Pandemie 2021-2: Von Boyle über Erasmus bis Slocum

Meine Lektüre im zweiten Quartal 2021

Berlin, 22. August (ssl) Der dritte Teil meiner gesammelten pandemischen Leseerfahrungen beginnt mit einem aktuellen Topseller: „Sprich mit mir“ von TC Boyle. Auch wenn ich selbst im tiefsten Winter das „Draußen“ nie vernachlässigt habe, nahm doch der Literaturkonsum einen großen Teil meiner Zeit in Anspruch. Nun, da der Frühling endlich eintritt, kann es sein, das der Buchkonsum quantitativ hinter Outdoor-Aktivitäten zurückstehen muss. Durch die harte Phase der Pandemie haben die Bücher aber sehr wohl geholfen. Deren Auswahl war und ist mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Das kann die Idee sein, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen in die Hände fällt. Oder ich greife mir eins, das ich schon immer mal lesen wollte. Oder, wie bei Boyle, der Gang zum glücklicherweise geöffneten Buchladen. Die ersten beiden Teile mit jeweils elf Buchbesprechungen mit Empfehlungen – oder eben auch nicht – finden die Leser hier und hier , und in diesem Beitrag stehen die nächsten.

© Carl Hanser Literaturverlag

(23) Boyle, T. Coraghessan: Sprich mit mir

Gelesen, erstmals erschienen, heute lieferbar: München: Carl Hanser 2020. 350 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-446-26925-6, 25,– €

Inhaltsangabe: Ein Experiment, einem Schimpansen (Gebärden-) Sprache beizubringen und auf diese Art und Weise hinter seine Gedanken zu kommen, scheitert an widrigen äußeren Umständen, aber auch an der Ignoranz der Gesellschaft.

Über den Autor: TC Boyle (*1948 Peekskill, New Jersey) ist einer der bekanntesten zeitgenössischen US-Schriftsteller. Mehr als andere seiner Landsleute hat er in Deutschland eine sehr große Fangemeinde, zu der auch ich seit „World‘s End“ (1992) zähle.

Anlass der Lektüre: Gefunden im Buchladen und mitgenommen, zusammen mit #21 Paul Auster: Mit Fremden sprechen. Beide Bücher lagen quasi nebeneinander. Ich hatte nicht wirklich erwartet, dass sie außer der Ähnlichkeit des Titels und der Zeitgenossenschaft irgendetwas gemeinsam haben würden.

Bewertung: Das Buch enttäuscht nicht. Es ist spannend, obwohl das tragische Ende von Anfang an unvermeidbar scheint. Teils ist es ein Road Movie, als die Protagonistin bei dem Versuch, dem Affen ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen, heimatlos und verfolgt umherzieht, teils legt es die Fehlallokationen wissenschaftlicher Arbeit offen, bei der es (wohl nicht nur in den 70-ern, in denen die Handlung spielt) dem einen darum geht, möglichst viel Geld einzuwerben und dem anderen darum, möglichst viel Ruhm mit den Ergebnissen spektakulärer Experimente zu erlangen, aber weniger dem wissenschaftlichen Fortschritt zu dienen.

(24) Marshall, Tim: Die Macht der Geographie

Gelesen: Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt. München: dtv 2017, Taschenbuch, 328 Seiten. ISBN: 978-3423349178, 12,90 €

Erstmals erschienen: Englische Originalausgabe: Prisoners of Geography Ort: Verlag 20xx

Inhaltsangabe: Der Autor setzt die Außen- und Verteidigungspolitik vieler Staaten mit ihrer Geographie in Beziehung, beispielsweise die russische Politik gegenüber der Ukraine und Weißrussland zu der nach Westen geographisch offenen Flanke durch die nordeuropäische Tiefebene.

Über den Autor: Tim Marshall (*1959 Leeds) ist Journalist, arbeitete u.a. bei Sky News und BBC, und anerkannter Experte für Außenpolitik. Er wurde für seine Berichterstattung vielfach ausgezeichnet. Sein Blog Foreign Matters war auf der Shortlist für den Orwell Prize 2010. Marshall hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. (https://de.wikipedia.org/wiki/Tim_Marshall )

Anlass der Lektüre: Gefunden im Bücherregal meines Sohnes.

