Für einen Tag das Meer sehen

Maria Kapellers „Lovely Planet“: Grundlagen für ethisch reflektiertes Reisen

Berlin, 15. April (ssl) Wie der Zufall so spielt, lag zeitgleich mit der Lektüre von „Lovely Planet“ ein Prospekt eines großen deutschen Bekleidungshauses im Briefkasten. Bei dem Buch der österreichischen Reisejournalistin Maria Kapeller mit dem Untertitel „Mit dem Herzen reisen und die Welt bewahren“ geht es darum, den nach ihrer Ansicht dem Menschen immanenten Drang zur Mobilität so weit zu zähmen und in den Dienst des verantwortungsvollen Lebens zu stellen, dass das schlechte Gewissen Ruhe gibt. In dem Prospekt geht es darum, Klamotten zu verkaufen. Beide Publikationen beschäftigen sich zugleich mit der Klimakrise: der Prospekt, weil das Unternehmen das einschlägige Zertifikat für die Compliance braucht; das Buch, weil die Autorin das Reisen kritisch-konstruktiv reflektiert.

Foto © Verlag Kremayr und Scheriau

Der Titel spielt mit dem des Reiseführer „Lonely Planet“, der wenig beachtete Reiseziele in den Vordergrund stellte, die aber heute auch oft überlaufen sind. Heute sind nahezu alle jemals fotografierten Reiseziele Bestandteil einer von Instagrammability geprägten Reisemanie, die den klassischen Tourismus ad absurdum führt. Kapeller beschäftigt sich mit allem Aspekten, mit denen heute „Reisen“ und „Gewissen“ in einem Satz genannt werden. Muss es in dieser Häufigkeit, in dieser Masse und mit exzessiven Emissionen von Klimagasen sein, wie wir es heute tun? Es schadet dem Klima, und es schadet oft auch den Regionen, die wir bereisen. Die Autorin interviewte Philosophen, Psychologen, Tourismus- und Klimaforscher und „Postwachstumsökonom“ Niko Paech, der prinzipiell ein Ende des Wachstums fordert, um die Erde zu retten.

Kapeller hatte bei mir spätestens ab Seite 29 einen Stein im Brett, wo sie den frühen Hans Magnus Enzensberger (1958) unter anderem mit den Worten zitiert: „Sehenswürdig ist, was man gesehen haben muss.“ Mit anderen Worten: Wer nach dem Reiseführer reist, hat den Sinn des Reisens verkannt, nämlich den eigenen Horizont zu erweitern und nicht nur zu bestätigen. Enzensberger antizipiert die heutige Situation, wo viele nur irgendwohin reisen, um in den sozialen Medien damit anzugeben, um die „bucket list“ abzuarbeiten. Je nach Art des Reisens konnte es auch früher gesellschaftspolitisch fragwürdig sein, aber heute ist es ein Massenphänomen und deshalb auch klima- und umweltpolitisch fragwürdig. In demselben Aufsatz schreibt er auch den inzwischen berühmten Satz: „Der Tourismus zerstört, was er sucht, indem er es findet.“

Enzensberger ebenso wie Kapeller blenden in ihren Stellungnahmen zweierlei „Reisegruppen“ aus: Jene, die nur aus ihrem Alltag ausbrechen wollen wie heute die Ballermann-Leute. Diese haben sicher kein Verständnis dafür, dass sie sich jede Reise aus ökologischen Gründen mehrmals überlegen sollen. Dann wären da noch die Dienstreisenden, die mit allen denkbaren ökonomischen Ausreden ins Flugzeug steigen. Um deren Ausreden zu neutralisieren, müsste natürlich das gesamte Gesellschaftsmodell umgebaut werden.

Kapeller betont die Wichtigkeit ethischer Überlegungen: „Reisen ist eben Luxus.“ Wir hier können uns das nur erlauben, weil es weltweit eine überwältigende Mehrheit von Menschen gibt, die noch nie geflogen sind und also auch noch nie alleine tonnenweise CO2, emittiert haben und das auch niemals tun werden. Da hilft noch nicht einmal die Kompensationszahlung beim Flugpreis, denn die schädlichen Gase werden trotzdem emittiert. Man nennt es Greenwashing.

Man nennt es Greenwashing

Hier kommt der Prospekt ins Spiel. Er ist auf klimafreundlichem Papier klimafreundlich gedruckt, wie zwei Zertifikate auf Seite 1 dokumentieren, stellt aber die passende Kleidung für den „Sommer in der Ferne“ vor, „feiert die Leichtigkeit des Moments“, schwärmt vom „Getaway Style“, von „Le Weekend“, den „kleinen Sommerferien am Ende der Woche – für einen Tag das Meer sehen“.

Immerhin hat das Virus, weil es vorübergehend das Reisen weitgehend unmöglich, mindestens aber anstrengender als bisher gemacht hat, bei vielen kritische Reflexionen ausgelöst. Wie lange deren Resultate anhalten, sei dahingestellt. Vielleicht teilen nun mehr Menschen Kapellers Fazit: Im Alltag beginnen, die Reise zu sich selbst anzutreten, sich selbst Freiräume für das schaffen, was man bisher im Alltag unerfüllt glaubte. Es ist leichter geschrieben als getan. Aber es verringert die Sehnsucht, immer öfter immer größere Entfernungen zwischen sich und den Alltag legen zu wollen und am Ende doch am Urlaubsstress zu verzweifeln. Wer selten und überlegt reist, ist für verantwortungsvolle Mobilität noch nicht verloren. Und kauft auch nicht für jeden Urlaub neue Fummel.

Maria Kapeller: Lovely Planet. Wien: Kremayr und Scheriau 2022. 224 Seiten, kartoniert mit integriertem Lesezeichen, 23,–€. ISBN 978-3-218-01224-9