Rückblick, Autobiografisches, Analytisches
Berlin, 09. September (ssl) In meiner journalistischen Laufbahn bin ich mit mehreren Flugzeugunglücken konfrontiert worden. Daher hatte ich zumindest eine vage Vorstellung davon, wie groß ein Loch in einem Hochhaus sein würde, in das ein kleines Privatflugzeug gekracht ist. Denn das glaubten wir am Morgen des 11. September 2001, als die ersten Nachrichten über ein Flugzeug kamen, das ins World Trade Center geflogen war, und wir einen Blick auf den in unserem Berliner Associated-Press-Büro stets laufenden CNN-Monitor warfen. Der US-Nachrichtensender hatte unmittelbar nach der ersten Meldung über den Zwischenfall eine Kamera in Manhattan auf die Zwillingstürme gerichtet, in deren einem nun ein für eine Cessna viel zu großes Loch klaffte.
Für eine Cessna zu groß
Einige Jahre zuvor hatte ich als Luftfahrt-Journalist einmal das Vergnügen gehabt, in einem der Towers an einem Kongress über Nordatlantik-Flugverkehr teilnehmen zu dürfen. Während ich darüber nachdachte, erkannten wir auf dem Monitor, wie eine Verkehrsmaschine ungebremst in den zweiten Tower krachte. Es folgten die inzwischen weltbekannten Bilder der Katastrophe mit vielen tausend Toten. Damit nicht genug: Der Horror hielt an. Wenig später liefen die Meldungen ein über das dritte Flugzeug, das Teile des Pentagons zerstörte, und das vierte Flugzeug, in dem mutige Passagiere die Terroristen überwältigten und den Absturz auf freiem Feld herbeiführten.
In den ersten Stunden waren wohl viele so bleich und sprachlos wie US-Präsident George W. Bush, als ihm die Nachricht übermittelt wurde. War das ein neuer Krieg? Wer reagiert wie und was hat das für Konsequenzen? In der Nachrichtenagentur versuchten Korrespondenten weltweit, sich und ihren Kunden Übersicht zu verschaffen. In freien Minuten dazwischen versuchte ich meinen Cousin zu erreichen, der an der New York University unterrichtete, unweit – jedenfalls aus Berliner Sicht – der Twin Towers. Ich scheiterte natürlich, sodass die Sorge eine Weile anhielt, aber ihm war nichts passiert.
Unter dem tiefblauen Himmel Manhattans entfaltete sich dabei ein grausiges Schauspiel, dessen Bilder die besten Hollywood-Regisseure nicht eindrucksvoller hätten inszenieren können. Einzelheiten erspare ich mir hier. Menschen, die als Zeitgenossen die quasi höllische Ästhetik dieser Bilder erwähnten, wurden umgehend als pietätlos kritisiert. Das änderte aber nichts daran, dass durchweg alle visuellen Medien mindestens jeden September zum Jahrestag eben diese Bilder wiederholen.
Erstmals der NATO-Bündnisfall
In der Politik verlangten die Vereinigten Staaten von der NATO, erstmals seit ihrer Gründung den Bündnisfall auszurufen. Praktisch war das eine Kriegserklärung, eine Verpflichtung für die anderen Mitglieder des Verteidigungspaktes, den Amerikanern beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus militärisch beizustehen. Dieser Kampf sollte in Afghanistan stattfinden, der Brutstätte des Al-Kaida-Terrorismus.
Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer reisten an den Ort des Terrors, bekundeten Hinterbliebenen Beileid und der Feuerwehr Hochachtung. Im Weißen Haus berieten sie über Konsequenzen. Lebenslang wird mir eine abendliche Bootsfahrt mit Schröder auf dem Hudson River zum Ground Zero in Erinnerung bleiben. Um das Schiff herum, an Anlegern, auf Straßen und Plätzen herrschten schärfste Sicherheitsvorkehrungen. Dicht über uns aber flog ein Flugzeug nach dem anderen mit gleißenden Scheinwerfern nordwärts zum LaGuardia Airport – alles Maschinen, wie sie die Terroristen am 11. September gekapert hatten. Auf der immer noch rauchenden und unangenehm riechenden Unglücksstelle arbeiteten sich in gespenstischem Licht Bagger durch die Trümmer, Politiker hielten Reden. Mir, der ich darüber schreiben musste, kamen die Tränen.
Nie mehr ins Cockpit
Zurück in Deutschland verlangten Innen- und Außenpolitik ihren Tribut. Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft. Nie mehr würde es lockere Prozesse beim Zugang zu kritischer Infrastruktur geben. Nie wieder würde ein Verkehrspilot einem kleinen Jungen den Wunsch erfüllen dürfen, während des Fluges für ein paar Minuten ins Cockpit zu kommen.
Außenpolitisch hätte ein Nein zur Beteiligung am Afghanistan-Krieg Deutschland unglaubwürdig gemacht, erst recht, weil die 9/11-Terroristen sich hierzulande vorbereitet hatten. Schröder hatte keine Alternative. Er musste ein Bundestagsmandat herbeiführen. In Teilen der grünen Koalitionsfraktion gab es Widerstand. Daher war unklar, ob er nicht Stimmen aus der Opposition brauchte. Um das Regierungsbündnis nicht dem Vorwurf der Handlungsunfähigkeit auszusetzen, verband er die Abstimmung mit der Vertrauensfrage und gewann. Union und FDP machten trotz ihrer Gegenstimmen klar, dass sie voll hinter dem Einsatz standen, und stimmten später den Verlängerungen des Mandats stets zu. Dass sich dabei alle zu wenig Gedanken über die Frage machten, ob man überhaupt militärisch einem religiös, kulturell und geographisch völlig fremden Staat so etwas wie „Nation building“ beibringen kann, lernen die Afghanen und wir jetzt bitter.
In der Nacht zum 12. September, nach einem 17-Stunden-Tag als Chef vom Dienst, fuhr ich heim. Ich stieg in ein Taxi, das ein schwarzhaariger, vollbärtiger junger Mann steuerte. Über dem Innenspiegel hing eine islamische Gebetskette. Ich kämpfte gegen Vorurteile, aber ganz angstfrei verlief die Fahrt für mich nicht. Einige Jahre später konnte ich, auf einer meiner letzten Dienstreisen mit einem Politiker – es war der damalige Wirtschaftsminister Philipp Rösler – einen tief in mir schlummernden Wunsch verwirklichen: In der Baustelle des neuen One World Trade Center bis ganz nach oben fahren und den Glas und Beton gewordenen Triumph der Freiheit über den Terror ganz dicht wahrnehmen.
(Transparenzhinweis: Dieser Beitrag erschien leicht gekürzt in der Nürnberger Zeitung vom 10. September 2021.)