Mit dem Kulturzug auf einen Samstag in die Kulturhauptstadt Breslau
Berlin/Breslau, 19. Juni (ssl) Breslau ist Kulturhauptstadt Europas 2016. Und plötzlich hat es mit Berlin eine Beziehungsgeschichte (1988 war [West-] Berlin Kulturstadt Europas). Sollte es sie schon länger gegeben haben, wie zwei Buchautoren suggerieren, so ist es jedenfalls im öffentlichen Berlin nicht aufgefallen. Wie auch immer, es gibt jetzt einen Kulturzug der Deutschen Bahn, der an Wochenenden zwischen den Beziehungspunkten verkehrt und ein echter Publikumserfolg geworden ist. Tatsächlich haben Breslau und Berlin dieser Tage viel gemeinsam: Reichlich Touristen mit und ohne Rollkoffer drängen sich in den Innenstädten. Vorwiegend sind sie jung und kommen offenbar aus ganz Europa.
Die Stadt selbst allerdings ist deutlich mehr am Tourismus ausgerichtet als Berlin. Graffitti sind in der Innenstadt kaum zu finden. Sie ist so sauber, dass sich kleine Kinder ohne Einwände ihrer Eltern neben die in Breslau zu Hunderten im Stadtbild stehenden, sitzenden, lesenden Bronzezwerge auf den Boden setzen dürfen.
Wie, Bronzezwerge? Die Wichte begleiten den Touristen schon im Kulturzug. „Warum gibt es in Wrocław so viele Zwerge?“, fragt schon die Deutsche Bahn an der Wand zwischen den Fenstern, an denen meist langsam die Landschaft der Lausitz in sattem Grün und die schlesische bäuerliche Landschaft vorbeiziehen, in der es 100 Kilometer vor Breslau aussieht wie in Spielfilmen der 50er Jahre. A propos Wrocław: Auch der Deutsche darf wieder Breslau sagen, ohne gleich des Nationalismus oder schlimmerer Gefühle verdächtigt zu werden. Die Jahrtausende alte Geschichte der schlesischen Hauptstadt hat so viele Herrscher, so viele Religionen, so oft Vertreibung und Krieg gesehen, dass das Tausendjährige Reich hier abgehakt scheint; es ist einer von vielen historischen Stolpersteinen auf dem Weg durch die Altstadt.
Im Kulturzug bleibt die Frage zunächst unbeantwortet. Dort lesen die Autoren des Beziehungsbuches zum Beispiel die Breslau-relevanten Teile der Biografie des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse vor. Wer einen Kopfhörer haben will, kann in allen Teilen des Zuges die Lesung verfolgen. Thierse wurde 1943 in der Stadt geboren und während der Belagerung der von der Wehrmachtsführung des Hitler-Regimes zur „Festung“ erklärten Stadt durch die sowjetischen Truppen umgesiedelt. Das rettete womöglich sein Leben, machte ihn aber zum Vertriebenen, auch wenn dies in der DDR, wo er schließlich landete, nicht so genannt werden durfte.
Anschließend verkürzen Gundermann und Faldyna (Saxophon und Gitarre) mit Swing und Jazz die Fahrt, die in diesem speziellen Fall eine Stunde länger dauert. Ein vorausfahrender Zug soll eine Havarie gehabt habe, und an dem komme man nicht vorbei. Es fällt schwer, das zu glauben, da unmittelbar vor dem Zug sich eine vielgleisige Rangierbahnhofs-Landschaft auftut.
Der Zug hält jedenfalls an einem kleinen Bahnhof, dessen Gleise von einer lauschigen Lindenallee getrennt werden. Die vielleicht 200 Fahrgäste dürfen aussteigen, und sie können in dieser Sorglos-Sommer-Atmosphäre weiter den Klängen des Jazz-Duos lauschen, das seinen Verstärker vor dem Triebwagen auf die Wiese gestellt hat: „Take The A Train“, und so Sachen. Schon eine Stunde vor Breslau ist damit die Stimmung auf die richtige Vibrationsfrequenz gestellt.