Bewertung: Gute Zusammenstellung der außenpolitischen Szenarien, noch weitgehend aktuell trotz des für eine zeitgenössische Bewertung problematischen Alters (z.B. Trump nicht mehr an der Macht, Klimapolitik hat höhere Bedeutung, Corona ändert viel). Aber die geographischen Konnotationen bleiben gleich (außer in der Arktis!) und müssen immer mit berücksichtigt werden.

Vergleiche hierzu auch #27 (weiter unten) als passendes Update.

(25) Erasmus von Rotterdam: Lob der Torheit – Was bedeutet das alles?

Gelesen: Übersetzt von Uwe Schultz. Frankfurt: Insel Taschenbuch 1979, mit Randzeichnungen von Hans Holbein d.J., 200 Seiten, ISBN 3-458-32069-5, damals 10,– DM

Erstmals erschienen: 1509 in lateinischer Sprache als Encomium moriae.

Heute lieferbar: Zahlreiche Ausgaben, als Amazon-Kindle-Hörbuch kostenlos, aber auch u.a. Reclam-Universalbibliothek, Übers.: Gail, Anton J.,148 S., ISBN 978-3-15-019036-4, 5,–€

Inhaltsangabe: Die Torheit (stultitia) erklärt in Ich-Form und voller Humor und Satire die Welt vor allem anhand des Unsinns, der in ihr passiert.

Über den Autor: Desiderius Erasmus von Rotterdam (* vermutlich am 28. Oktober 1466/1467/1469, wahrscheinlich in Rotterdam; † 11./12. Juli 1536 in Basel) war ein bedeutender niederländischer Gelehrter des Renaissance-Humanismus. ( https://de.wikipedia.org/wiki/Erasmus_von_Rotterdam ) Der Zeitgenosse Martin Luthers war Theologe, Priester, Augustiner-Chorherr, Philologe und Autor zahlreicher Bücher. Er lehnte es aber, angeblich aus gesundheitlichen Gründen, ab, wie dieser 1521 vor dem Reichstag in Worms zu erscheinen.

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Starke Religions- und Kirchenkritik des berühmten Theologen und Philosophen. Die Übersetzung ist auch heute noch gewinnbringend und gut lesbar. Zugleich ermöglicht sie in der von mir gelesenen Ausgabe einen Parforceritt durch die griechische Mythologie – wenn man die Fußnoten liest, die allerdings wegen des hohen Erläuterungswertes besser jeweils am unteren Seitenrand stehen sollten als am Ende des Buches.

(26) Aebischer, Adrian: Eulen und Käuze – Auf den Spuren nächtlicher Jäger

Gelesen: Bern/Stuttgart/Wien: Haupt Verlag 2008, 250 Seiten, Hochglanz, gebunden, zahlreiche Abbildungen. ISBN 978-3-258-07276-0. Einschließlich CD mit Vogelstimmen. Heute lieferbar: Gebraucht ca. 24 €.

Inhaltsangabe: Kompendium aller in Europa wild vorkommenden Eulenarten. Genaue Beschreibung der einzelnen Arten, ihres Vorkommens und des Grades ihrer Bedrohung.

Über den Autor: Aebischer ist Biologe und in verschiedenen Ländern an ornithologischen Projekten beteiligt; er gilt als Spezialist für Satellitentelemetrie. (Aus dem Impressum)

Anlass der Lektüre: Vor Jahren als Geschenk erhalten, weil ich einmal Eulen gesammelt habe. Stand weitgehend ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Klärt den Nichtwissenschaftler vollständig und umfassend über die faszinierenden Tiere und ihre Lebenssituationen auf. Das Buch ist nicht nur (aber auch) als Nachschlagewerk empfehlenswert, sondern lässt sich auch gewinnbringend am Stück lesen. Zahlreiche Tabellen und viele gute Fotos bereichern die Lektüre ungemein.

(27) Wahlers, Gerhard (Hrsg.): Globale Machtverschiebungen

Gelesen: Auslandsinformationen der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Ausgabe 1/2021. Broschiert, 128 S. 10,–€. ISSN 0177-7521. Heute lieferbar: Bestellbar unter: www.auslandsinformationen.de

Inhaltsangabe: Mehrere Aufsätze verschiedener AutoInnen über Verschiebungen in der globalen Machtbalance, vor allem durch den Aufstieg Chinas zur Großmacht, aber auch durch die neue Politik Erdogans in der Türkei und durch Cyberangriffe, die auch kleineren Staaten (Venezuela!) völlig neue Machtperspektiven eröffnet.

