Verkehr: Optimierung vor Ausbau – aber schnell

Ex-SBB-Chef plädiert für klimagerechte Mobilität

© NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

Die Schweiz hat ein spitzenmäßig funktionierendes Bahnsystem, das vermutlich auch den Anforderungen des Kampfes gegen den Klimawandel gewachsen ist. So wird es zumindest in Deutschland wahrgenommen. Immer wieder stehen hier die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) und die anderen Gesellschaften in der Eidgenossenschaft als leuchtende Beispiele im Raum. Aber Mitarbeiter der Deutschen Bahn argumentieren gebetsmühlenhaft, dass sich das Schweizer Vorbild mit seinem durchgetakteten und sinnvoll vernetzten System wegen der Größe der Bundesrepublik nicht auf Deutschland übertragen lässt.

Berlin, 16. September (ssl) Einer der Verursacher dieser neidvollen Blicke ist Benedikt Weibel, der mehr als ein Jahrzehnt Chef der SBB war und entscheidend an dem so hochgelobten System mitgearbeitet hat. Der promovierte Betriebswirt hat aber nicht nur profunde Kenntnisse von der Eisenbahn, sondern durch zahlreiche Verwaltungsratstätigkeiten und Beraterfunktionen auch von den übrigen Verkehrsträgern. Ihm zuzuhören bzw. seine Ansichten zu lesen, ist also eine gute Idee. Weil er das wohl auch weiß, hat er ein Buch geschrieben, das das Thema Mobilität durchleuchtet und seit langem einmal wieder einen vernetzten Blick darauf wirft, der alle Aspekte quasi von der Zeit kurz nach dem Urknall berücksichtigt und vor dem Klimawandel nicht halt macht.

Weibels Buch „Wir Mobilitätsmenschen“ versteht auch, wer sich nicht ständig mit Mobilität und Verkehr beschäftigt. Das Beste daran ist, dass er nicht unter der Schirmherrschaft irgendeiner Lobby segelt, sondern nüchtern und schonungslos sowohl auf die Taktik industrieller Interessenvertreter wie auch auf Versäumnisse und selbstaufgebaute Hürden in der Gesetzgebung eingeht, die sich übrigens in der Schweiz ähnlich zäh darstellt wie hierzulande.

Eine seiner wichtigsten Thesen lautet, dass auf bestehenden Verkehrswegen noch lange nicht alle Potenziale genutzt sind, erst recht nicht in Anbetracht der nun zur Verfügung stehenden Möglichkeiten künstlicher Intelligenz. Deshalb müsse die Priorität genau auf diese Optimierung gelegt werden, anstatt über weiteren Ausbau nachzudenken, der bei Schiene, Straße und Luft ja auch, da mit Flächenversiegelung und Beton verbunden, höchst klimaschädlich ist.

Das autonome Fahren auf der Straße (nicht auf der Schiene) allerdings rückt Weibel noch in weite Ferne. Zum Thema und zum Tempolimit formuliert er vielmehr die Schlüsselforderung: „Ein lernfähiger Algorithmus müsste in der Lage sein, jederzeit die optimale Geschwindigkeit für den maximalen Durchsatz einer Autobahn zu berechnen und diesen Wert den Fahrassistenten zu übermitteln.“ Durchsatz ist hier gleich Kapazität.

Schluss mit „wesensfremder“ Nutzung

Eines der wichtigsten Wörter, das außerhalb der Schweiz kaum Eingang in den Diskurs gefunden hat, lautet „wesensfremd“. In Deutschland-Deutsch ist es am besten mit inadäquat oder unpassend zu übersetzen, bezeichnet also die Nutzung bestimmter Verkehrsmittel in Umgebungen oder zu Zwecken, für die sie nicht die optimalen Voraussetzungen mitbringen.

