Meine Lektüre im zweiten Quartal 2022 – Viel über die „lost generation“ und „lost“ Polarforscher
Berlin, 26. Juni 2022 (ssl) Die Leseerfahrungen der vergangenen drei Monate umfassen Sachbücher zu historischen und aktuellen Themen, etwa Verschwörungstheorien, aber auch Romane aus Gegenwart und Vergangenheit. Dabei stellten sich sowohl erwartete als auch überraschende Erkenntnisfortschritte ein. Es sind etwas mehr geworden als in der vorherigen Folge, weil sich immer mehr Bücher aufgefordert und unaufgefordert in meinem Briefkasten bzw. den Gabentischen sammeln und zugleich die anderen Aktivitäten, wohl wegen der Nachwehen der Pandemie, noch nicht wieder volle Fahrt aufgenommen haben. Allerdings habe ich eine Fernreise mit dem Neun-Euro-Ticket unternommen , die reichlich Gelegenheit zum Lesen bot.
Zur Systematik, oder besser gesagt: Anarchie, der Buchauswahl finden Sie etwas am Ende des Posts.
(61) Küntzle, Timo: Landverstand
Heute lieferbar: Wien: Kremayr und Scheriau 2022. 288 Seiten, kartoniert mit integriertem Lesezeichen, 23,–€. ISBN 978-3-218-01290-4
Über den Autor (Verlagstext): Timo Küntzle, geboren 1974 als Sohn einer Getreide- und Milchbauernfamilie in Baden-Württemberg, lernte schon als Kind, wie Ackerbau funktioniert, befasste sich aber genauso mit den Zielen der aufkommenden Umweltbewegung und ist seit über 30 Jahren Mitglied des WWF. Nach der Ausbildung zum Landschaftsgärtner und einem Abschluss in Agrarwissenschaften der Universität Hohenheim verschlug es ihn in den Journalismus.
Inhaltsangabe: siehe ausführliche Besprechung
Anlass der Lektüre: Wurde mir als Rezensionsexemplar angeboten, zusammen mit #62 „Lovely Planet“ aus derselben Reihe. Besprechung hier.
Bewertung: Der Autor kämpft heldenhaft und zu Recht gegen Verallgemeinerungen und Herabwürdigungen industrieller und wissenschaftlicher Leistungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft. Ein bisschen weniger Übernahme der in der Landwirtschaft üblichen Medienschelte hätte dem Buch gutgetan, zumal Küntzle sich selbst gegen pauschale Verurteilungen wendet.
(62) Maria Kapeller: Lovely Planet. Mit dem Herzen reisen und die Welt bewahren.
Heute lieferbar:Wien: Kremayr und Scheriau 2022. 224 Seiten, kartoniert mit integriertem Lesezeichen, 23,–€. ISBN 978-3-218-01224-9
Über die Autorin: Kapeller (*1983) ist eine österreichische Reisejournalistin und Gründerin des alternativen Online-Reisemagazins www.kofferpacken.at. Sie vertritt die Slow-Travel-Philosophie.
Inhaltsangabe: Zusammenstellung zahlreicher wichtiger Quellen und Zahlen für einen kritisch reflektierten, möglichst umweltfreundlichen, sozialen und dem Klimawandel nicht allzu abträglichen Tourismus.
Anlass der Lektüre: Wurde mir als Rezensionsexemplar angeboten, zusammen mit #61 „Landverstand“ aus derselben Reihe.
Bewertung: Hoffentlich lesen es diejenigen, die etwas ändern sollten. Besprechung hier.
(63) William Boyd: Wie Schnee in der Sonne
Heute lieferbar:Zürich: Kampa Verlag AG 2021 (Kampa Pocket). 587 Seiten, Taschenbuch, 15,–€. ISBN 978-3-311-15031-2. Erstveröffentlichung unter dem Titel „Zum Nachtisch Krieg“, Rowohlt 1986, Englischsprachige Erstveröffentlichung u.d.T. „An Ice-Cream War“ 1982
Über den Autor: Boyd (* 7. März 1952 Accra, Ghana) verbrachte als Sohn schottischer Eltern zwar seine Kindheit in Afrika, besuchte aber später eine Schule in Schottland. Die Sommerferien verbachte er regelmäßig in Afrika. Er studierte in Nizza, Glasgow und Oxford Französisch, Philosophie und Englisch. Viele seiner Romane haben Afrika zum Thema. 2013 veröffentlichte er in der Nachfolge Ian Flemings einen „offiziellen“ James-Bond-Roman: Solo. Er lebt in London und im Bergerac, wo er auch Wein anbaut. Quelle.
