Vom „Simpl“ bis zu den Ochsen von Laon

Meine Lektüre bis Ende März 2022 – Viel Frankreich, einmal Zwischenkriegszeit, einmal internationale Krisen

Berlin, 29. März 2022 (ssl) Aus pandemischen Leseerfahrungen werden jetzt auch noch krisenhafte Leseerfahrungen. Die Liste der gelesenen ebenso wie der zu lesenden Bücher wird immer länger, und das schöne Wetter im März hat die Lesezeit etwas verkürzt. Ein kurzer Paris-Aufenthalt beeinflusste die Liste ebenfalls massiv, nachdem schon vorher ein aktueller Bestseller mit Frankreich-Bezug vor mir lag. Hier also nun die Lektüren Nummer 56 bis 60.

Der Autor vor dem berühmten Bücherladen. © Arrow Books

Zur Systematik, oder besser gesagt: Anarchie, der Buchauswahl finden Sie etwas am Ende des Posts.

(56) Haus der Kunst München e.V (Hrsg.): Simplicissimus – Eine satirische Zeitschrift – München 1896-1944

Deckel des Buches. Foto: Rietig

Gelesen: München: Karl Thiemig AG 1978. Wissenschaftliche Bearbeitung: Carla Schulz-Hoffmann. Ausstellungskatalog Mathildenhöhe Darmstadt, Juni-August 1978. Hardcover, 478 Seiten, 500+ Abbildungen S/W und Farbe.

Heute lieferbar: Nur noch antiquarisch, Preis variiert stark, zwischen 10 und 82 Euro.

Inhaltsangabe: Katalog einer Ausstellung, die sowohl im Haus der Kunst als auch auf der Mathildenhöhe gezeigt wurde und die Geschichte der satirischen Zeitschrift umfassend und im historischen Kontext darstellt.

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Ein üppig gestalteter Ausstellungskatalog mit fundierten wissenschaftlichen Beiträgen. Er beleuchtet die großbürgerliche Satirezeitschrift mit kritischer Distanz, besonders in Bezug auf die Zeit des Ersten Weltkriegs, in dem sich der „Simpl“ von seiner innenpolitik-kritischen Haltung verabschiedete und seine Kritik auf das Ausland richtete, besonders Großbritannien und Russland. Aber auch Frankreich kommt im Gegensatz zu der frankophilen Haltung während der Kaiserzeit nicht mehr gut weg. Zur Weimarer Zeit wieder innenpolitisch liberal, verschätzten sich die doch politisch so gewieften Mitarbeiter, indem sie bezweifelten, dass Hitler es an die Macht schaffen würde. Während des NS-Regimes wurde der Simplicissimus nicht verboten, beschränkte sich aber auch auf unpolitische Kritik und „Humor“ bzw. auf außenpolitische Spitzen. Das mindert aber nicht die Verdienste um kritische Kultur vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit mit Zeichner-Ikonen wie Olaf Gulbransson oder Th.Th. Heine.

(57) Houellebecq, Michel: Vernichten. Roman

Gelesen als: 1. Auflage.

Heute lieferbar: Köln: DuMont Buchverlag 2022. Hardcover. 621 Seiten, einige Zeichnungen. ISBN 978-3-8321-8193-2, 28 Euro

Über den Autor: Houellebecq (* 27. Februar 1958 [laut Waschzettel, Wikipedia nennt 1956 unter Berufung auf die Geburtsurkunde, aber auch 1958] in Saint-Pierre auf Réunion) ist einer der wichtigsten internationalen Gegenwartsautoren. Seine Bücher sind seit fast 30 Jahren Bestseller der Weltliteratur. Laut Wikipedia hatte er eine abenteuerliche Kindheit, die ihn über Algerien nach Frankreich führte. Er ist diplomierter Landwirtschaftsingenieur und hat auch drei Jahre im französischen Landwirtschaftsministerium gearbeitet. Mit seinen Romanen ist er stets nah am „Zeitgeist“, beschreibt schonungslos die westliche Konsumgesellschaft. Oft werden ihm prophetische Fähigkeiten nachgesagt, andererseits werden ihm Rassismus oder Sexismus vorgeworfen. In französischen und anderen intellektuellen Zirkeln wird er teilweise als „nouveau réactionnaire“ beschimpft.

