Master and Slave im Lastwagen

Autobauer vor elementaren Veränderungen (Update mit Bildern des neuen VW Crafter)

Frankfurt(M)/Berlin, 26. Juni (ssl) Zweistellige Zuwachsraten in Westeuropa melden die Hersteller für schwere Nutzfahrzeuge – außer in Deutschland, da sind es „nur“ 9,2 Prozent. Auf den ersten Blick sehen die Zahlen der deutschen Autobauer vom Caddy bis zum Tagebaukipper von Januar bis Mai gut aus. Auf anderen Kontinenten ist es eher durchwachsen, aber offenbar nicht alarmierend: Nordamerika Nullwachstum, Brasilien „freier Fall“, wie es der Verband deutscher Automobilhersteller (VDA) formulierte, China erholt sich wieder. Daimler, VW und Co. haben dennoch drei große Herausforderungen vor sich, angesichts derer sie sich nicht entspannt zurücklehnen wollen: autonomes Fahren, Elektromobilität und Vernetzung. Im Prinzip geht es darum, dass sie weit mehr machen müssen als nur verkaufen, sondern sich stärker als heute in die Optimierung der Transportkette einbringen müssen, wenn sie Herren der Branche bleiben und nicht zum Sklaven der Globalisierung und der Technologie 4.0 werden wollen.

Die ersten Bilder vom neuen Crafter von Volkswagen. Werksfoto
Ein erstes Bild des neuen Crafter von Volkswagen.                    Werksfoto

Wenn die wachsenden Vorbehalte gegen den Diesel auch die Branche der Nutzfahrzeughersteller erreichen sollten, steht sie vor einem schweren Problem, zumindest was den Güterfernverkehr angeht. Unter anderem deshalb war auf dem „Internationalen Presseworkshop“ des VDA im Vorfeld der IAA Nutzfahrzeuge wieder ein klares Bekenntnis zum Lang-Lkw zu hören, bei dem die Schadstoffreduzierung im Vordergrund stand. Angesichts der derzeitigen Performance im Schienengüterfernverkehr fällt es schwer, den Befürwortern zu entgegnen: „Wenn ihr ihn nicht kriegt, dann geht doch auf die Bahn.“ Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Gigaliner auch bald kommen. Die Gegner werden immer leiser und das Echo immer schwächer.

VW-Vorstand und CEO Volkswagen Truck & Bus GmbH Andreas Renschler interpretierte die von seinem Vorstandschef Matthias Müller ausgerufene Dieseldämmerung als „bestimmt nicht auf Nutzfahrzeuge gemünzt“. In naher Zukunft werde vielleicht in die Stadt mit Hybridfahrzeugen elektrisch rein- und/oder rausgefahren, aber für den Fernverkehr auf der Straße gebe es mit Sicherheit bis 2040 keine elektrische Lösung. Er war sich darin mit Wolfgang Bernhard von Daimler einig, ebenso wie mit Henrik Henriksson, dem Scania-CEO. Dieser nahm den Energievorrat als Beispiel. Wenn die 1.500 Liter Diesel, die ein 40-Tonner heute mitführen dürfe, durch Batterieleistung ersetzt werden solle, würde allein diese 60 Tonnen wiegen.

Gigaliner: Viel Politik- und Lobby-Lärm.
Gigaliner: Viel Politik- und Lobby-Lärm.

Bernhard forderte, den Gigaliner „sofort, europaweit und grenzüberschreitend zuzulassen“. Der Zuwachs im Güterverkehr sei „so rasant, dass wir den Lang-Lkw dringend brauchen“. Er sei das am schnellsten praktizierbare Schadstoff- und Energiesparmodell, das derzeit möglich sei und nannte CO2-Einsparungen von 17 Prozent. Renschler erklärte gar, die Nutzfahrzeughersteller verzichteten dabei auf Verkaufsmöglichkeiten, weil ja zwei Gigaliner drei herkömmliche Lastzüge ersetzten. Gero Schulze-Isford, Geschäftsführer des Anhängerherstellers Krone, wünschte sich erwartungsgemäß, Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt möge zur IAA Ende September verkünden, dass der Lang-Lkw in den Regelbetrieb übergehen könne. Ralf Eschemann, Vice President des Paketdienstleisters ups für Europa, nahm für die von ihm „eco-Liner“ genannten Fahrzeuge in Anspruch, sie schonten wegen der geringeren Achslast die Infrastruktur und nähmen der Schiene keinen Verkehr weg, da die mit der Bahn und die auf der Straße transportierten Güter „völlig verschiedene Produkte“ seien. Die Schiene sei gut für Massengüter, die Straße dagegen für Stückgut, das just in time gefahren werden müsse.