Inhaltsangabe: Engländer, Amerikaner und Deutsche vor und im Ersten Weltkrieg in Deutsch-, Britisch- und Portugiesisch-Ostafrika, meist aus Sicht der Briten.Warum sie eigentlich in Ostafrika zu kämpfen begonnen haben, bleibt offen, und diese Sinnlosigkeit, die nur alle Beteiligten zu Opfern macht, ist auch das eigentliche Thema des Buches, neben der bitteren Schilderung der Zustände „zu Hause“, also in der Grafschaft Kent, in den besseren, gleichwohl nicht-adligen britischen Kreisen.
Anlass der Lektüre: Ostergeschenk meiner Frau.
Bewertung: Der Stil erinnert, gewollt oder nicht, an den von Zeitgenossen der Handlung, allerdings völlig ohne irgendwelche damals übliche Überhöhung. Vielmehr schildert Boyd auch drastisch Todes- und Verletzungsszenen. Die deutsche Übersetzung verwendet auch das N-Wort. Viele Kriegshandlungen zeichnen sich auch durch erheblichen Dilettantismus aus; trotzdem gewannen die Briten auch in Afrika. Es mutet heute geradezu unheimlich an, diesen Roman 2021 wieder aufzulegen, denn es kommt neben der militärischen Auseinandersetzung auch eine tödliche Grippe-Epidemie vor.
(64) Fritze, Ronald H.: Hoffnung, Angst und Schrecken. Moderne Mythen, Verschwörungstheorien und Pseudohistorie
Heute lieferbar:Zürich: Midas Verlag AG 2022. 370 Seiten, gebunden, 24,– €. ISBN 978-3-03876-552-3
Über den Autor: Ronald H. Fritze (*1951) ist ein Historiker, der für seine kritischen Werke über pseudohistorische Ideen bekannt ist. Er promovierte in Cambridge und lehrt derzeit an der Athens State University in Athens (Alabama/USA).
Inhaltsangabe: Fritze nimmt diese und einige andere Verschwörungstheorien und Pseudo-Geschichtsschreibungen in seinem Buch „Hoffnung, Angst und Schrecken“ minutiös auseinander. Wer es gelesen hat, kann im Zweifel in der Diskussion mit Verschwörungstheoretikern bestehen. Fritze nimmt dem Leser allerdings auch die Illusion, dass der wahre Gläubige sich widerlegen ließe: Wenn er nicht mehr weiter wisse, tue er auch schlüssige Widerlegungen als Konstrukte der Verschwörer ab.
Anlass der Lektüre: Angefordertes Besprechungsexemplar.
Bewertung: Lehrreich mit kleinen Fehlern. Ausführliche Besprechung hier.
(65) Sancton, Julian: Irrenhaus am Ende der Welt – Die Reise der Belgica in die dunkle antarktische Nacht. Übersetzt von Ulrike Frey.
Heute lieferbar: München: Malik (Piper) Verlag 2021. 495 Seiten, gebunden, 36 Schwarz-Weiß-Abbildungen, drei Zeichnungen, vier Karten, 26,– €. ISBN 978-3-89029-544-2
Über den Autor: Julian Sancton, Reporter und Autor, „wuchs in den Vereinigten Staaten und Frankreich auf. Er legte in Harvard einen Bachelor in Geschichte ab. Er arbeitete unter anderem für Vanity Fair, Esquire, The New Yorker und Wired. Das Buch war ein New York Times Bestseller.
Inhaltsangabe: Sachbuch über den Versuch Belgiens, in den Bemühungen der europäischen Länder und der USA um die letzten Entdeckungen mitzumischen. Der Versuch, letztlich erfolgreich, kostete eine Menge Geld und großes Aufopferungsvermögen der Beteiligten. Adrien de Gerlache, ein Seefahrer aus der Haute Volée des Landes, gelingt es, eine bunt zusammengewürfelte Mannschaft zusammenzustellen und die Belgica, eine Bark mit Dampfmaschine zu beschaffen, die einen so robust konstruierten Rumpf hatte, dass sie antarktistauglich war. Offizielles Ziel der Expedition von 1897-1899 war eine wissenschaftliche Schiffs- und Schlittenreise zum magnetischen Südpol. Das gelang zwar nicht, stattdessen mussten Schiff und Mannschaft – zu der auch Roald Amundsen zählte, der spätere Entdecker des geografischen Südpols – einen arktischen Winter im Packeis verbringen, mit allen Konsequenzen wie Skorbut und geistige Umnachtung in der Polarnacht. Wissenschaftlich wurde die Reise am Ende dennoch ein Erfolg. Der Autor wertete die Tagebücher ebenso wie die wissenschaftlichen Aufzeichnungen aus, die sich weltweit in verschiedenen Archiven bewahrt haben.