Inhaltsangabe: Paul Raison, persönlicher Berater des französischen Wirtschaftsministers, soll diesen durch den Wahlkampf 2027 führen, in dem der Minister nicht als Präsidentschaftskandidat auftritt, sondern diesen, einen Fernsehmoderator, mit Fachwissen unterstützt. Zeitgleich finden Terroranschläge statt, die von Fachleuten und Geheimdiensten nur schwer zugeordnet werden können und bei deren ideologischem Überbau Houellebecq teilweise auf Symbole jener antisemitischen Verschwörer zurückgreift, die den Mythos der Protokolle der Weisen von Zion aufrechterhalten. Während das Leben Raisons quasi zu Ende geführt wird, verliert sich gegen Ende des Buches der Terrorismus-Erzählstrang.

Anlass der Lektüre: Geschenk meiner Frau.

Bewertung: Sehr spannend, zu Recht auf der Bestsellerliste (zum Zeitpunkt, als ich diesen Beitrag verfasste, in der fünften Woche auf Platz eins).Sowohl die Teilbiografie Raisons und seines familiären und gesellschaftlichen Umfelds als auch die Terror- und Terrorbekämpfungsgeschichte wirken sehr glaubwürdig.Auch das Jahr 2027 als Spielzeit kommt gut rüber, zu der sehr treffend geschilderten, quasi ziellosen Dekadenz der Handelnden sowohl dem Weltgeschehen als auch persönlichen Schicksalen gegenüber passen die Weiterentwicklungen der gesellschaftlichen Umstände um gerade mal fünf Jahre. Die kurze zeitliche Distanz hat den Vorteil, dass dem Autor und uns Lesern die Schilderung utopischer technologischer oder gesellschaftlicher Entwicklung erspart bleibt. Da wäre allerdings kritisch anzumerken, dass auch der Klimawandel, ebenso wie die Diskussionen darüber kaum vorkommt.

Buchdeckel. Foto: Rietig

(58) Wahlers, Gerhard (Hrsg.): Auf dem Rückzug? Westliche Sicherheitspolitik nach Afghanistan

Heute lieferbar: Auslandsinformationen der Konrad-Adenauer-Stiftung, 1/2022., ISSN 0177-7521, broschiert, 92 S., zahlreiche Abbildungen, 10,– € (zu beziehen bei www.auslandsinformationen.de)

Inhaltsangabe: Aufarbeitung gescheiterter, wenig erfolgreicher oder durch“Wegschauen gar nicht erst erfolgter westlicher Militäreinsätze zur Aufrechterhaltung demokratischer Strukturen von Mali bis Bergkarabach.

Anlass der Lektüre: Besprechungsexemplar wurde mir zugesandt.

Bewertung: Leichtes Erschauern bei der Lektüre angesichts des Krieges in der Ukraine. Hochinformativ, lässt viele Rückschlüsse auf politische und diplomatische Insuffizienzen „des Westens“, aber auch über dessen teils divergierende Interessen zu. Besonders der Beitrag über die anhaltend kritische Lage in Bergkarabach, also dem Konflikt am Südkaukasus, der offiziell zwischen Armenien und Aserbaidschan stattfindet, geht für eine der CDU nahestehende Stiftung verblüffend offen kritisch mit Abgeordneten der Unionsfraktion um – Stichwort: Kaviar-Diplomatie

(59) Hemingway, Ernest: A Moveable Feast

Gelesen als: The Restored Edition, Foreword byPatrick Hemingway, Edited with an Introduction by Sean Hemingway, Taschenbuch, zahlreiche SW-Illstrationen und Manuskript-Faksimiles, 240 Seiten. 15. Auflage, London: Arrow Books [Penguin Books] 2011, 240 Seiten. ISBN 978-0-09-955702-9, 7,99 €. Die historische Ausgabe als Hardcover steht für 600+ € im Netz.

Über den Autor: Ernest Hemingway (1899 Oak Park, Ill.[USA] – 1961 Selbstmord in Ketchum, Idaho [USA] ist einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. 1954 erhielt er den Literaturnobelpreis. Sein legendärer lakonischer Reportagestil resultiert nach allgemeiner Auffassung aus seinen literarischen Anfängen im Journalismus. Er kämpfte im Ersten und im Zweiten Weltkrieg sowie als Kriegsberichterstatter im Spanischen Bürgerkrieg.

