Ronald H. Fritze: Jahrhunderte voller Hoffnung, Angst und Schrecken durch Verschwörungen
Berlin, 09. Mai (ssl) Vor gut 2700 Jahren wurde Samaria, die Hauptstadt des antiken Nordreichs Israels, von den Assyrern erobert. Samaria liegt im heutigen Westjordanland, nicht weit von Nablus. Bei der Eroberung kamen viele Menschen ums Leben, viele wurden unterworfen, einigen gelang die Flucht. Dieses Ereignis und die letztgenannte Gruppe sind der Ausgangspunkt einer der langlebigsten Verschwörungstheorien, nämlich die der Zehn Verlorenen Stämme Israels. Die Geflüchteten oder Vertriebenen leben und vermehren sich angeblich irgendwo auf der Erde weiterhin, beobachten das Weltgeschehen und warten auf eine Gelegenheit, sich für das ihnen Angetane zu rächen, und sei es über das Mittel der Weltherrschaft. Allein: bis heute hat es nicht geklappt. Oder doch?
Der amerikanische Historiker Ronald H. Fritze nimmt diese und einige andere Verschwörungstheorien und Pseudo-Geschichtsschreibungen in seinem Buch „Hoffnung, Angst und Schrecken“ minutiös auseinander. Wer es gelesen hat, kann im Zweifel in der Diskussion mit Verschwörungstheoretikern bestehen. Fritze nimmt dem Leser allerdings auch die Illusion, dass der wahre Gläubige sich widerlegen ließe: Wenn er nicht mehr weiter wisse, tue er auch schlüssige Widerlegungen als Konstrukte der Verschwörer ab.
Interessant und lehrreich ist das Buch also allemal, auch wenn ich in mehreren Punkten enttäuscht wurde. Nach Lektüre des Waschzettels hatte ich eine größere Geschichte über die Reptiloiden-Theorie erwartet. Die bleibt Fritze jedoch schuldig, allerdings finden sich ausreichende Quellen in dem sehr üppigen Apparat. Freimaurer, Templer und Rosenkreutzer als beliebte Ziele von Verschwörungserzählungen behandelt Fritze, aber Hexen lässt er weitgehend aus, und Bill Gates kommt im Buch überhaupt nicht vor. Auch mit den Protokollen der Weisen von Zion geht er ins Gericht, wenngleich mir zu diesem Thema Umberto Ecos „Friedhof von Prag“ besser gefallen hat.
Der Roswell-Zwischenfall
Detailliert geht er aber auf die offenbar in den USA sehr populären „Zehn verlorenen Stämme“ ein, auf den „Roswell- Zwischenfall“ mit dem 1947 angeblich abgestürzten Ufo und auf die Verbindung zwischen der nationalsozialistischen Ideologie zu Grenzwissenschaften wie etwa der Theorie einer jüdischen Rasse. Auch die Verflechtungen zwischen der QAnon-Bewegung und dem Aufstieg und Fall von Donald Trump mit dem Sturm auf das Kapitol am Dreikönigstag (das kann doch kein Zufall sein?) 2021 würdigt er ausführlich. Gerade an diesen Fällen bestätigt sich seine These, dass die Theorien nicht nur als irres Geschwurbel abgetan werden dürfen, sondern große Gefahren für die aufgeklärten Gesellschaften bergen, insbesondere in jüngster Zeit mit den Möglichkeiten der Verbreitung von Hass und Lüge durch jedermann.
Kritikwürdig ist die deutschsprachige Aufarbeitung des Textes. Immer wieder lässt sich der Sinn nur durch Rückbesinnung mithilfe der Frage: „Wie mag dieser Satz wohl in der englischen Originalversion gelautet haben?“ erschließen. Druckfehler und grammatische Ausrutscher finden sich allenthalben, und manche Sätze müssen einfach falsch sein wie zum Beispiel: „Diejenigen, die für eine Verurteilung Trumps gestimmt hatten, erreichten nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit von 57 zu 43 Stimmen.“ So etwas darf in einem anspruchsvollen Buch nicht durchgehen.
Ronald H. Fritze: Hoffnung, Angst und Schrecken. Moderne Mythen, Verschwörungstheorien und Pseudohistorie. Zürich: Midas Verlag AG 2022. 370 Seiten, gebunden, 24,– €. ISBN 978-3-03876-552-3