Eschemann ließ in einem Nebensatz eine Beschwerde anklingen: „Der Markt lässt uns im Stich.“ Er bezog sich dabei auf das Segment der Elektrofahrzeuge von 3,5 bis 7,5 Tonnen Gesamtgewicht, also den typischen Nah- und Regionalverkehrsverteilern, vulgo Sprintern. Die anwesenden Herstellervertreter übergingen die Bemerkung mit Schweigen, obwohl das Segment gerade mit dem wachsenden Online-Handel zunehmende Bedeutung gewinnt. Hoffen wir mal, dass sie mit dem Schweigen nur die Spannung vor der IAA hochhalten wollen. Bernhard kündigte immerhin im Zusammenhang eines Kundentests mit fünf elektrischen Fuso-Lastern in Stuttgart „weitere Neuigkeiten beim elektrischen Fahren“ an, ohne sie zu nennen.

Eckhard Scholz, Vorsitzender des Markenvorstands Volkswagen Nutzfahrzeuge, berichtete über den neuen VW Crafter, der zur IAA vorgestellt werden soll und offenbar auch elektrisch fährt. Er stellte seine Präsentation vollständig unter das Motto „kundenorientierte Entwicklung“ und machte als „zukünftige Kundenanforderungen“ neben Effizienz und Vernetzung auch Nachhaltigkeit in Form von „Alltagstauglicher Elektrifizierung“ aus. Anschließend erklärte Scholz: „Das leichte Nutzfahrzeug der Zukunft ist effizienter, qualitativer, digitaler, nachhaltiger und multifunktionaler als jemals zuvor. Es fährt elektrisch und in einigen Jahren auch autonom.“ Erste Fotos des neuen „großen Bruders des VW-Bullis“  – so Albert-Johann Kirzinger, Head of Design bei Volkswagen Nutzfahrzeuge – wurden inzwischen veröffentlicht. Kirzinger nannte für den Transporter einen Luftwiderstandsbeiwert von 0,33. Das sei in dieser Klasse bisher unerreicht.

Kundenorientierung geht oft mit Sicherheitsoptimierung einher. Die Cockpits des VW-Bullis T1 (1950, links) und des aktuellen T6. Fotos: Volkswagen
Kundenorientierung geht oft mit Sicherheitsoptimierung einher. Die Cockpits des VW-Bullis T1 (1950, links) und des aktuellen T6. Fotos: Volkswagen
Und hier der neue Crafter von hinten. Werksfoto
Und hier der neue Crafter von hinten. Werksfoto

Anders als bei der Elektromobilität stellen sich die Autobauer gerne der Herausforderung nach dem autonomen Fahren, auch wenn es zunächst einmal um das teilautonome Fahren geht. Sie können damit beim Kunden die Hoffnung auf Einsparung bei den Personalkosten wecken, wenn auch vielleicht erst in zehn Jahren. Ohne Vernetzung geht da nämlich gar nichts, schon aus Sicherheitsgründen. Die Forderung, zumindest an den Autobahnen zuverlässige Handy-Standards sicherzustellen, bestimmte denn auch die Ausführungen der Manager. In Sachen Vernetzung allgemein kündigte Daimler ein neues Telematik-System namens Uptime an. Es analysiert ständig den Zustand des Fahrzeugs und soll rechtzeitig erkennen, wenn sich etwas zum Schlechten ändert, und auch gleich Lösungsvorschläge unterbreiten. Das geht vom Ankündigen, dass der Reifendruck zu gering ist, bis zur Feststellung der Software, dass der Lkw liegenzubleiben droht, wenn nicht … In letzterem Fall erfährt das Kundenhilfecenter von Daimler noch vor dem Fahrer, dass Handlungsbedarf besteht, und nimmt mit ihm Kontakt auf, indem es ihm mitteilt, wie lange der Lkw noch fahrbereit sein könnte, und ob er seine Ware noch vor dem Werkstattbesuch ausliefern kann. Die Service-Teams, die persönlich in Maastricht sitzen, wissen, wo die nächste Werkstatt ist und ob sie Zeit zur Reparatur hat.

