Alles „bio“ – oder was?

Timo Küntzles Buch „Landverstand“ kämpft gegen Wissenschaftsfeindlichkeit

Berlin, 09. April (ssl) Die Agentur, die „Landverstand“ von Timo Küntzle promotet, nennt es ein „Streitbuch“, und das ist es auch. Es streitet für eine sachlichere Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken, den Irrwegen und Notwendigkeiten einer modernen Landwirtschaft, deren Aufgabe es ist, bald zehn Milliarden Menschen das tägliche Brot zu sichern. Mit ausführlichem Zahlenmaterial, mit Studien und Quellen kämpft der Autor heldenhaft und zu Recht gegen Verallgemeinerungen und Herabwürdigungen industrieller und wissenschaftlicher Leistungen. Er gleitet dabei aber hin und wieder in Pauschalurteile über die Bio-Befürworter ab, obwohl er selbst Journalist ist, aber auch Agrarwissenschaftler.

© Verlag Kremayr und Scheriau

Recht hat er natürlich, wenn er darauf hinweist, dass ohne die modernen gentechnischen und chemischen Hilfen in der Landwirtschaft der Landverbrauch für die Ernährung deutlich größer, wenn nicht zu groß für die zur Verfügung stehende Fläche ist. Wäre alles „bio“, müsste für neue Acker- und Grünflächen Wald geopfert werden. Aber vielleicht wäre es weniger, wenn wir weniger Auto fahren würden und so auch weniger Sprit mit 10 bis 85 Prozent Biomassen-Anteil verbrauchten? Es hängt eben alles mit allem zusammen.

Ein weiterer wichtiger Hinweis: Es gibt auch heute schon kaum noch Nutzpflanzen, die ihre ursprüngliches Genom über die Evolution und den Einfluss des Menschen hätten retten können. Neben der natürlichen wirkt seit Jahrhunderten auch die menschliche Auslese. „Die Notwendigkeit zu züchten verschwindet nie.“ Es ist wie bei der Waldillusion: In Deutschland und den meisten seiner Nachbarländer finden wir keine „ursprünglichen“ Landschaften; vielmehr leben wir in einer Kulturlandschaft, die unsere Mütter und Väter und deren Vorfahren über Jahrhunderte zu 99 Prozent auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten haben.

„Kommt drauf an“

Erschienen im österreichischen Verlag Kremayr und Scheriau und deshalb auch hin und wieder aus der alpenländischen Perspektive gesehen, läuft Küntzles Analyse erwartungsgemäß darauf hinaus, dass die Lösung in einer überlegten, rationalen Kombination aus sogenannter biologischer Landnutzung und konventioneller Landwirtschaft liegt. Soll der Regenwald im globalen Süden erhalten werden, damit die Klimakrise beherrschbar bleibt, müssen dort auf den landwirtschaftlichen Flächen die Erträge gesteigert werden. Anders wird es kaum gehen. Wie bei allen derzeit hochemotional diskutierten Streitfragen muss die Antwort auch hier „Kommt drauf an“, lauten, nämlich auf die jeweiligen gesellschaftlichen Parameter. Schwarz-Weiß-Antworten gibt es nicht.

Küntzle thematisiert nahezu alle Fragen mit landwirtschaftlichem Bezug, die derzeit strittig sind, und outet sich über weite Strecken als Befürworter von Glyphosat & Co., insbesondere, weil er der Öffentlichkeit eine stark verzerrte Risikowahrnehmung bescheinigt, indem sie nämlich der medialen Darstellung auf den Leim gehe, dass „Natur“ per se „gesünder“ sei als „bio“, was tatsächlich nicht der Fall ist. „Im Gegensatz zu den Rückstandsspuren von Pestiziden haben die Gifte aus der Natur eine endlos lange Todesliste zu verzeichnen.“

Und natürlich ist alles eine Definitionsfrage. Deutlich wird das am Ende des Buches, wo er seine Forderungen mit Spiegelstrichen zusammenfasst, darunter: „Pfeifen Sie auf ‚Ohne Gentechnik‘-Produkte. Wir alle essen Gentechnik seit Jahrzehnten.“ Was zu kurz kommt, sind bereits existierende Beispiele der oben erwähnten Kombination, die hier in Deutschland fast nur mit öffentlicher Förderung und Stiftungsmitteln durchzusetzen ist, weil das ganze System eine undurchschaubare Mischung aus privatwirtschaftlich und öffentlich subventionierten Modellen ist, die die Landwirtschaft ökonomisch intransparent machen.

Wer (zumal als Journalist) unideologisch an dieses Buch herangeht, fühlt sich bei Sätzen wie „…gilt im Nachrichtengeschäft noch immer: Only bad news is good news“ genervt. Da gibt es Gegenbeispiele, auch wenn sie derzeit angesichts des Krieges schwerer zu finden sind. Und im übrigen sollte nach wie vor nicht der Überbringer der Nachricht geschalten werden. Mit ein bisschen weniger Übernahme der Opferhaltung aus der ach so missverstandenen Landwirtschaft wäre das Buch noch lesbarer geworden. Aber es ist eben ein „Streitbuch“.

Timo Küntzle: Landverstand. Wien: Kremayr und Scheriau 2022. 288 Seiten, kartoniert mit integriertem Lesezeichen, 23,–€. ISBN 978-3-218-01290-4