Ach so, die Zwerge. Breslau hat als Zwergenhauptstadt eine junge, aber sympathische Tradition. Manche wollen wissen, die Wichte seien in grauer Vorzeit aus der Riesengebirgsstadt Schreiberhau heruntergekommen, andere setzen sie wieder in Beziehung mit dem im Gegensatz zu ihnen eher groß gewachsenen Riesen Rübezahl, der in den „blauen Bergen“ des nahen,sagenumwobenen Gebirges sein Unwesen treiben soll. Alles nicht so wichtig – die Zwerge, die sich jetzt hier finden und beliebtes Fotoziel der Touristen sind, verewigen ein historisches Ereignis aus der Zeit der polnischen Wende: In den 80er Jahren begann die Oppositionsbewegung „Orange Alternative“, von einem Breslauer Kunststudenten gegründet, politische Thesen an Wände zu schreiben. Sie wurden immer wieder übertüncht, woraufhin die Oppositionellen Zwergen-Graffiti an den Wänden anbrachten, etwa nach dem Motto: „Wenn unsere Sprüche dauernd übertüncht werden, wisst ihr schon, wenn ihr die scheinbar harmlosen Zwerge seht, was wir meinen, und dass wir überall sind. Zugleich veranstalteten sie in Kreuzungs-Unterführungen Demonstrationen im Zwergenkostüm, schweigend. An die Passanten aber verteilten sie Geschenke, deren Symbolgehalt sofort klar machte, worum es ihnen ging. „Klopapier zum Beispiel“, erzählt Stadtführerin Hedwig, „das gab es nämlich in der sozialistischen Planwirtschaft nur selten in Breslau.“ Und sie stellten einen ersten gusseisernen Zwerg in der Altstadt auf. Als in Breslau sich die Marktwirtschaft ausbreitete, stifteten Unternehmen und Körperschaften bis hin zu Universitäten weitere Zwerge, sodass inzwischen mehr als 300 von ihnen die Altstadt zieren.
Im Zug werden normalerweise keine Geschenke verteilt. Aber Karolina Fuhrmann, die das Kulturprogramm im Zug managt, präsentiert stolz eine Bibliothek. Sie besteht aus einem ausgemusterten Iberia-Trolley, dessen gedruckter Inhalt aus Büchern mit Breslau-Bezug besteht. Sie können für die viereinhalbstündige Fahrt ausgeliehen werden.
Der Kulturzug beweist zurzeit, das gezielte Angebote erfolgreich sein können. Drei schon etwas betagte Triebwagen der Deutschen Bahn bilden ihn. Er macht eine Städtetour aus der hippen Hauptstadt in die europäische Kulturhauptstadt 2016 im Sommer nicht nur einfach, sondern auch erschwinglich: 19 Euro kostet das One-Way-Ticket, 38 Euro die Hin- und Rückfahrt. Das Ticket berechtigt zur Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in Breslau, was nützlich sein kann bei den plötzlichen Regenschauern, mit denen dieser Sommer in die Geschichte einzugehen scheint.
Der Zug war eine Idee der Bahnen und der Städte, und sie wurden vom Andrang überrascht. Geplant war zunächst, ihn mit einem Triebwagen à 144 Sitzplätze zu fahren. Im Anschluss an eine Marketingkampagne auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) nahm die Zahl der Vorbestellungen aber ungeahnte Ausmaße an. „Fast 800 Buchungen“ seien da zusammengekommen, sagt Bahnsprecher Holger Auferkamp. Und so entschloss sich die DB, drei dieser Triebwagen hintereinander zu hängen. Sie fahren am Sonnabendmorgen nach Breslau, einer von ihnen fährt am Abend wieder zurück und am Sonntagmorgen wieder hin, und am Sonntagabend fahren alle drei wieder zurück nach Berlin-Lichtenberg.