Über den Autor: Der Herausgeber ist stellvertretender Generaldirektor und Leiter der Hauptabteilung Europäische und internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung

Anlass der Lektüre: Wurde als Besprechungsexemplar zugesandt. Traf nach der Lektüre von #24 ein.

Bewertung: Sehr gute Zusammenstellung der Hauptherausforderungen nach dem Ende der bipolaren Welt. Das Heft kann sehr gut als Update und Ergänzung des Titels „Die Macht der Geographie“ (#24) gelesen werden. Insbesondere vergessen die Autoren nicht, die Bedrohungen durch Cyberangriffe zu erwähnen und zu elaborieren. Jetzt fehlt nur noch ein Buch über die Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die strategische Situation im arktischen Raum. Bis dahin: https://www.arctic-report.net/wp-content/uploads/2012/07/Arktis-Tauwetter-mit-Konfliktpotential-CSS-Analyse.pdf

Christoph Martin Wieland

(28) Wieland, Christoph Martin: Aufsätze über die Französische Revolution

Gelesen in: Christoph Martin Wieland. Werke in vier Bänden. Bibliothek deutscher Klassiker. Berlin (DDR) und Weimar: Aufbau Verlag 1969. (Ganzleinen!) Bd. 4

Zuerst erschienen: 1789-1794 im „Neuen Teutschen Merkur“, als Microfiche hier kostenlos zu lesen. Zum „Neuen Teutschen Merkur“: „Offenbar war es Wielands Ziel, die genannten Nachteile der deutschen Kulturlandschaft [nämlich das Fehlen eines bedeutenden, richtungsweisenden und stilbildenden kulturellen Zentrums wie Paris] durch Schaffung eines publizistischen Bindeglieds ausgleichen zu helfen und die Bildung eines literarischen (National-)Geschmacks durch Rezensionen zu fördern.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Teutsche_Merkur )

Über den Autor: Christoph Martin Wieland(1733 Oberbolzheim bei Biberach – 1813 Weimar) war ein deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber. Er gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Aufklärung im deutschen Sprachgebiet. Er war der älteste des klassischen Viergestirns von Weimar neben Johann Gottfried Herder, Goethe und Schiller. Nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Martin_Wieland

Heute lieferbar:Christoph Martin Wieland: Meine Antworten. Aufsätze über die französische Revolution. 1789–1793. Nach den Erstdrucken im ›Teutschen Merkur‹ hrsg. von Fritz Martini. Hrsg.: Deutsches Literaturarchiv Marbach 1983. 160 Seiten. Pappbd. ISBN 3-933679-02-8, Bestell-Nr.: 22, 11,50€. Bestellbar u.a. hier.

Anlass der Lektüre: Die vier Werke-Bände standen weitgehend ungelesen im Regal.

Bewertung: Ausführlich siehe besonderen Blogbeitrag . Abgesehen davon, dass Wieland manchmal in gewagte Hypotaxe verfällt, die Thomas Mann wie einen Anfänger aussehen lassen, sind es sehr aufschlussreiche Texte darüber, wie Zeitgenossen die Umwälzungen in Frankreich nach Beginn der Aufklärung rezipiert haben und welche Irrtümer ihnen dabei unterlaufen, aber auch, zu welchen nahezu hellseherischen Prognosen sie in der Lage sind.

(29) Robert Stephenson Smyth Lord Baden-Powell of Gilwell: Pfadfinder

Gelesen in: Autorisierte deutsche Übersetzung des Schweizerischen Pfadfinderbundes. 11. Auflage. Zürich: Polygraphischer Verlag AG 1962. 326 Seiten. Ganzleinen(!) mit Schutzumschlag.

Erstmals erschienen: Scouting for Boys. Horace Cox, London 1908 (Januar bis März). – Erstausgabe; erschien in sechs jeweils etwa 70-seitigen Broschüren.

Heute lieferbar: Englischer Volltext: http://www.thedump.scoutscan.com/s4b.html oder Bundesamt St. Georg (Hrsg.)[2005 Neuss]: Baden-Powell: Pfadfinder: Scouting for Boys. ISBN 978-3-927349414

Inhaltsangabe: Kompendium der Erlebnispädagogik der vom Autor begründeten Pfadfinderbewegung. Handbuch für Pfadfinder. Beschreibt, teils aus autobiographisch-anekdotischer Evidenz, die wichtigsten Regeln für Pfadfinder zum Überleben a) in der unberührten Natur, b) in kriegerischen Auseinandersetzungen, c) angesichts zunehmender Dekadenz in der „zivilisierten“ Gesellschaft.

