diese Wirkung zu eigen machen könnten.

Über den Autor: Sir Francis Younghusband (1863 Murree/Indien-1942 Lytchett Minster/UK) war zum Zeitpunkt, als er das Buch verfasste, Präsident der Royal Geographic Society in London. Er lässt sich in die Reihe der berühmten Himalaya-Forschungsreisenden einreihen, auch wenn er selbst keinen Achttausender bezwungen hat. Er bereiste aber wichtige, teils noch heute schwierig zu bewältigende Routen durch das Gebirge. In seiner Jugend lief er einen Weltrekord über die 300-yard- (274 Meter-) Strecke. In der britischen Indien-Armee machte er Karriere und war am ethisch äußerst fragwürdigen britischen Tibet-Feldzug 1903/4 beteiligt. Die Fragwürdigkeit dieser Unternehmung, die auf tibetischer Seite Tausende von Todesopfern forderte, erkannte er offenbar selbst und wandte sich später ausschließlich der Forschung und Beurteilung ihrer Ergebnisse aus religiöser Sicht zu, wobei er sich für die Überwindung der religiösen Animositäten einsetzte, was laut Wikipedia teilweise aber zu „schrulligem Mystizismus“ geführt hat.

Anlass der Lektüre: Geschenk meines Sohnes.

Bewertung: Amazon schreibt in der Anzeige der Neuauflage des Buches: „This work has been selected by scholars as being culturally important and is part of the knowledge base of civilization as we know it.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Mein Interesse für das Werk resultierte zunächst daraus, dass hier ein Mensch eine Forschungsaufgabe beschreibt, die nicht zum vollen Erfolg führte, denn den Gipfel des Mount Everest erreichte erst 1953 der Neuseeländer Edmund Hillary. Gleichwohl resultierten bereits aus den im Ziel gescheiterten Expeditionen wichtige Erkenntnisse über die Möglichkeiten des Menschen in großen Höhen und darüber, was solche Grenzerfahrungen mit den Menschen machen. Auch die Erfahrungswelt eines Kolonialisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, besonders in den 1930-er Jahren, die in Deutschland aus naheliegenden Gründen wenig rezipiert worden sein dürfte, war teilweise für mich neu.

(52) Macdonald, Helen: Abendflüge

Titel des Buches. © Hanser Verlag, München

Gelesen, heute lieferbar: Übersetzt von Ulrike Kretschmer. 4. Auflage, München: Carl Hanser Verlag 2020. 355 Seiten, Hardcover. ISBN 978-3-446-26930-9, 24,– €.

Inhaltsangabe: Essays über Begegnungen der Autorin mit Vögeln und über die Beziehung Mensch – Tier im allgemeinen und in ihrem besonderen Fall.

Über den Autor: Helen Macdonald (*1970) ist laut Klappentext „Autorin, Dichterin, Illustratorin und Wissenschaftshistorikerin. Sie schreibt regelmäßig für das New York Times Magazine und lebt in Suffolk“.

Anlass der Lektüre: Weihnachtsgeschenk meiner Frau.

Bewertung: Nature Writing pur. (Zur Definition u.a.) Auch wenn die Autorin seit ihrem Buch „H wie Habicht“ eine preisgekrönte, gefeierte Bestsellerautorin ist – mir ist die Darstellung zu egozentrisch und auch, wenn man die Essays als Manifestationen ihrer Haltung nimmt, was die Ich-Form nahelegt, teilweise diffus. Trotzdem passt es zu der vorherigen Lektüre (siehe #51), denn es geht wie dort darum, was Naturerlebnisse mit den empfindsamen Erlebenden machen. Und was die Gesellschaft tun könnte, um diese Erlebnisse leichter und möglichst vielen zugänglich zu machen. – Die Übersetzung hat deutliche Schwächen, sowohl stilistisch, als auch bei der Übertragung. Beispiel: „Am ersten Dezember schleppte ich meinen alten künstlichen Weihnachtsbaum vom Dachboden herunter und steckte ihn ein.“ (S. 272. Englische Vorgabe wahrscheinlich: „…plugged it in“, das legt jedenfalls die folgende Schilderung nahe.)

(53) Zweig, Stefan: Magellan – Pioneer of the Pacific

Ferdinand Magellan. Anonymes Porträt aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, Marinemuseum, Newport News

Gelesen: 1. Auflage der englischen Übersetzung von Eden und Cedar Paul. Cassell and Company Ltd. London et al. 1938. 316 Seiten, Leinen, mit einer Karte im Frontispiz und im hinteren Buchdeckel sowie 28 Abbildungen.

Heute lieferbar: Deutsch (Originalsprache): Fischer Taschenbuch, ISBN: 978-3-596-90358-0, 12,– €. – Im Internet (kostenlos) oder als PDF. Englisch: antiquarisch.

Inhaltsangabe: Biographischer Roman über die erste dokumentierte Weltumsegelung von 1519-1521, bei der Magellan auf den Philippinen in einer Schlacht mit Ureinwohnern den Tod findet.