Anlass der Lektüre: Geschenk meiner Frau.
Bewertung: Ein spannendes Buch. Es steht in einer Reihe mit anderen fiktionalen Geschichten oder Sachbüchern bis Biografien über Polarexpeditionen von Zweig bis Shackleton (siehe #22) und verrät sehr viel über die historische und menschliche Befindlichkeit jener Jahre durch alle Schichten und viele Nationalitäten. Gut aufgearbeitet, nie langweilig, obwohl akribisch recherchiert, verschweigt der Autor auch nicht, wenn er sich über die tatsächlichen Fakten aufgrund unterschiedlicher Angaben der Beteiligten nicht klar werden konnte.
(66) Hemingway, Ernest: The Sun Also Rises
Gelesen als/Heute lieferbar u.a.: The authorized edition. New York: Scribner (Simon & Schuster) 2006, 31. Auflage (1. Auflage Charles Scribner‘s Sons 1926), Paperback, 257 S. ISBN 978-0-7432-9733-2, 16,– $ (ca. 12,80 € bei amazon.de)
Über den Autor: Siehe hier, #59
Inhaltsangabe: Eine Gruppe intellektueller Kriegsteilnehmer aus der amerikanischen Community in Paris reist Anfang der 1920-er Jahre nach Nordspanien, um sich dort dem Fischen in weitgehend unberührter Natur, der Fiesta San Fermin in Pamplona und dem Alkohol hinzugeben. In den Dialogen und Handlungen der Gruppe werden Befindlichkeit und Traumata der „Lost generation“ herausgearbeitet.
Anlass der Lektüre: Anregung meines Sohnes und vorhergehende Lektüre von „A Moveable Feast“ (#59), in dem Hemingway ebenfalls, wenngleich weniger fatalistisch, sondern autobiografisch das Leben im Paris der 1920-er Jahre beschreibt.
Bewertung: Schließe mich der allgemeinen Bewertung dieses berühmten Romans hinsichtlich der trockenen Darstellung und des präzise dargestellten Lebensumstände der Expat-Community an, die plan- und ziellos sowie tatsächlich fast ohne Kontakt zu den Einheimischen in Paris leben konnte, voll inhaltlich an. Allerdings sollte man ein distanziertes Verhältnis zum Alkohol haben. Hemingway und seine Freunde einschließlich der „Hauptperson im Schatten“ Lady Brett Ashley trinken so viel, dass man schon vom Lesen betrunken wird. Pflichtlektüre für alle, die unbarock schreiben lernen möchten.
(67) Friedrich, Tobias: Der Flussregenpfeifer
Gelesen als: Roman. 1. Auflage, München: C. Bertelsmann 2022. Schutzumschlag, gebunden, mit Karte im Vorsatz und Lesezeichen. ISBN 978-3-570-10433-0, 24,– €
Über den Autor: „Tobias Friedrich (*1969 in Göttingen) schreibt seit den 90-er Jahren Texte und Musik für seine Bands Viktoriapark und Husten… woei für andere Künstlerinnen und Künstler., Er war Herausgeber eines Berliner Musikmagazins, arbeitet als Autor von Sachbüchern und ist Co-Veranstalter der Berliner Musik- und Lese-Show ‚Ein Hit ist ein Hit‘. ‚Der Flussregenpfeifer ‚ ist sein literarisches Debut.“ (Klappentext)
Inhaltsangabe: Die Handlung basiert auf der wahren Geschichte eines Faltbootfahrers Oskar Speck, der sich Anfang der 1930-er Jahre mit seinem Boot von Hamburg auf die Reise nach Zypern macht, um einen Wettbewerb zu gewinnen und auf diese Weise von seinen Schulden loszukommen. Er landet nach sieben Jahren und zahlreichen Abenteuern, immer wieder von der Ablehnung des NS-Regimes im Ausland eingeholt, schließlich in Australien. Friedrich hat den Angaben (und der Danksagung) zufolge die recht spärlichen Quellen um eigene Ausschmückungen ergänzt, findet sich also in der Tradition berühmter Schriftsteller wie Stefan Zweig (#53) oder Raoul Schrott (#55).
Anlass der Lektüre: Geschenk meiner Frau.