Das Wort kommt in der Schweiz in einigen Zukunftsprogrammen vor, wird aber selten so präzisiert wie in Weibels Buch. Da er nicht auf Wähler Rücksicht nehmen muss, nutzt er es auch, um an liebgewordene Tabus zu rütteln, wie etwa dem Public-Private-Partnership-Modell beim Bau von Verkehrswegen, das er kurzerhand als verdeckte Subvention abtut. Oder dem Nachtfahrverbot für Lkw auf Schweizer Autobahnen.

Oder dem Einzelwagenverkehr auf der Schiene. Die Eisenbahn in ihrer heutigen Ausgestaltung sollte sich die Bedienung dieses nicht kostendeckend arbeitenden Bereichs schenken und sie dem Lkw überlassen, findet Weibel. Das würde Platz in den Städten schaffen, wo man die Rangierbahnhöfe verkleinern könnte. Aber auch auf dem überlasteten Schienennetz gäbe es mehr Raum für Personenbeförderung, nutzbar vor allem, wenn endlich ein wirkungsvolles länderübergreifenden Leit- und Steuerungssystem eingeführt würde. Dies hätte zugleich den Vorteil, dass international der Schiene eine höhere Wertigkeit im Wettbewerb mit dem Flugverkehr zukommen könnte.

Während der Einzelwagenverkehr eher ein Tabu für Feinschmecker ist, ist der Autoverkehr in den Städten eines, das jeden angeht. Weibel plädiert nämlich für die schrittweise Verdrängung des privaten Autos aus den Städten und weist nach, dass Fuß- und Radverkehr insbesondere mit dem Siegeszug des E-Bikes deutlich effizienter in dichtbesiedelten Räumen sind als der Transport von einer oder höchstens – wie der statistische Durchschnitt hier und in der Schweiz – 1,4 Personen in einem bis zu 2 Tonnen schweren Pkw ist, der nicht nur an Start und Ziel, sondern auch während der Fahrt viel zu viel Platz verbraucht, von den klimaschädlichen Emissionen bei Herstellung, Nutzung und Entsorgung ganz zu schweigen.

Für ein Ende der Rollenspiele

Was ihn zu Recht aufregt, ist die Rollenfixierung der Verkehrsteilnehmer, die sich je nach dem spezifischen Verkehrsmittel ändert. Derselbe Mensch verhält sich als Radfahrer anders gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern denn als Autofahrer und erst recht als Fußgänger (aber fast immer unangenehm). So, wie Weibel es schildert und wie jeder von uns es täglich erlebt, braucht es aber einige Kurse mit erfahrenen Verkehrspsychologen, um das nachhaltig zu ändern.

Ein Umstand, der mir erst beim Lesen dieses Buches so richtig bewusst geworden ist, ist die zukünftige Bedeutung einer Pkw-Maut: „Die Elektrifizierung des Straßenverkehrs wird mit öffentlichen Mitteln gefördert, was gleichzeitig die Substanz der Straßenfinanzierung, die auf Treibstoffzöllen beruht, untergräbt, bevor neue Finanzierungsquellen erschlossen sind.“ Es fehlt ein System, wie Staaten und andere Straßeninfrastruktur-Betreiber zu dem Geld kommen, mit dem sie ihre Verkehrswege unterhalten und instandsetzen.

Das hervorragend strukturierte Buch stellt die derzeitigen Herausforderungen an die Mobilität schonungslos und – jedenfalls für meine Wahrnehmung – unabhängig zusammen und zeigt Lösungen auf. Würde die Politik Weibels Buch lesen und danach ihre Programme anpassen, könnte sie mit Fridays for Future auf Augenhöhe diskutieren und trotzdem den Bürgern die Erhaltung des derzeitigen Wohlstandniveaus ermöglichen. Denn ohne Mobilität geht es nicht.

Benedikt Weibel: Wir Mobilitätsmenschen. Wege und Irrwege zu einem nachhaltigen Verkehr. 200 S., Hardcover, Basel: NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG 2021. ISBN 978-3-907291-56-6, 34 Euro (D).