Über den Autor: Baden-Powell (1857 London – 1947 Nyeri [Kenia]) war ein hochdekorierter englischer Kavallerieoffizier und der Gründer der Pfadfinderbewegung. Er kämpfte während der britischen Kolonialzeit in Indien und dem südlichen Afrika und stand der elitären Haltung der Kolonialisten gegenüber den indigenen Kulturen durchaus kritisch gegenüber. Verbunden mit seinem – heute würde man sagen – Outdoor-Drang entwickelte er eine Philosophie, die unter anderem wegen der von ihm gesehenen Notwendigkeit die sozialen Unterschiede nicht im Äußeren hervortreten zu lassen, die Uniformierung der Kinder und Jugendlichen vorsah, die er zwar zu Disziplin, aber auch zu eigenständigem Denken erzogen wissen wollte. Im übrigen basierte sie auf dem christlichen Glauben und einer möglichst intensiven, auch zivilisationskritischen Naturverbundenheit.

Anlass der Lektüre: Das Buch, mit der Widmung „Herzlichen Glückwunsch zur Konfirmation von Deinem Meutenführer Heinz Eimuth – Ffm, den 24. 5. 66“, stand ungelesen im Regal.

Bewertung: Wie aus der Widmung hervorgeht, war ich zu pubertären Zeiten selbst Pfadfinder, und zwar hier: https://www.heliand-pfadfinderschaft.de/ . Das Motiv zum Lesen war teilweise auch nostalgischer Natur. Nach einigen abenteuerreichen Jahren in dieser Gruppe mit einigen Gleichgesinnten, die ich ausnahmslos aus den Augen verloren habe, stieg ich eines Spätwinters aus der Bewegung aus (und später in den Verband der Kriegsdienstverweigerer ein), nachdem das Führungspersonal uns, die wir noch nicht bis oben hin aufgestiegen waren, Mitte Februar ein Zeltlager zugemutet hatte. Dabei übernachteten die Führer in einer Kohte (einem mehr als mannshohen Zeit mit Feuerstelle in der Mitte), während wir Subordinierten in den klassischen, <1 m hohen Pfadfinderzelten zu viert auf 2×2 m2 nächtigen mussten, durch die es regnete bzw. schneite. Außerdem wehte damals ein Hauch von unseliger Vergangenheit über unserer Gruppe, weil eine der Führungspersönlichkeiten aktives NPD-Mitglied war. Auch wenn man Baden-Powell keine faschistischen und rassistischen Motive bei seiner Erlebnispädagogik unterstellen kann, ähneln Elemente der NS-Ideologie doch denen der Pfadfinder, die aber den Glauben als sozusagen rettenden Antikörper integrierten. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die heute in der Pfadfinderschaft St.Georg organisierten Pfadfinder verstehen sich pro-aktiv als demokratisch im Sinne des Grundgesetzes, und es gibt für mich keinen Grund, daran zu zweifeln: https://dpsg.de/de/themen/pfadfinden-ist-politisch.html

Zurück zu dem Buch: Tatsächlich ist es aus heutiger Sicht eine Gratwanderung zwischen teils fragwürdiger Disziplin-Verherrlichung und weitgehender Negation des Prinzips diskursiver, demokratischer Willensbildung bei gleichzeitiger Betonung der Verantwortung des Führungspersonals und der Eigenverantwortung jedes einzelnen sowie der Nächstenliebe („Täglich eine gute Tat“). Daher musste ich es damals nicht unbedingt lesen, zumal die für mich interessantesten Teile des Naturerlebens auch in der Gemeinschaft vermittelt und bei (anderen) Gruppenausflügen anschaulich und positiv vermittelt wurden. Wer nie Pfadfinder war und wissen möchte, ob er etwas verpasst hat, kann es querlesen und lernt gleichzeitig etwas über Naturbeobachtung und pädagogische Konzepte in Großbritannien Anfang des 20. Jahrhunderts.