Aber jetzt erst mal Breslau. Die Altstadt ist schön, übertreibt es aber nach meiner subjektiven Meinung mit der gastronomisch-touristischen Infrastruktur. Wir haben uns den ganzen Abend gefragt, wo denn der Pole zum Essen hingeht. Die Zeit war zu kurz, es herauszufinden. Trotzdem haben wir gut gegessen. Die Preise bleiben deutlich hinter denen deutscher Städte zurück., die Portionen sind mehr als ausreichend. Im Erdgeschoss der bunten Häuser am inneren Ring, einer Kette von Stadtplätzen, sind fast immer gastronomische Betriebe untergebracht. Wer’s mag… jedenfalls finden alle einen Platz, manchmal aber eben auch im Irish Pub oder im Akropolis, von der Pizzeria und dem Burgerladen zu schweigen. Es gibt aber auch reichlich Restaurants mit polnischen Spezialitäten wie Suppen aller Art oder Piroggen. Und zahlreiche Sorten polnisches Bier. Wir fanden ein schönes Restaurant in der Nähe.
Abgesehen von den Bistro-Markisen, hat der Denkmalschutz im Stadtkern ganze Arbeit geleistet. Wer an die „Festung Breslau“ von 1945 denkt, weiß, dass die Stadt in den letzten Kriegswirren zu 80 Prozent zerstört wurde. Sie wurde aber weitgehend originalgetreu wieder aufgebaut. Reich verzierte Patrizierhäuser wechseln mit imposanten Kirchenbauwerken der Backsteingotik, in die Reste von im Bildersturm zerstörten romanischen Kirchen eingearbeitet wurden. Barock ist die weltberühmte Aula Leopoldina, die erst in diesem Jahrtausend restauriert wiedereröffnet wurde.
Barocke Klöster sind teils noch aktiv, sie beherbergen unter anderem das Herz einer Fürstin und eine Klosterschule, die seit neuestem für Jungs offen ist. Überhaupt ist die Kirchengeschichte Breslau höchst wechselvoll, bedenkt man, dass erst im 20. Jahrhundert mit der Vertreibung und dem Einzug der Polen aus den heute ukrainischen und weißrussischen Gebieten der preußisch geprägte Protestantismus wieder „auszog“.
Zwischen Stadtkern und Bahnhof erlebt man noch ein Breslau, das den äußerst spröden Charme heruntergekommener Gründerzeithäuser mit sozialistischem Realismus vereint. Nur nach Braunkohle und Zweitaktgemisch riecht es nicht. Auch in der Kulturhauptstadt wird eben nur mit Wasser gekocht. Zu den Unterkünften können wir hier nichts sagen. Wir übernachteten im Qubus, einem Vier-Sterne-Hotel mit internationalem Standard mitten in der Stadt, an dem es nichts auszusetzen gibt. Aber es geht sicher auch preisgünstiger und mit mehr Lokalkolorit.
Neben dem Hinweis, dass sich an einem Samstag auch Breslau nicht hinreichend vollständig erkunden lässt, soll nicht unerwähnt bleiben, dass es auch einen Fernbusverkehr zwischen den Beziehungsstädten gibt, den wir für die Rückfahrt nutzten. Auch er wird von der Deutschen Bahn betrieben. Der „IC Bus“ ist eine halbe Stunde früher am Südkreuz als der Zug in Lichtenberg und eine Viertelstunde früher am Hauptbahnhof. Zu warnen ist aber vor Last-Minute-Entschlüssen: Vorbestellt kostet das Ticket 29 Euro für die einfache Fahrt, im Bus „ist es ein wenig teurer“, wie der Busfahrer beim Kassieren anmerkt: 67,50 Euro. Im Gegensatz zu dem Zug steht der Bus auch nicht ab September wieder zur Disposition. Aber es gibt Hoffnung: Die Bahn erwägt zumindest, die Verbindung über den Kultursommer 2016 hinaus beizubehalten, wenn auch vielleicht nicht als “Kulturzug”. Mit den zuschießenden Behörden werde noch verhandelt, sagt Auferkamp.