Thusneldas Aussicht


Die nominelle Mutter aller Tussis steht in Sacrow

Berlin, 26. Oktober (ssl) – Über das reale Modell für die Skulptur der Dame im Bild ist relativ viel bekannt, wenn man bedenkt, dass sie vor mehr als 2000 Jahren gelebt hat, einer Zeit, in der die Geschichtsschreibung sich nur sehr begrenzt mit Frauen befasste, wenn man von ihrer Zeitgenossin Maria von Nazareth absieht. Ihr Name war Thusnelda, und sie war die Gattin des zumindest in Deutschland berühmtesten Feldherrn jener Zeit: Arminius, dem es mit seinen Soldaten gelungen war, ein Heer des Römischen Reiches am Teutoburger Wald zu besiegen. Freilich ist ihm eine deutlich größere Statue an einem deutlich prominenteren Platz gewidmet. Fontane, obwohl Zeitgenosse bei der Entstehung des Sacrower Parks, hat sich mit ihm in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nicht weiter auseinandergesetzt. Deshalb hier mal etwas zu seiner heutzutage eher missverstandenen Gemahlin, deren Bildnis den Sacrower Schlosspark ziert.

Die historische Thusnelda hat ein bewegtes Leben hinter sich. Nachdem Arminius die Römer besiegt hatte, verliebte er sich in die Tochter des cheruskischen Gaugrafen Segestes, entführte sie im Jahr 14 oder 15, laut Wikipedia „wohl mit ihrem Einverständnis“ und heiratete sie.

Es kam zwischen Arminius und seinem Schwiegervater zum Krach, in dessen gewalttätigem Verlauf Segestes Arminius gefangen nahm und später wiederum die schwangere Thusnelda entführte. Der römerfreundliche Segestes erhielt entscheidende Hilfe von Germanicus, dem damaligen Oberbefehlshaber der Römer am Rhein. Er übergab ihm Thusnelda, Germanicus brachte sie nach Ravenna, wo sie ihren Sohn gebar.

Sagen wir Nelly

Am 26. Mai 17 wurden Thusnelda und ihr noch ganz kleiner Sohn in einem Triumphzug zu Ehren Germanicus’ durch Rom „als Trophäen mitgeführt“. Tacitus, der all das überliefert hat, versprach zu gegebener Zeit über das Schicksal des Sohnes zu berichten. Ob er es getan hat, ist nicht bekannt, überliefert ist so ein Bericht jedenfalls nicht.

Die bekannten Informationen waren die Grundlage eines allgemein positiven Bildes der Thusnelda in der Nachwelt, besonders in der deutschen, weil sie sich als Treue und Zusammenhalt eines Paares auch in schlimmer Zeit lesen ließen. Die oberflächlich zugänglichen Quellen verraten nur, wann, aber nicht, wie es so weit gekommen ist, dass der Spitzname „Tussi“ negativ konnotiert wurde und zu einem Synonym von „Dummchen, weiblich“ wurde. In den 1960-er Jahren, heißt es nur. Da können also noch nicht einmal die Boomer dran schuld sein, denn sie waren da noch zu klein. Nehmen wir also eine andere Kurzform, sagen wir, Nelly.

Aus der Loggia dei Lanzi

Die Statue selbst ist auch dokumentiert. Sie stammt von Emil Wolff (1802-1879) und ist eine Kopie, die der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) im Jahr 1858 in Auftrag gab. Majestät hatte bei einem Italienaufenthalt in der Florenzer Loggia die Lanzi, dem Vorbild der Münchener Feldherrnhalle, eine Frauenstatue gesehen, die Thusnelda darstellen sollte. Wolff lebte schon eine Weile in der italienischen Hauptstadt. „Er studierte intensiv die antike Bildhauerkunst, restaurierte antike Werke und vermittelte deren Verkauf, nicht selten an die Königlichen Museen in Berlin.“

Als Thusnelda in Berlin angekommen war, nahm sie zunächst Quartier, um es fontanesk zu formulieren, an sehr hervorgehobener Stelle in der Orangerie des Parks Sanssouci. Dort musste sie allerdings 1873 einer Statue des Königs selbst weichen. Sie erhielt nacheinander zwei weniger prominente Plätze, bevor sie in den Schlosspark von Sacrow versetzt wurde, wo ich sie fotografiert habe. Tatsächlich hat sie zwar einen wunderschönen Blick auf den Park, aber von dessen meisten Wegen ist sie ihrerseits nicht zu sehen, jedenfalls nicht im Sommer.

Der von Peter Josef Lenné ab 1840 geschaffene Park am Jungfernsee gegenüber der Glienicker Brücke gilt als Meisterwerk der preußischen Gartenarchitektur und ist eine Art „Hidden Gem“ des Potsdamer Unesco-Welterbes. Nelly blickt hier über eine künstliche Senke hinweg, die vor einigen Jahren noch ein Teich war. Davon zeugen heute Schilf-“Inseln“. Im weiteren Verlauf der Sichtachse blickt sie auf eine uralte Eiche, die mit rund 1000 Jahren als der älteste Baum Postdams gilt.

Hinter ihr fließt die Havel durch den Jungfernsee, und rund 200 Meter entfernt liegt die Heilandskirche, ein Werk des Schinkel-Schülers Ludwig Persius (1803-1845), die eine besondere jüngere Geschichte zusammen mit der deutschen Teilung und Wiedervereinigung hat. Ihr Fundament liegt teils auf Pfählen in der Havel, was von 1949 bis 1990 bedeutete: im Niemandsland zwischen der westlichen Welt, hier West-Berlin östlich der Kirche, und dem Ostblock im Westen. Mehr oder weniger während der Vereinigung wurde das Gotteshaus restauriert. Heute weckt es bei Besuchern, erst recht bei Hochzeitsgesellschaften, mit seinem Campanile italienische Gefühle. Der Galerie-Umgang hat glücklicherweise kein Geländer, sodass der Blick ungestört neben der Säule ins meist klare Havelwasser fallen kann.

Ins Häuschen

Diese melancholischen Tage Ende Oktober bedeuten für Nelly auch die vorerst letzte Gelegenheit, den Lenné-Blick zu genießen. Vor den ersten Nachtfrösten kommt sie ins Häuschen. Weil sie wahrscheinlich zu übergewichtig ist, um mit den Zitronen- und Orangenbäumchen einfach zum Überwintern in die Orangerie gebracht zu werden, haust die Stiftung Preußischer Gärten und Schlösser sie ein, damit ihrem Marmor nicht zu kalt wird. Der freie Blick durch die entlaubten Bäume bleibt ihr also schon seit Jahren verwehrt, und winterliche Parkbesucher wundern sich über die schmale und spitze graue Hütte zwischen den Bäumen. Irgendwann im März oder April kann sie dann wieder nicht nur den Hauch des Frühlings spüren, sondern seine Blütenpracht auch sehen. Eine schöne Aussicht.