© Hatje Cantz Verlag

(30) Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hrsg.): Alexander von Humboldt – Netzwerke des Wissens

Gelesen: Bonn 1999, Hatje Cantz Verlag. ISBN: 978-3775708098. Heute lieferbar: Nur noch antiquarisch erhältlich.

Inhaltsangabe: Als Katalog bzw. Begleitbuch einer Ausstellung in der Kunsthalle und im Haus der Kulturen der Welt, veranstaltet auch vom Goethe-Institut, versammelt das Buch Biographisches und Einordnendes über Alexander von Humboldt. Zahlreiche Aufsätze von Humboldt-Forschern geben einen umfassenden Überblick über dessen Leben und vor allem über sein Wirken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Anlass der Lektüre: Die Ausstellung war eines der ersten Kulturerlebnisse, das ich mit meiner Familie in Berlin hatte, als ich beruflich bedingt 1999 dorthin zog. Meine damals noch jungen Söhne schafften es, sie in einer halben, oder war es eine Dreiviertel?, Stunde zu durchlaufen. Den Ausstellungskatalog, den ich damals kaufte, las ich dann wegen Zeitmangels nicht. Bis zum Lockdown.

Bewertung: Im Buch wird in meist kurzen, reich bebilderten Beiträgen gut verständlich, warum Humboldt oft als „der letzte Universalgelehrte“ beschrieben wird. Wer Humboldt schätzt (wie ich), für den ist es eine wahre Fundgrube. Auch der Apparat hilft allen, die noch mehr wissen wollen, leicht weiter.

(31) Enard, Mathias: Das Jahresbankett der Totengräber

Gelesen/Heute lieferbar: München:Hanser Berlin 2021, ISBN 978-3-446-26934-7

Inhaltsangabe: Ein Pariser Anthropologiestudent begibt sich zu Feldstudien für seine Doktorarbeit aufs Land. Der Bürgermeister des Dorfs im Département Deux-Sèvres ist Totengräber. Des Studenten Integration ins Landleben führt zu einem erwartbaren Ergebnis. Großen Raum nimmt die kongeniale Beschreibung des Jahresbanketts ein.

Über den Autor: Enard, geboren 1972 in Niort – also vor Ort –, ist ein zeitgenössischer, auch in Deutschland preisgekrönter (u.a. Prix Goncourt) französischer Schriftsteller, der nicht nur Romane, sondern auch Gedichte schreibt.

Anlass der Lektüre: Entdeckt in der ARD-Sendung „druckfrisch“ mit Denis Scheck und anschließend als Geburtstagsgeschenk erhalten.

Bewertung: Fünf Sterne. Das eher einfache Framing lenkt zu Recht den Blick auf die Details, was es dem Autor ermöglicht, verschiedene – auch historische – Perspektiven für seine Erzählung einzunehmen und sie mit feinsinnigem Humor bis in die Fußnoten zu würzen. (Der Ich-Erzähler, ein offenbar nicht besonders überzeugender Anthropologe, zitiert hin und wieder aus eigenen „Gesammelten Werken“, die es natürlich wegen Erfolglosigkeit nicht gibt.) Sehr anregend die Schilderung des titelgebenden Ereignisse, bei der sich sofort Sehnsucht nach französischem Landleben und vor allem -essen einstellt. Der Autor wechselt souverän zwischen verschiedenen Erzählformen vom Tagebuch bis zum Versepos, zitiert vielleicht etwas zu oft aus dem klassischen Bildungsreservoir, was er aber – soweit der Protagonist autobiographische Züge trägt – auch selbstkritisch reflektiert. Gewollt oder nicht, ist der Roman auch eine Reiseempfehlung.

(32) Oates, Joyce Carol: Blond

Gelesen/Heute lieferbar: Hamburg: Ecco Verlag 2021. Übersetzt von Usa Strätling, Sabine Herdinger und Karin Lauer. 1020 Seiten. Überarbeitete Neuausgabe der ersten Ausgabe von 2001. ISBN: 978-3-7530-0004-6. 26,– €. Originaltitel: Oates, Joyce Carol: Blonde. Harper Collins Publ. UK (15. November 2018). ISBN: 978-1-841153728. Erstausgabe erschien 2001.

Inhaltsangabe: Roman, keine Biografie, über das Leben von Marilyn Monroe.

