Einmal Kanada und zurück für 5000 Mark

Fliegen kann mehr kosten, ohne gleich zum Privileg für Reiche zu werden

Berlin, 01. August 2019 (ssl) Wer für höhere Flugpreise eintritt, handelt sich schnell den Vorwurf ein, Fliegen quasi entsozialisieren zu wollen. Dabei hätten wir touristisch motivierten Passagiere, egal ob Viel- oder Wenigflieger, ein wesentlich besseres Standing, wenn es etwas teurer wäre. Vielleicht würden wir dann den Nutzen des Fliegens, um nicht zu sagen, die Erfüllung des Traums vom Fliegen, höher schätzen als im nicht artgerechten Gedränge eines Billigflieger-Jets. Am Ende wäre es eine Win-Win-Situation für alle, sogar für das Klima. Ein Rück- und Ausblick.

So sah der Flieger damals aus. © Foto: Air Canada

Das Zitat „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben“, wird zwar offenbar fälschlich Alexander von Humboldt zugeschrieben; es hat trotzdem sehr viel für sich. Vor allem lässt es sich dafür instrumentalisieren, dass Flugreisen zu Bildungs- und Entdeckungszwecken im weitesten Sinne nicht wegen eventueller Flugscham eingeschränkt, verurteilt oder gar verboten werden sollten. Das soll hier geschehen. Mir würde sehr viel fehlen, hätte ich die Welt in meinem Leben nicht anschauen dürfen. Es begann 1974 in einem Linienmaschine. Billigflieger gab es damals nicht; wer sie vorausgesagt hätte, dem wäre ein Besuch beim Psychiater geraten worden.

Als Student in Frankfurt am Main übermannte mich ein Jugendtraum derart, dass ich ihn einfach verwirklichen musste. Ich wollte nach Amerika!

Es hatte schon lange vor dem Abitur begonnen. Heute gucken viele ungläubig, aber in Frankfurt am Main zu wohnen und zur Schule zu gehen, förderte anti-, aber auch pro-amerikanische Gefühle. Amis unterschiedlichster Hautfarben waren überall präsent, amerikanische Filme standen hoch im Kurs, ob im Kino oder als Serien im Fernsehen. Durch die Straßen der Mainmetropole fuhren Straßenkreuzer mit amerikanischen Kennzeichen. Präsident Kennedy war auch von mir ganz vorne an der Bühne auf dem Römerberg begeistert empfangen worden. Lehrer ließen keine Zweifel daran, dass die Vereinigten Staaten erheblich zum stetig steigenden Wohlstand hierzulande beitrugen.

Kurz vor dem Abitur liebäugelte ich deshalb mit einem Studium in den USA. Im Amerika-Haus besorgte ich mir Unterlagen und schrieb Briefe an Universitäten, um Material bittend. Irgendwann kam so ein typischer braun-gelber Umschlag aus dem fernen Kontinent an. Er enthielt neben Prospekten und Informationsblättern auch eine Checkliste mit ungefähr 35 Unterlagen, die man einreichen musste, um überhaupt in die Nähe einer Immatrikulation zu kommen. Das schreckte mich schon ein bisschen, aber noch nicht völlig ab. Aber meine Eltern hatten einige Wenns und Abers bereit, die meine Mutter, Tränen unterdrückend, vortrug. Geld für Reise, Aufenthalt oder Studiengebühren war von ihnen nicht zu erwarten, aber es gab ja Stipendien.

Das dünne Brett gebohrt

Aber dann passierte etwas, das heutige Studenten vermutlich als Märchen abtun würden: Mein Vater kam plötzlich mit dem Angebot eines eigenen Appartements für mich um die Ecke. Er hatte den Hauswirt bequatscht, der reich genug war, um sich keine unbekannten und womöglich Ärger machenden Mieter in sein Haus holen zu müssen. Noch dazu nahm er nur die Spott-Miete von 35 Mark im Monat.

Vaters Rechnung ging auf. Ich bohrte das dünne Brett, studierte in Frankfurt, aber der Traum verstärkte sich. Neben vielen anderen Faktoren waren es Reisebücher über den Westen Kanadas, die mich immer mehr anfixten. Wenigstens Urlaub wollte ich dort einmal machen.

Eines Tages Mitte/Ende 1973 saß ich mit Kommilitonin Anne (Name nicht geändert) auf dem Campus der Goethe-Universität in Bockenheim. Ich erzählte ihr, dass ich auf ein neues gebrauchtes Auto sparte und dank einiger Jobs schon ein bisschen Geld zusammen hätte. Irgendwie kamen wir so auf das Thema Urlaub, und sie erzählte mir, dass sie eine Einladung von Verwandten auf Vancouver Island habe. Sie wolle nicht alleine fliegen, sagte Anne. „Komm doch mit.“ Nein, es war keine Anmache. Ich hätte das sowieso nicht gemerkt; ich merke das nie.