Über den Autor: Stefan Zweig (1881 Wien – 1942 Petrópolis [Brasilien]), Sohn eines Textilunternehmers, war einer der berühmtesten und bekanntesten Schriftsteller der späten Gründer- und der Zwischenkriegszeit im deutschsprachigen Raum. Er war in dessen intellektuellem Großbürgertum gut vernetzt, zu seinen Freunden zählten Walther Rathenau und Sigmund Freud. Viele seiner Werke wurden weltweit übersetzt und gelesen. Als seine meistgelesenen Werke gelten die „Schachnovelle“ und „Sternstunden der Menschheit“ (1927), das in Deutschland zum Literaturkanon des Deutschunterrichts gehört. Er porträtiert darin berühmte Personen der Weltgeschichte, am (für mich) eindrucksvollsten Robert F. Scott, der sich mit Roald Amundsen ein Wettrennen bei der Entdeckung des Südpols lieferte und auf dem Rückweg ums Leben kam. Als österreichischer Jude emigrierte er 1934 aus Salzburg nach London und zog später über New York, Argentinien und Paraguay nach Brasilien, wo er sich schließlich zusammen mit seiner zweiten Frau wohl aufgrund von Depressionen das Leben nahm. „Magellan“ schrieb er in London; es wurde trotzdem 1938 vor dem „Anschluss“ Österreichs bei Herbert Reichner in Wien zuerst auf deutsch veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt waren Zweigs Werke im Reich bereits lange verboten. Sie waren auch von der Bücherverbrennung 1933 betroffen.

Anlass der Lektüre: Antiquarisches Weihnachtsgeschenk meines Sohnes, beantwortet gleichzeitig die Frage, warum ich deutsche Weltliteratur auf englisch lese.

Bewertung: Spannende Lektüre. Die starke Sprache Zweigs kommt auch im englischen Text noch gut rüber. Es gelingt ihm, die Umstände des Welthandels in Zeiten der Aufteilung der Welt in eine spanische und eine portugiesische Hemisphäre zu schildern, verbunden mit den höfischen Intrigen auf der iberischen Halbinsel und den Animositäten der handelnden Personen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und die Befindlichkeiten eines quasi einsamen, aber von seinem Ziel bis kurz vor seinem fast tragikomischen Tod voll eingenommen und nicht abzubringenden Weltentdeckers auf einer Reise zu schildern, deren Ausgang ihm selbst nicht klar war. Für Magellan waren die Ureinwohner, soweit er überhaupt auf sie traf, durchaus „niederer Rasse“, ob Zweig das auch fand, wage ich nicht zu beurteilen. Ebensowenig, ob Magellan wirklich, wie von Zweig dargestellt, ein friedlicheres Ziel bei der Landnahme der Kolonie, die später die Philippinen wurden, verfolgte als Kolumbus oder die anderen Conquistadoren, muss allerdings offen bleiben. Die Umstände der Weltumsegelung bieten alles, was eine spannende Lektüre ausmacht.

Erst bei fortgeschrittener Lektüre wurde mir bewusst, dass diese erste für Europäer wahrnehmbare Weltumsegelung zeitlich genau mit dem Auftritt Martin Luthers vor dem Reichstag in Worms („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“) zusammenfiel. Kaiser Karl V., vor dem Luther stand, war derselbe, der Magellan ermöglichte, die fünf Schiffe zu seiner Weltumsegelung auszustatten – genau vor 500 Jahren.

Das Buch hat mich angeregt, ein weiteres über dieselbe Reise zum zweiten Mal zu lesen: Raoul Schrott: Eine Geschichte des Windes (#55). Und es animiert zum Nachdenken über heutige Diskussionen unter Berücksichtigung des jeweiligen historischen Umfeldes. Es gibt noch ein drittes Buch über die Weltreise Magellans, das von der Quellenlage her das authentischste sein müsste, aber vor seiner Erstveröffentlichung einige aus heutiger Sicht höchst zensurverdächtige Stationen durchlaufen hat. Weil es mir ja nicht um die letzte historische Wahrheit geht, schiebe ich das auf: Pigafetta, Antonio: Die erste Reise um die Welt – An Bord mit Magellan. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgemeinschaft 2020. ISBN 978-3534272174

(54) Weber, Ewald: Wo die wilden Pflanzen wohnen. Geschichten über Kratzdistel, Besenginster & Co.

Buchdeckel. ©oekom Verlag

Heute lieferbar: oekom Verlang München 2022.256 S., Hardcover, zahlreiche Illustrationen von Rita Mühlbauer. Hardcover, ISBN 978-3-962383435. 22 Euro (D).

Inhaltsangabe: Beschreibung und Einordnung heimischer Wildpflanzen in die Bio- und Kultursphäre. Zahlreiche Aquarelle und Schwarzweiß-Zeichnungen für jede Pflanze.

Über den Autor: Ewald Weber ist Biologieprofessor an der Universität Potsdam. Rita Mühlbauer, Malerin und Illustratorin, veranstaltet Workshops und Ausstellungen zum Thema Natur.

Anlass der Lektüre: Buch wurde mir zur Rezension angeboten.

