Radfahren auf dem Dorf? Schwierig

Fahrradakademie diskutierte über „Radfahren auf dem Land“ – Scheuer kündigt Verbesserungen für Radfahrer an – Vorzeigeland Vorarlberg

Radfahren auf dem Land kann mehr als Tourismus oder Hobby sein. © Foto: Rietig

Berlin, 06.06.2019 (ssl) Auch wenn bunte Bilder von Urlaub und Freizeit immer wieder das Gegenteil suggerieren: Radfahren im ländlichen Raum ist nicht angesagt. Jedenfalls nicht, wenn vom Alltagsradfahren die Rede ist. Um das zu ändern, bedarf es einer Strategie und vor allem einer großen Portion Beharrlichkeit. „Appelle nutzen nichts! Schaffe das Angebot, und du bekommst Nachfrage“, sagte Johannes Rauch (Grüne), Verkehrslandesrat (=Verkehrsminister) des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg, bei einem Parlamentarischen Abend zum Thema am Dienstag (04.06.) in Berlin.

Wer als Städter mit dem Fahrrad aufs Land kommt, wundert sich zunächst, dass das Zweirad dort praktisch nur eine hohe Bedeutung als Freizeit- und touristischer Faktor hat. Radwanderwege und Europa-Radrouten führen mitten durch oder in der Nähe vorbei. Ein Dorf, das etwas auf sich hält, ist in den einschlägigen Karten und Apps mit einer fahrradfreundlichen Herberge und möglichst einer Rad-Pannenhilfe verzeichnet. Aber sich selbst zum Einkaufen aufs Rad zu schwingen, das ist vielen Einheimischen so fern wie dem Venezianer die Kreuzfahrt. Deshalb mangelt es in der Durchgangsstraße an einem Radweg, und wenn es einen gibt, endet er irgendwo im Nirgendwo. Der Radler sucht vorm Supermarkt, an der Apotheke und Bushaltestellen den Fahrradständer oft vergeblich, ganz zu schweigen davon, dass der Bus zur Mitnahme von Rädern eingerichtet wäre.

Natürlich waren sich alle Beteiligten einig, dass dieser Zustand geändert werden müsse. Nur stoßen die Radverkehrs-Promoter gerade auf dem Land auf Probleme, die sie von der Stadt kaum kennen. Dazu gehören psychologische Hürden ebenso wie echte und vorgeschobene bürokratische Probleme. Andrea Weninger, Raumplanerin und Geschäftsführerin der Beratungsfirma Rosinak & Partner aus Wien und Dornbirn, fasste die Möglichkeit zur Überwindung der Hindernisse in drei Worten zusammen: „Beharrlichkeit, Innovation und Kreativität“. Und sie riet, auf größtmögliche Bürgerbeteiligung zu setzen: „Bürgerinnen und Bürger sind oft viel weiter als die Politik. Sie engagieren sich stark. Das war vor 15 Jahren nicht so.“

Offenbar haben sie früher hingenommen, was ihnen so geboten wurde, aber heute drängen sie selbst auf fahrradfreundlicheres Umfeld. Das liegt auf der Hand, denn die Fahrradaffinen werden immer mehr, allerdings in erster Linie in den Metropolen. Das ergab für Deutschland die Studie „Mobilität in Deutschland“ mit Zahlen aus 2017 zeigt, dass der Radverkehr in Deutschland seit 2002 zwar deutlich zugenommen hat, aber nur in den Metropolen. Auf dem Land und in kleinen Städten ist er zurückgegangen. Dabei bietet sich auch dort oft der Verzicht aufs Auto an, denn auch dort sind 50 Prozent aller zurückgelegten Wege kürzer als fünf Kilometer. Bundesweit beträgt der Anteil am gesamten Verkehrsaufkommen („Modal Split“) demnach zehn bis elf Prozent, je nach Region schwankt er allerdings zwischen 21 Prozent in den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin und zwei Prozent in ländlichen, gebirgigen Gegenden Süddeutschlands. Immerhin werden es mehr Stimmen für das Rad: „Der Anstieg des Fahrradanteils an allen Wegen ist auf die zunehmende Anzahl an Fahrradfahrern und nicht auf eine intensivere Nutzung des Verkehrsmittels durch Fahrradfahrer zurückzuführen“, heißt es in der Studie.

Deshalb nahm sich der Veranstalter, die Fahrradakademie beim Deutschen Institut für Urbanistik Vorarlberg zur Vorzeigeregion. Das Bundesland setzt in Österreich mit einem Modal Split-Anteil von mehr als 16 Prozent die Maßstäbe. Im österreichischen Durchschnitt ist er geringer als zehn, selbst in Wien beträgt er nur sieben Prozent. Verkehrslandesrat Rauch hat sich als Ziel gesetzt, eine Quote von 21 Prozent zu erreichen. „Wir wollen so gut werden wie Kopenhagen“, die europäische Fahrrad-Modellstadt . Auch er nannte drei Bedingungen für eine Strategie zur Steigerung des Fahrradanteils am allgemeinen Verkehr. „Es braucht eine Strategie, eine Lobby, und die Erkenntnis, dass es Potenzial hat. Auch auf dem Land.“

Mehrmals erlagen Referenten und Fragesteller der Versuchung, Österreich generell als Vorbild hinsichtlich der Fahrradnutzung hinzustellen. Das war wohl der Gastfreundschaft geschuldet – die Veranstaltung fand in der österreichischen Botschaft statt, und Botschafter Peter Huber bekannte in seinem Grußwort, selbst mit dem Fahrrad ins Büro zu fahren. Die Statistiken zeigen jedoch, dass beide Länder unter derselben Problematik äußerst unterschiedlicher Modal Split-Anteile leiden.