Bewertung: Spannender Abenteuerroman, fesselnd geschrieben. Nach wie vor erscheint es mir als Wunder, wie es mit einem kleinen Faltboot möglich ist, längere Strecken bis zu 60 Stunden übers offene Meer zu fahren und anzukommen. Einige Details mehr über Navigation und Überlebensstrategien hätten mir gefallen. Der Titel des Buches ist der Spitzname des Paddlers. Er wurde ihm nicht wegen seiner Lebensweise auf dieser Reise verliehen, sondern wegen seines Aussehens: „Blassgelbe Beine, gelb geränderte Augen und schwarze Ringe um Kopf und Hals.“
(68) Blume, Lesley M.M.: Und alle benehmen sich daneben – Wie Hemingway seine Legende erschuf
Gelesen als: München: dtv Verlagsgesellschaft mbH 2017. Gebunden mit Schutzumschlag, 512 Seiten, zahlreiche SW-Abbildungen. ISBN 978-3-423-28109-6, antiquarisch erworben, Preis ca. 15,– €. Amerikanische Originalausgabe: Everybody behaves badly: The true story behind Hemingway’s Masterpiece The Sun Also Rises. Boston/New York: Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company 2016. ISBN 978-0544944435
Über die Autorin: Die Journalistin Lesley M.M. Blume „begann ihre Karriere in Amman bei The Jordan Times. In New York hat sie sich spezialisiert auf kulturhistorische Themen und herausgehobene Persönlichkeiten… Ihre Essays und Artikel erscheinen regelmäßig in Vanity Fair, The Wall Street Journal und Vogue. Heute lebt sie in Kalifornien.“ (Klappentext)
Inhaltsangabe: Viel Hintergrund über eines der ersten und berühmtesten Werke (siehe #66) des Literaturnobelpreisträgers und vor allem über die „lost generation“ die 20 bis 35 Jahre alten intellektuellen Veteranen des Ersten Weltkriegs, die in den 1920-er Jahre nicht so recht wussten, wohin, und deshalb über die Stränge schlugen, wo sie nur konnten. Zugleich entzaubert es den Mythos Hemingway ein wenig. Wer schon immer geglaubt hat, Hemingway sei ein richtiger Macho, der zwar keine Gefangenen macht, aber auf ein unzerstörbares Netzwerk Gleichgesinnter zurückgreifen kann, sieht sich enttäuscht: Er nutzte seine Freunde gnadenlos aus, um den Erfolg zu erlangen, den er literarisch natürlich verdient hat.
Anlass der Lektüre: Anregung nach der Lektüre des titelgebenden Buches (#66) und (#59)
Bewertung: Sehr empfehlenswert, außer man möchte Hemingway als Gutmensch sehen. Tiefer Einblick in die Gemütswelt der intellektuellen US-amerikanischen Community der Zwischenkriegszeit, allerdings, thematisch verständlich, mehr auf die Pariser Exil-Künstler als auf die schwierige Situation in der Heimat konzentriert. Für historische Analysen bleibt noch viel Raum.
(69) Barnes, Julian: Der Lärm der Zeit
Heute lieferbar: Roman. 1. Auflage München: btb Verlagsgruppe Random House GmbH 2018. Taschenbuch (btb) 250 Seiten, ISBN 978-3-442-71652-4, 10,–
Über den Autor: Julian Patrick Barnes (*1946 Leicester) ist ein englischer Schriftsteller. Er studierte in Oxford Sprachen und Jura, arbeitete zunächst u.a. als Journalist und seit 1980 als Schriftsteller. Als Durchbruch bezeichnet Wikipedia den Roman Flauberts Papagei (1984). Weltbekannt auch Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln (1990). Wiederkehrende Themen sind die Beziehungen von Literatur (und in diesem Fall Musik) zur Realität.
Inhaltsangabe: Das schwierige Verhältnis des Komponisten Dmitri Schostakowitsch zur Sowjetmacht, repräsentiert zunächst durch den Diktator Stalin und nach dessen Entzauberung durch weniger brutale, aber immer noch kommunistich-demokratiefeindliche repressive Regierungs- und Herrschaftsapparate. Er schildert, wie sich in Musik durch Ironie Opposition und Kritik manifestieren kann, aber immer der Zweifel bleibt, wer es überhaupt zur Kenntnis nimmt und welche Schlüsse die Mächtigen daraus ziehen.
Anlass der Lektüre: Geburtstagsgeschenk.
Bewertung: Sehr lesenswert. Auch wenn es von der Vergangenheit handelt, lässt sich erahnen, wie sich „Freiheit“ in den derzeit nach Meinung von Pessimisten aufstrebenden Autokratien manifestiert. Wer will, kann daraus lernen, welche Gewissenskonflikte ihm erspart bleiben, wenn in seinem Land die Menschenrechte nicht nur toleriert, sondern auch gelebt werden.