Mir gefallen neben dem hier besprochenen Buch am besten: „For Whom the Bell Tolls“ (Wem die Stunde schlägt) und „To Have and Have Not“ (Haben und Nichthaben). Weltberühmt ist auch: „The Old Man and the Sea“ (Der alte Mann und das Meer). Alle drei sind sehr erfolgreich und mit hochprominenter Besetzung verfilmt worden. Hemingway fiel vor einigen Jahren (sic!) bei manchen als Inbegriff des Macho-Schriftstellers in Misskredit, weil er unter anderem boxte, Großwild jagte und Hochseefischen als Sport auffasste. Mehrere Passagen in „A Moveable Feast“ zeigen diesbezüglich durchaus selbstkritische Züge etwa in seiner Haltung gegenüber seiner ersten Ehefrau Hadley, als er sie mit seiner späteren zweiten Frau (von vier) Pauline betrog.

Inhaltsangabe: Hemingway beschreibt hier anekdotisch-biographisch seine Aufenthalte in Paris in den 1920-er Jahren. Es ist eine Wiedergabe des für die Zeit sehr liberalen Lebens im Paris des Goldenen Zeitalters, das vor allem für dorthin zahlreich „emigrierten“ US-amerikanischen Intellektuellen, die sich im prüden Amerika beengt, in Paris aber inspiriert fühlten. Viele Kapitel beschreiben ihn als jungen Schriftsteller, der quasi das Handwerk noch lernt, in einer gewissermaßen unschuldigen Lebens- und unsicheren Schaffensphase, in der viel von der Begegnung mit Kollegen wie Ezra Pound oder Scott Fitzgerald profitierte, auch wenn er diese in seinen Beschreibungen nicht schont. Das Buch ist aber zu weiten Teilen erst kurz vor seinem Tod geschrieben, und er legt nicht ohne Koketterie Wert darauf (im Gegensatz zu der Wikipedia-Klassifizierung ), dass es sich um ein fiktionales Werk handelt.

Anlass der Lektüre: Ein Aufenthalt in Paris, wo wir unseren Sohn Matias besuchten, der in der Rue Notre-Dame des Champs wohnt – wie einst Hemingway. Nach einer Runde durch Antiquariate (wo ich Lektüre #60 erstand) überließ er mir das Buch.

Bewertung: Da ich schon vorher Hemingway gerne las und außerdem frankophil bin, überrascht es nicht, dass ich von dem Buch hingerissen bin. Faszinierender Stil, offen, direkt, beschreibt all die Straßen, Plätze und Häuser, Bars und Restaurants, die man heute noch ganz ähnlich abwandern kann (letztere sind aber inzwischen deutlich exklusiver als in den 1920-ern), und die persönlichen Höhen und Tiefen eines Mannes zwischen 20 und 30, der gerade dabei ist, sich in seiner Berufung als Schriftsteller zu etablieren. Nach der Lektüre beschloss ich, auch noch „The Sun also Rises“ (1926, deutsch: „Fiesta“) zu lesen. Mehr darüber später.

(60) Wharton, Edith: A Motor-Flight Through France

Buchdeckel. Foto: Rietig

Gelesen als: Einführung von Mary Suzanne Schriber, DeKalb, Illinois (USA): Northern Illinois University Press, 1991, 2012. Reprint der Originalausgabe von 1908. Paperback, 204 Seiten, zahlreiche SW-Fotos, ISBN 978-0-87580-686-0.

Heute lieferbar: Neuerer, aber nach den Bewertungen zu urteilen, drucktechnisch schlechterer Reprint von 2020. ISBN 979-8583757077 . Deutsch unter dem Titel „Frankreichfahrt“ bei Insel 2007 erschienen. Insel Taschenbuch 3270, ISBN 978-3-458-34970-9, 7,50 €

Über die Autorin: Wharton (1862 New York – 1937 Saint-Brice-sous-Forêt /Frankreich) ist eine amerikanische Schriftstellerin und – laut Wikipedia Verfasserin sozialkritischer Romane. Der bekannteste ist „Zeit der Unschuld“ (1920), für den sie als erste Frau überhaupt mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Ihre Wahlheimat war Frankreich, wo sie zwischen den Weltkriegen auch mit der Pariser Expat-Community, darunter Ernest Hemingway und Henry James, zusammentraf und einen Salon führte.