Vernetzung ist überall. Foto: Daimler
Vernetzung ist überall. Foto: Daimler

Zum teilautonomen Fahren gehört auch das „Platooning“, also das Kolonnenfahren. Es ist aber im Gegensatz zur militärischen Variante ein Master-and-slave-System, bei dem mehrere Lkw relativ dicht hintereinander und in technischer Abhängigkeit voneinander fahren. Es spart ebenfalls Energie. Ein „echter“ Fahrer sitzt nur im vorderen Fahrzeug, das die nachfolgenden mit den nötigen Daten versorgt, um unfallfrei hinterher fahren zu können. In den bisherigen Versuchen sitzen in den anderen Cockpits auch noch Fahrer, um notfalls eingreifen zu können, etwa wenn ein menschlicher Pkw-Fahrer oder ein Wildtier vernunftwidrig zwischen die Platoonists einschert. Es funktioniert übrigens auch schon ohne totale Datenautobahnen, wie zahlreiche Feldversuche beweisen. Noch bevor das System aber auf den Markt losgelassen wird, haben die Hersteller aber das Problem erkannt, dass die Kommunikationssysteme standardisiert werden müssen, damit der Spediteur nicht gezwungen ist, markenreine Fuhrparks zu betreiben. Bernhard versprach, dass es 2020 so weit sein solle.

Ein weiteres Problem ist aber noch lange nicht gelöst: Wer haftet beim autonomen Fahren? Bisher lassen sich Schäden in der Regel auf verkehrswidriges Verhalten oder höhere Gewalt zurückführen. Wird im Gegensatz dazu nachgewiesen, dass der Hersteller verantwortlich ist, so ergab das weltweite Schlagzeilen und zumindest in den USA gewaltige Regressforderungen und -zahlungen. Bernhard erklärte zwar, dass aus der Nutzung hochentwickelter Assistenzsysteme erstens weniger Unfälle überhaupt und zweitens weniger schwere Unfälle resultierten, aber: „Wenn das Fahrzeug die Kontrolle übernimmt, müssen wir als Hersteller bei Unfällen haften.“ Das werde besonders in den USA zum Problem, wo das Vorsorgeprinzip anders als in der EU hinter der nachträglichen Haftung zurücktritt. Es wirft neben betriebswirtschaftlichen auch ethische Probleme auf, die noch lange nicht gelöst sind und sich bei jeder Diskussion über autonomes Fahren wiederfinden: Welches Verhalten programmiere ich einer Maschine für Fälle ein, die im antiken Sinne tragisch sind, also keine „gute“ Lösung ermöglichen?

Im Bergbau fahren Laster und Bagger schon autonom. Foto: Volvo
Im Bergbau fahren Laster und Bagger schon autonom. Foto: Volvo

Immerhin ist autonomes Fahren auch für die Humanisierung der Arbeitswelt gut: In weitgehend hermetischen Verkehrsräumen wie dem Bergbau oder dem Hamburger Hafen wird es bereits praktiziert. Die Produktivität erhöht sich nach Angaben von Volvo-Trucks Chef Hakan Carlsson um 100 Prozent, die Kosten sinken um 30 Prozent. Allein diese Zahlen machen deutlich, dass die alte Autowelt vor wirklich umwälzenden, eben disruptiven Entwicklungen steht. Wer am Ende der Herr und wer der Sklave ist, entscheidet sich gerade.

Das Rohmaterial und weitere Texte zum Workshop gibt es hier.