(70) Kristensen, Monica: Amundsens letzte Reise
Heute lieferbar: 1. Auflage. München: btb, Verlagsgruppe Random House GmbH 2021. Taschenbuch, 465 Seiten. Zahlreiche Abbildungen, drei Karten. ISBN 978-3-442-77058-8. 12,– €
Über den Autor: Monica Kristensen ist Glaziologin und Schriftstellerin. Als eine der bekanntesten norwegischen Polarforscherinnen hat sie selbst zahlreiche Expeditionen in Arktis und Antarktis geleitet. (Quelle: Klappentext)
Inhaltsangabe: Das Buch passt in eines der special interest-Gebiete, das sich eher zufällig in meiner Lektüre-Serie der vergangenen Jahre entwickelt hat, die Polarforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Amundsen als in vieler Hinsicht herausragende Persönlichkeit, deren Ruhm den Zenit überschritten hat, steht hier nicht ganz so im Mittelpunkt, wie es der Titel suggeriert. Gleichwohl durchzieht der Name dieses Buch wie auch vorhergegangene Lektüre (z.B. #65). Es geht aber quantitativ in erster Linie um die verschiedenen internationalen Bemühungen um die Rettung der Luftschiffexpedition des italienischen Luftfahrtpioniers Umberto Nobile, an der Amundsen sich auch beteiligte und bei der sein Flugzeug bis auf einige angeschwemmte Teile verschollen blieb, ebenso wie die Crew.
Anlass der Lektüre: Geburtstagsgeschenk.
Bewertung: Aus meiner Sicht nicht schlimm, dass es keine Biografie Amundsens geworden ist. Davon gibt es schon genug. Die vielfältigen, zumindest teilweise erfolgreichen Ansätze, die havarierte Nobile-Expedition zu retten, sind ebenso interessant wie die bürokratischen und diplomatischen Hemmnisse, die einer gezielteren und effizienteren Organisation entgegenstanden.
So merkwürdig es sich zunächst anhört, ist auch der Kontrast zu anderen Büchern mit scheinbar fernliegenden Themen historisch interessant: Das vorher gelesene „Und alle benehmen sich daneben“ (#68), das von der „Lost generation“ nach dem Ersten Weltkrieg handelt, spielt zur selben Zeit, und die gleichzeitige Lektüre zeigt die Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Verwerfungen jener Zeit, die vielfach mit der heutigen verglichen wird. Am Ende waren weder Amundsen noch Hemingway „lost“, wenn auch ersterer verschollen blieb und letzterer sich selbst das Leben nahm.
Verglichen mit #65 „Das Irrenhaus am Ende der Welt“ über die Antarktisexpedition der „Belgica“ 1897-1899, zeigt „Amundsens letzte Reise“ die immensen Fortschritte bei der Mobilität und Kommunikation in drei Jahrzehnten: Während der „Belgica“-Reise war eine Rettungsaktion aus der Luft mangels Flugzeugen ebenso unvorstellbar wie deren Koordination per Funk. Also: Viel gelernt bei der Lektüre. Eine genauere Karte hätte mir allerdings noch mehr Freude bereitet. Die vor Textbeginn eingefügte ist wenig aussagekräftig.
Zur Auswahl der Bücher
Wie immer, ist die Auswahl der Bücher mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Dass ich hier Beschreibungen meiner Lektüre veröffentliche, hat folgenden Hintergrund: Oft sind mir Inhalte der Lektüre nach einiger Zeit nicht mehr präsent. Da habe ich mir gedacht, ich schreibe sie nach der Lektüre kurz auf. Und wenn ich das schon tue, dachte ich mir weiter, kann ich das Geschriebene auch gleich in das Blog stellen, um vielleicht andere Menschen zu Lektüre anzuregen.
Natürlich lese ich keine Bücher zu Themen, die mich überhaupt nicht interessieren, oder Romane, die mir schon vom Klappentext her nichts zu bringen scheinen. Meine Auswahl wird bestimmt durch das Bedürfnis, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Oder die Bücher werden mir als Besprechungsexemplare angeboten. Oder Neugier. Oder eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen auffällt. Oder ich greife mir aus meinen überfüllten Regalen eins, das ich schon immer mal lesen wollte.
Die 70 Bücher, die seit Pandemiebeginn bereits über meinen Nachttisch gegangen sind, finden Leserinnen und Leser hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier .
Für Anregungen und konstruktive Kritik bin ich jederzeit dankbar. Falls jemand sich in irgendwelchen Rechten verletzt fühlen sollte, bitte ich vor der Einleitung rechtlicher Schritte um ein klärendes Gespräch. Probleme lassen sich bestimmt gütlich und ohne Aufwand lösen.