Inhaltsangabe: Wahrscheinlich hat es 1908 die Leser (im Gegensatz zu mir) nicht sonderlich interessiert, wie kompliziert (im Vergleich zu heute) es für Mann oder Frau gewesen sein muss, mit einem Automobil durch Frankreich zu fahren. Eventuelle Probleme schildert die Autorin jedenfalls in diesem Buch nicht, sie beschreibt nicht einmal das Auto. Aus der Einführung geht aber hervor, dass es sich um einen Panhard&Levassor von 1904 handelt.

Whartons Arbeitstitel ist vielmehr: „The motor-car restored the romance of travel.“ Das ist durchaus als Kritik am Reisen mit der Eisenbahn gemeint, in der sich der/die Reisende oft an interessanten Punkten vorbei bewegt und nicht anhalten kann, wo es ihm oder ihr gerade gefällt. Auch mit diesem Umstand beschäftigt Wharton sich nicht weiter. Vielmehr beschreibt sie nach Art eines Kulturführers die Sehenswürdigkeiten und ihre historischen Hintergründe.

Anlass der Lektüre: Kauf in einem Pariser Antiquariat.

Bewertung: Ich hatte die Beschreibung einer Autofahrt unter besonderer Berücksichtigung des Geschlechts der Autorin erwartet, aber meine Erwartungen in dieser Hinsicht wurden enttäuscht. Dennoch ist das Buch ein lesbarer „etwas anderer“ Reiseführer, denn er widmet sich explizit nicht den klassischen touristischen Reisezielen Frankreichs, sondern der Provinz. Das weckt auch Reiselust. Die Schwarzweiß-Fotos sind von minderer Qualität. Ich weiß nicht, ob es dem Umstand geschuldet ist, dass sie mehrfach „reprinted“ wurden, oder eben der Frühzeit der Fotografie. Es gibt anderswo schärfere und kontrastreichere Fotos aus dem sehr frühen 20. Jahrhundert. Interessant sind die Bilder in diesem Buch trotzdem, zeigen sie doch ein Land ohne Autos (und weitgehend ohne Menschen auf den Straßen und Plätzen). Viele der von Wharton beschriebenen Sehenswürdigkeiten fanden sich im vorigen Jahrhundert auch auf populären Briefmarken, die zu den Highlights meiner Sammlung aus Kindertagen gehört. Bei Foto und Beschreibung der Kathedrale von Rouen ist mir eingefallen, dass genau diese Gebäude 25 Jahre, bevor Wharton mit ihrem Panhard dort parkte, von Claude Monet in einer weltberühmten Bilderserie verewigt wurde. Bei den Schilderungen Nordostfrankreichs lernt man Neues über die Ochsen von Laon, erinnert sich aber auch daran, dass eines der heute nachhaltigsten Landschaftsmerkmale während der Reise Whartons noch nicht vorhanden war – die riesigen Soldatenfriedhöfe, die hier nach den verheerenden Abnutzungskämpfen des Ersten Weltkriegs angelegt werden mussten.

Aus meiner Sammlung. ©Foto: Rietig

Zur Auswahl der Bücher

Wie immer, ist die Auswahl der Bücher mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Dass ich hier Beschreibungen meiner Lektüre veröffentliche, hat folgenden Hintergrund: Oft sind mir Inhalte der Lektüre nach einiger Zeit nicht mehr präsent. Da habe ich mir gedacht, ich schreibe sie nach der Lektüre kurz auf. Und wenn ich das schon tue, dachte ich mir weiter, kann ich das Geschriebene auch gleich in das Blog stellen, um vielleicht andere Menschen zu Lektüre anzuregen.

Natürlich lese ich keine Bücher zu Themen, die mich überhaupt nicht interessieren, oder Romane, die mir schon vom Klappentext her nichts zu bringen scheinen. Meine Auswahl wird bestimmt durch das Bedürfnis, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Oder Neugier. Oder eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen auffällt. Oder ich greife mir aus meinen überfüllten Regalen eins, das ich schon immer mal lesen wollte. 

Die 55 Bücher, die seit Pandemiebeginn bereits über meinen Nachttisch gegangen sind, finden Leserinnen und Leser hierhierhierhierhier und hier .

Für Anregungen und konstruktive Kritik bin ich jederzeit dankbar. Falls jemand sich in irgendwelchen Rechten verletzt fühlen sollte, bitte ich vor der Einleitung rechtlicher Schritte um ein klärendes Gespräch. Probleme lassen sich bestimmt gütlich und ohne Aufwand lösen.