In Vorarlberg wurde immerhin erreicht, dass bei jeder Um- oder Neuplanung einer Straße immer auch die Radwegeverfügbarkeit mitberücksichtigt werden muss. In seinem Bundesland seien bereits zwei Drittel aller verkauften Räder E-Bikes, „und sie werden genutzt, und zwar ganzjährig“, freute sich Rauch. Eine Voraussetzung, zu der auch die deutsche Studie kam, werde noch viel zu wenig genutzt: „Fahrradfahrer sind zumeist multimodal“, das heißt, sie bedienten sich für einen Weg auch mehrerer Verkehrsmittel. Deshalb seien Regionalbahnen mit um das Vierfache erhöhten Kapazitäten zur Fahrradmitnahme bestellt worden. Er führe Gespräche mit Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Fahrräder und eine Jahreskarte für den örtlichen ÖPNV zur Verfügung stellten. Und Vorarlberg baue konsequent Radwege-Achsen aus.

Auch die deutschen Gesetzgeber gestanden zu, dass noch viel zu tun sei, um das Fahrrad im ländlichen Raum als Alltagsverkehrsmittel zu etablieren. „Wir brauchen Busse, in denen man Fahrräder mitnehmen kann“, sagte etwa die CDU-Bundestagsabgeordnete Sybille Benning aus Münster (!). Und Rauch bemerkte auf die Frage, wie er sich erklärt, dass sich das Fahrrad in Deutschland so schwer tut: „Österreich hat keine Autolobby.“

Dass deren Vorhandensein in Deutschland eine innovative Radverkehrspolitik merklich erschwert, wurde auch an den Antworten auf eine provokative Frage an die anwesenden Bundestagsabgeordneten deutlich: „Warum schafft die Bundesregierung nicht das Dienstwagenprivileg ab und verwendet die dadurch freiwerdenden Haushaltsmittel für Klimaschutz-Maßnahmen wie die Förderung des Fahrradverkehrs?“ Dienstwagenprivileg bedeutet: Der Nutzer versteuert ein – bei E-Autos und Fahrrädern ein halbes – Prozent des Neuwerts des „geschenkten“ Dienst-Fortbewegungsmittels pro Jahr. Dadurch nimmt der Fiskus nach Medienberichten fünf Milliarden Euro jährlich weniger ein als wenn es als Gehalt versteuert würde. Dafür darf der Mitarbeiter den Wagen nutzen, als wäre es sein Privatwagen. Möglichst noch mit Tankkarte. Das setzt ihn gegenüber dem Privatwagenbesitzer deutlich in Vorteil. Würde es abgeschafft, ginge möglicherweise die Zahl der in Deutschland verkauften und gebauten Autos zurück – und schon droht die argumentative Keule „Arbeitsplätze in Gefahr“. Entsprechend antwortete auf die Frage auch der SPD-Abgeordnete Mathias Stein: „Vielleicht 2030, 2040“, was sarkastisches Lachen im Publikum hervorrief. Der Linken-Parlamentarier Andreas Wagner dagegen vertrat klar seine Parteilinie: „Das Privileg gehört abgeschafft.“

Radverkehr auf dem Land im Gestrüpp der Interessen. © Foto: Rietig

Und noch ein Thema war in Österreich und Deutschland gleichermaßen unbeliebt: die Straßenverkehrsordnung. In Deutschland ist es der Paragraf 45, der kommunale Behörden bei der Einführung von Tempo-30-Zonen deutlich einschränkt. In Österreich gilt nach Angaben von Andrea Weninger die Vorgabe „Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs“ (öst. StVO §7,3 ) offenbar nur für den Autoverkehr. Das verhindere etwa, dass auf innerörtlichen „Durchzugsstraßen“ Tempo 30 angeordnet werden könne, um die Geschwindigkeits-Differenz zwischen Autos und Fahrrädern zu verringern. Die Straßenverkehrsordnung Österreichs datiert von 1960. Sie sei dringend reformbedürftig, fand Weninger. Auch Stein sagte, es müsse mehr Möglichkeiten in der deutschen StVO vorgesehen werden, Tempo 30 zu erlauben. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hat entsprechende Maßnahmen bereits angekündigt. Dazu gehören unter anderem ein Schild “Überholen von Radfahrenden verboten”, zum Beispiel an Engstellen, und ein Mindestabstand, den Autofahrende beim Überholen von Radfahrenden einhalten müssen. Auch die “Grüne-Pfeil-Regel“ (Rechtsabbiegen bei Rot erlaubt) wird mit einem speziellen Verkehrsschild auf den Radfahrverkehr ausgedehnt.

Die Übernahme dieser Regelung aus zahlreichen Städten anderer Länder könnte auch ein kleiner Schritt auf dem Weg zu einer neuen Radkultur auf dem Land sein, die zunehmend von ehemaligen Städtern mitgetragen wird. Denn es ziehen immer häufiger Menschen aus den Städten aufs Land, auch über dieSpeckgürtel hinaus. Weiter „hinten“ im Land fördern sie weniger die Zersiedelung des Raumes als vielmehr dessen langsame Wiederbelebung, indem sie alten Baubestand renovieren. Schnelles Internet und eine veränderte Arbeitswelt tragen einen Großteil zu dieser neuen Wanderungsbewegung bei. Die neue Landbevölkerung wird nicht auf das aus der Stadt gewohnte Fortbewegungsmittel Fahrrad verzichten wollen.