Bewertung: Tatsächlich versammelt das Buch viele interessante Geschichten um bekannte und unbekannte Wildpflanzen. Dazu kommt ein Apparat für alle, die die Themen vertiefen wollen. Siehe ausführliche Besprechung.

(55) Schrott, Raoul: Eine Geschichte des Windes oder Von dem deutschen Kanonier, der erstmals die Weltumrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal

Heute lieferbar: München: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; 1. Auflage 2019, Gebunden, 324 Seiten, mehrere Abbildungen. ISBN 978-3446263802, 26,– €

Inhaltsangabe: Die Reise Magellans (und die Vollendung der Weltumsegelung ohne den Entdecker) aus der Quasi-Simplicissimus-Perspektive des Kanoniers Hans aus Aachen. Den Logbüchern zufolge waren unter dem international zusammengewürfelten Besatzung der Fünf-Schiffe-Armada Magellans drei Deutsche, einer davon wahrscheinlich aus Aachen. Es gibt historische Hinweise darauf, dass dieser mindestens eine weitere Weltumsegelung und eine dritte Reise unternommen hat, auf der sich allerdings seine Spur verliert.

Über den Autor: Raoul Schrott (*17.01.1964 Landeck/Tirol) ist ein österreichischer Schriftsteller, Literatur- und Sprachwissenschaftler. Um es schubladengerecht zusammenzufassen: Er ist Komparatist und vom Dadaismus beeinflusst. Sein bisheriges Wirken allein wäre schon eine längere Auseinandersetzung wert. Er beschäftigt sich in seinem schriftstellerischen Werk häufig mit ungewöhnlichen Perspektiven tradierter historischer Ereignisse, so auch mit dem Wirken Tristan da Cunhas oder (wissenschaftlich) mit der Ilias, die er neu übertragen hat, und überhaupt mit der Person Homers, was zu einer streitigen Debatte mit etablierten Graezisten geführt hat. Näheres https://de.wikipedia.org/wiki/Raoul_Schrott , der Wikipedia-Eintrag geht merkwürdigerweise nicht über 2014 hinaus.

In der Werbung des Verlages für das Buch finden sich neben einer Leseprobe auch „fünf Fragen an den Autor“.

Anlass der Lektüre: Zweitlektüre als ergänzende Information zu Stefan Zweigs Magellan-Buch (#53).

Bewertung: Die erste Lektüre dieses Buchs, gekauft beim local dealer, hat schon Spaß gemacht, unter anderem wegen der besonderen Aufmachung des Produkts: alter, nicht geglätteter Seitenschnitt, keine Seiten-, sondern nur Kapitelzahlen (die Kapitel sind aber kurz genug, um die Lektüre danach zu unterteilen, wenn man keine Zeit hat, das Buch ohne Pause durchzulesen), eine alte Weltkarte à la „Die Erde ist eine Scheibe“. Beim zweiten Mal war es noch besser, weil viele Details, die bei Schrott unter anderem wegen der doppelt gebrochenen Erzählperspektive nicht eindeutig waren, sich leichter erklärten. Der Autor befleißigt sich eines altertümlichen Sprachduktus, oft ohne Rücksicht auf die Lesbarkeit, woran der Leser merkt, dass es auch ihm Spaß gemacht hat, die Sprache eines „tumben Tors“ zu finden und das Gefundene umzusetzen. Der Text relativiert die teils heroisierende Erzählweise Zweigs. Er lässt seinen Kanonier auch den Augenzeugen-Text Pigafettas relativieren. Aktuelle Relevanz: Nach der Lektüre beider Bücher erweitert sich der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Europas im 16. Jahrhunderts, was sehr hilfreich bei der Beurteilung von Forderungen ist, nach den „großen“ (Magellan war körperlich klein) Entdeckern benannte Straßen und Plätze umzubenennen.

Zur Auswahl der Bücher

Wie immer, ist die Auswahl der Bücher mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Dass ich hier Beschreibungen meiner Lektüre veröffentliche, hat folgenden Hintergrund: Oft sind mir Inhalte der Lektüre nach einiger Zeit nicht mehr präsent. Da habe ich mir gedacht, ich schreibe sie nach der Lektüre kurz auf. Und wenn ich das schon tue, dachte ich mir, kann ich das Geschriebene auch gleich in das Blog stellen, um vielleicht andere Menschen zu Lektüre anzuregen.

Natürlich lese ich keine Bücher zu Themen, die mich überhaupt nicht interessieren, oder Romane, die mir schon vom Klappentext her nichts zu bringen scheinen. Meine Auswahl wird bestimmt durch das Bedürfnis, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Oder Neugier. Oder eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen auffällt. Oder ich greife mir aus meinen überfüllten Regalen eins, das ich schon immer mal lesen wollte. Die ersten fünf Teile mit jeweils elf Buchbesprechungen mit Bewertungen – finden die Leser hier, hier, hier, hier und hier.

Für Anregungen und konstruktive Kritik bin ich jederzeit dankbar. Falls jemand sich in irgendwelchen Rechten verletzt fühlen sollte, bitte ich vor der Einleitung rechtlicher Schritte um ein klärendes Gespräch. Probleme lassen sich bestimmt gütlich und ohne Aufwand lösen.