Über die Autorin: Joyce Carol Oates (geboren 1938 in Lockport, Conn.) ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen der Vereinigten Staaten. Vielfach ausgezeichnet, aber (noch?) nicht mit dem Literatur-Nobelpreis, schreibt sie sowohl über „realistisch-sozialkritische Themen (Jene, Foxfire) als auch Fantastisches (Bellefleur, Die Schwestern von Bloodsmoor). Ihre Jugendbücher wie Unter Verdacht und Sexy handeln zumeist vom Erwachsenwerden und den Schwierigkeiten, eine eigene Identität zu finden und sie gegenüber der Umwelt zu verteidigen.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Joyce_Carol_Oates)

Anlass der Lektüre: Anregung durch Bestsellerliste, Geburtstagsgeschenk.

Bewertung: Oates schreibt keine schlechten, sondern ergreifende Bücher. Das ist auch hier der Fall. Wer über die Monroe, Tony Curtis und Jack Lemmon in „Manche mögen‘s heiß“, für mich eine der besten Filmkomödien aller Zeiten, noch einmal unschuldig lachen und sich einen schönen Abend machen möchte, der tue das, bevor er dieses Buch liest. Denn wenn er es gelesen hat, trübt fortan die Erinnerung an die darin geschilderten vielfachen Missbrauchserlebnisse von Norma Jeane Baker die Szenen dieses wunderbaren Billy-Wilder-Films. Das ist jetzt nicht nur, aber auch sexuell gemeint.

Oates betont zwar, sie habe keine Biografie, sondern einen Roman geschrieben, aber es „lassen sich zu etlichen Romanfiguren reale Entsprechungen finden, aber die Charaktere und Ereignisse, von denen im vorliegenden Buch berichtet wird, sind Schöpfungen der Autorin“. (Aus der Impressumsseite des Buches) Das Buch arbeitet mit vielen inneren Monologen die vielfach gespaltene Persönlichkeit der Sex-Ikone des 20. Jahrhunderts heraus. Norma versteht sich erstens als Norma, zweitens als Marilyn, drittens als …(hier die Rollen in ihren Filmen wie Rose, Nell, Sugar Kane usw. einsetzen), sucht ihre virtuelle Magische Freundin und wird von den Männern in Hollywood, ja in der gesamten westlichen Welt vergöttert, ohne dass diese aber Respekt vor ihr hätten.

Oates bezeichnet sie immer dann als Blonde Darstellerin, wenn es der Monroe gelingt, in ihre jeweiligen vor der Kamera oder in der Öffentlichkeit gewünschten Rollen aufzugehen. Die Romanheldin schläft sich nicht nur nach ganz oben, sondern auch sonst mit dem Präsidenten und der Welt, immer in dem letztlich unerfüllten Wunsch, allen zu gefallen und irgendwo Geborgenheit zu finden. Sie lässt zwar sexuell alles mit sich machen (und Oates schreckt vor drastischen Darstellungen nicht zurück), hat aber je länger je weniger Spaß dabei, von Orgasmen zu schweigen. In Summe ertrinkt sie in Alkohol und Medikamenten, und es misslingt es ihr natürlich völlig, sich auch nur ansatzweise selbst zu verwirklichen. Während die offizielle Todesursache der Monroe auf Selbstmord lautet (sie hat es zuvor mehrfach versucht), bringt die Autorin die Möglichkeit ins Spiel, es handele sich um einen Mord via Injektion, beauftragt von staatlichen Stellen, um einen Skandal wegen der Affäre mit Präsident Kennedy vorzubeugen.

(33) Slocum, Joshua: Sailing Alone Around the World and Voyage of the Libertade

Gelesen: London: The Reprint Society 1949. Reprint Society war von 1939-1966 ein Buchklub für die britische Mittelschicht (https://en.wikipedia.org/wiki/The_Reprint_Society). Ganzleinen, 392 Seiten, 2 Karten, zahlreiche SW-Abbildungen. Erstausgabe „Sailing Around…“ 1900, ISBN 978-1-59308-303-8, „Voyage of…“ 1894.

