Von der Dicken Bertha zur Antonow

Kummersdorf: Ein Ausflug in die deutsche Militärgeschichte

Transformatorenstation vor Kasino. © Alle Fotos: Rietig

Berlin, 16. Oktober (ssl) Passenderweise in der Nähe eines Ortes mit dem Namen Kummersdorf lassen sich fast 150 Jahre deutscher Militärgeschichte besichtigen. Das riesige Gelände der einstigen Heereswaffen-Versuchsanstalt diente zum Üben mit allem, was die Schrecken zweier Weltkriege verursachte. Danach wurde es zum Luft-Drehkreuz der sowjetischen Streitkräfte in der DDR. 1994 flog der letzte Russe von hier nach Hause, danach übernahm die Natur und nicht die Berliner Flughafenbauer.

Still ruht der Schumkesee. Die Blätter fallen, zwei Blässhühner jagen einander. Mitten im Wasser steht eine Reuse. Was der See birgt, weiß niemand so recht. Er ist Teil des in seiner größten Ausdehnung rund 25 Quadratkilometer umfassenden Areals der Heeresversuchsanstalt Kummersdorf etwa 48 Kilometer südlich von Berlin.

Was der See birgt, weiß wohl niemand genau.

Das Gelände ist freilich nur zu einem kleinen Teil museal gepflegt; der Rest, unter Denkmal- und Landschaftsschutz, verfällt seit 1994. An Zäunen und Toren, Gebäuden und Wegen warnen Schilder: „Betreten verboten! Lebensgefahr!“ Hinein darf man deshalb nur unter kundiger Führung. Auch dabei sollte festes Schuhwerk zur Standardausrüstung gehören. Überall liegen Scherben und wer weiß, was noch. Wer nicht mit dem Auto hineinfährt, braucht Kondition.

Ja, was denn nun? Wir sind draußen geblieben.

Teil des Grundstücks ist der von den Sowjets genutzte Militärflughafen Sperenberg . Die militärische Widmung des Geländes datiert aber schon aus den 1870er Jahren, als die Schießplätze nahe bzw. in Berlin mit der zunehmenden Reichweite der Waffen zu klein wurden. Zunehmende Reichweite hieß damals: bis zu 15 Kilometer („Dicke Bertha“)  , später wurde es noch mehr. Entsprechend ziehen sich zwei Schießbahnen in Nordwest-Südost-Richtung über das Gelände. Die längere misst knapp 13 Kilometer. Von ihr ist heute kaum noch etwas zu sehen.

Eine Liege steht noch im Lazarett.

Nach Angaben des Museumsmitarbeiters ließ die kaiserliche Administration möglichst unauffällig die Grundstücke von den Eigentümern aufkaufen, um der Spekulation vorzubeugen. Als das Areal im Besitz des Reichs war, wurde es aufgerüstet. Eine Eisenbahn führte hin, denn die großen Kanonen waren anders auf dem Landweg nicht mehr zu transportieren. Für die größte bedurfte es eines Zuges aus 90 Waggons. Bei den Gebäuden ließen es sich die preußischen Architekten nicht nehmen, die klassische Ziegelarchitektur mit dem damals auch für Profanbauten üblichen strengen Schmuckwerk umzusetzen, wie wir sie auch von Fabriken und älteren Bahnhöfen kennen.

Der Wasserturm.

Eisenbahn-Pioniere übten hier im Schumkesee das Brückenbauen, wovon nicht nur einige groß gemauerte Pfeiler, sondern jetzt bei Niedrigwasser auch Stümpfe ehemals vorhandener Holzpfähle sichtbar sind. Panzer der eigenen Armee und Beutestücke aus gegnerischen Beständen wurden hier erprobt beziehungsweise auseinandergenommen.

„Antreten zum Brückenbauen!“

Als vor dem Zweiten Weltkrieg die Aufrüstung wieder einsetzte, wurden in der brandenburgischen Abgeschiedenheit auch Nuklearsprengkörper und Flüssigkeitsraketen getestet. Wie das Leben in den Kasernen und anderen Wohnanlagen sich gestaltete, lässt sich nur erahnen. Noch in den letzten Kriegstagen verlagerte sich ein Teil der Schlacht um Berlin auf das Gelände der Heeresversuchsanstalt mit der Folge, dass mehr als 1.000 getötete Soldaten Ende April 1945 auf dem Friedhof von Kummersdorf bestattet werden mussten.

Das wäre der Flughafen
BER gewesen.

Zu DDR-Zeiten wurde das Gelände zum Sperrgebiet. 1958 entstand hier der Militärflughafen, den die sowjetischen Truppen als Drehkreuz zwischen der Heimat und der DDR nutzten. Zwei Landebahnen, davon eine geeignet auch für schwerste Transportflugzeuge wie die Antonow An-124, der Tower, Bunker für Jagdflieger und Munition sowie unter anderem und ein VIP-Terminal für hohe Gäste ließen aus Luftwaffensicht wohl keine Wünsche offen.

Der Tower.

1991 geriet der Flugplatz Sperenberg in die Schlagzeilen, als Erich Honecker, hier seine letzte Nacht auf deutschem Boden verbrachte. Gegen den kranken Ex-Staatsratsvorsitzende der DDR lag zwar ein Haftbefehl vor, dennoch wurde er mit stillschweigender Duldung der Bundesregierung nach Moskau ausgeflogen.

Badewanne im VIP-Terminal Sperenberg. Ob Erich hier …?

Drei Jahre später verließ der letzte Sowjetsoldat der einstigen Besatzungsmacht der DDR das nun wiedervereinigte Deutschland vom Flughafen Sperenberg aus. Die vorerst letzte Aufregung gab es um den Flughafen, als er 1995 als Standort für den Großflughafen Berlin in Betracht gezogen wurde. Noch heute fällt der Name immer mal wieder, wenn über die zum wiederholten Mal nicht eröffnete Baustelle in Schönefeld diskutiert wird.

Innenansicht einer Erprobungshalle.

Heute strahlt das Kummersdorfer Gelände eine morbide Ästhetik aus: Ruinen der Gebäude aus der Kaiserzeit, Zweckbauten nach DDR-Manier, dunkle Bunker passen so gar nicht zum leuchtend bunten, sonnendurchfluteten Ahorn-, Eichen- und Kiefernwald. Darüber kreist der Rotmilan. In den Gebäuden gibt es oft Reminiszenzen an die einstige sowjetische Präsenz. Man darf nur mit Landschaftsbilderklärern hinein, was Vandalen, Metalldiebe und angeblich Strohmänner von Möchtegern-Investoren nicht daran hindert, den Verfall zu beschleunigen. Daran hat aber auch die Natur einen nicht geringen Anteil. Gerade die Gebäude aus der Kaiserzeit wecken ein déjà-vu zu früheren Kasernen in Potsdam oder Spandau, die heute teils zu Luxuswohnungen restauriert worden sind – aber auch zu extrem entfernten Örtlichkeiten in ehemaligen Kolonien, die jetzt, von Palmen überwuchert, zu touristischen Attraktionen geworden sind.

Ob es jemals gelingt, das riesige Gelände als Museum zu erschließen, die eigenartige Stimmung und zugleich die natürliche Vielfalt zu erhalten, wie es sich das Dokumentations- und Forschungszentrum Kummersdorf wünscht?