Heute lieferbar: Als Taschenbuch: Independently published 2018. 192 Seiten. ISBN 978-1728663098, 6,71€ (Amazon), als E-Book: 1,99 €. (Kindle), als Hörbuch in englischer Sprache: https://librivox.org/sailing-alone-around-the-world-by-joshua-slocum/, kostenlos. Buch in deutscher Sprache: Slocum, Joshua: Allein um die Welt segeln. Vorwort von Wilfried Erdmann. Aequator Verlag 2014, 280 Seiten, ISBN 978-3957370006, 22,95€

Inhaltsangabe: „Sailing alone…“: Der Autor segelte von April 1895 bis Juni 1899 in einem selbst ausgebauten einmastigen Segelboot drei Jahre lang um die Welt und beschreibt seine Erlebnisse. „Voyage of…“: Als Kapitän eines Handelsseglers, begleitet von seiner Frau und zwei Söhnen, erlitt Slocum 1886 Schiffbruch an der südamerikanischen Atlantikküste. Er entschloss sich, statt als Reisender die Rückfahrt nach der US-Ostküste anzutreten, aus den Resten des Wracks und an der Küste vorhandenen Naturbaustoffen ein ca. 12 m langes Segel-“Canoe“ zu bauen und damit die Rückreise mit seiner Familie anzutreten. Es gelang. Diese und die vorausgehenden Abenteuer bis zum Schiffbruch, darunter Meuterei und Cholera-Ausbruch beschreibt er in dem zweiten Teil des Buches.

Über den Autor: Joshua Slocum (1844 Wilmot, Nova Scotia – 1909 verschollen auf dem Atlantik)

Anlass der Lektüre: Geschenk meiner Söhne zum Geburtstag, gekauft im Antiquariat „Shakespeare and Company“ in Paris. Im Buch eine Widmung eines Englischlehrers an zwei seiner französischen Schüler.

Bewertung: Ein Glück, dass die Verfasser meines Englisch-Wörterbuchs maritime Begriffe, gekennzeichnet mit einem Anker-Symbol, aufgenommen haben. Manchmal brauchte es dann aber trotzdem weitere Recherche, wenn ich zum Beispiel nicht wusste bzw. vergessen hatte, an welcher Stelle eines Segelboots sich der Klüverbaum befindet (Er ist eine Art Verlängerung des Bugspriets.). Das heißt aber nicht, dass es problematisch wäre, das Buch zu lesen. Im Gegenteil, es ist höchst unterhaltsam und Wissen vermittelnd. Der größte Profit stellt sich ein, wenn es zusammen mit einem Atlas, sei er aus Papier oder im virtuellen Raum, gelesen wird. Eine gewisse Offenheit für Reiseerzählungen und Abenteuerliteratur sollte vorhanden sein.

Slocum war offenbar ein ausgesprochen pragmatischer Mensch. Er ändert seinen Plan, die Welt alleine in östliche Richtung zu umsegeln, nachdem er bereits den Atlantik überquert hat und er in Gibraltar ernstzunehmende Warnungen vor Piraten im östliche Mittelmeer und in der Golfregion erhält. Was tut er? Fährt anders herum: nach Südwesten, umrundet Kap Horn, Australien und das Kap der Guten Hoffnung, und alles in einem einmastigen, zwölf Meter langen Boot, der Spray, die er auf der Reise förmlich lieben lernt.

Der Autor pflegt einen sehr trockenen, selbst bei der Schilderung lebensbedrohlicher Situationen humorvollen Stil. Er bewältigt Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen stilvoll, Auch wenn er etwa eingeborene Piraten in der Magellanstraße als „Wilde“ bezeichnet, ist die Schilderung frei vom Anschein weißer Überlegenheit. Dazu gibt es auch keinen Anlass, denn in Südafrika wird er von Paul Kruger (1825-1904, der auf dem Krugerrand, nach dem der Nationalpark benannt ist) empfangen, immerhin dem Präsidenten der Südafrikanischen Republik (1892-1902), den er brüskiert, indem er ihm mitteilt, dass die Erde eine Kugel ist. Kruger besteht ausgerechnet gegenüber einem Weltumsegler darauf, dass sie eine Scheibe sei. Einmal wird ihm eine Ziege geschenkt, die ihm auf seiner Reise Milch liefern soll und Fleisch, wenn es ganz hart kommt. Er nimmt sie an, verflucht dieses Nachgeben trotz anfänglicher Zweifel aber, als sie seine Seekarte von der Karibik frisst, deren Fehlen sich später noch sehr negativ bemerkbar macht. Von vorn bis hinten ein Lesegenuss. Das Buch ist im englisch-nordamerikanischen Sprachraum bei Marine-Affinen ein Riesenerfolg gewesen.