Eher nicht alleine fliegen

Es ging einfach nur darum, nicht alleine zu fliegen. Ich war bis dahin einmal in meinem Leben geflogen. Aber wir kennen das ja: Diese Leute, die du einlädst und die dann noch den und den mitbringen… „Was würde dein Onkel sagen, wenn du mich mitbrächtest? Nur für ein paar Tage am Anfang und am Ende des Urlaubs?“, fragte ich. Ich hatte zwar noch keinen Plan, aber haufenweise Ideen. Sie alle implizierten, dass ich nicht wochenlang ihren Verwandten auf den Wecker fallen, sondern mir Kanada selbst und alleine angucken wollte. Der Onkel, Professor an einer Universität in Victoria, sagte, er habe nichts dagegen.

Die Idee, ein neues Auto zu kaufen, wurde hintangestellt. (Der alte Käfer hielt dann noch bis 1977.) Die Reiseplanung konnte beginnen. Es konkretisierte sich die Idee, mit Mietwagen alleine durch British Columbia zu fahren. Sehr anregend wirkte dabei ein Buch von A. E. Johann (1901-1996)Ein Traumland: British Columbia“. Der Autor, ein vielgelesener Reiseschriftsteller, war im Dritten Reich nicht ganz von Flecken auf der weißen Weste verschont geblieben. Abgesehen davon, dass ich das damals nicht wusste (und dass es auf viele meiner Bekannten jener Generation zutraf, leider), merkte man das seinen Kanada-Büchern nicht an. Im „Traumland“ beschrieb er die großen Straßen dieses weiten Landes in einer Form, die alle meine positiven Vorurteile bestätigte.

Eine in dem Buch nicht beschriebene Traumstraße, in der Nähe des Birkenhead Lake Parks. Guckt selbst, wie ihr da hinkommt. Scan eines Dias aus den 70ern. © Thomas Rietig

Mein Konto füllte sich dank eifriger Nebentätigkeiten. Anne und ihre Verwandten hatten den September als idealen Reisemonat ausgeguckt, und so gingen wir eines Tages im Frühjahr 1974 in das „studentische Reisebüro“ an der Bockenheimer Warte und buchten stolz einen Hin- und Rückflug von Frankfurt nach Vancouver für 1.700 Mark pro Person. Genau deshalb schreibe ich hier diese Geschichte. Heute wären das, Inflation und Kaufkraftveränderung eingerechnet, 2.459 Euro! Für alle Leute, die gerne wieder zurückrechnen: Das entspräche 5000 Mark. https://inflationsrechner.list-of.info/

So teuer muss Fliegen ja nicht wieder werden, aber irgendwas zwischen den heutigen Schleuderpreisen und diesem Niveau würde vielleicht den Reisenden wieder bewusst machen, dass das Überwinden großer Entfernungen nicht selbstverständlich ist, sondern, zumindest für Touristen, auch als einzigartiges Erlebnis verstanden werden kann und nicht als Allerwelts-Wegwerfkonsum hingenommen werden sollte.

Das geheimnisvolle „VIOPP“

Als Einreiseformalität reichte damals ein Reisepass, ein Vorteil gegenüber den USA-Reisen, für die ein Visum erforderlich war. Weil ich mir die Möglichkeit des Grenzübertritts nach Süden offen halten wollte, holte ich es mir trotzdem im US-Konsulat an der Siesmayerstraße im Westend, vor der ich auch schon ein paar Mal demonstriert hatte. Obwohl ich politische Fragen wahrheitsgemäß, also nicht immer proamerikanisch, beantwortete, erhielt ich ein Freibrief-Visum, das sich durch die Worte „multiple“ hinsichtlich der Zahl der erlaubten Einreisen und „indefinite“ hinsichtlich der Geltungsdauer auszeichnete. Es galt auch über die Geltungsdauer des Passes hinaus: Bei späteren USA-Besuchen musste ich nur den damaligen Pass zusammen mit einem gültigen vorzeigen, und die Grenzer vermerkten handschriftlich neben dem Einreisestempel „VIOPP“ (visa in old passport).

Nachdem Anne ihrem Onkel meinen Plan geschrieben hatte (Telefonieren nach Amerika war unerschwinglich – auch so etwas, was bei unseren Kindern ungläubiges Staunen hervorruft), hatte er zurückgeschrieben, ich solle das Auto vor Ort mieten, das wäre sicher billiger als von Deutschland aus. Für deutsche Urlauber war „Fly and Ride“ in Amerika mit einem Mietwagen damals durchaus kein normaler Urlaub.

Wir flogen also Anfang September mit Air Canada nach Vancouver. In einem Jumbo. Anne, klein und schmächtig, bekam den Fensterplatz, so dass ich an ihr vorbei auch bequem auf die Erde unter uns gucken konnte. Ständig brachten die Stewardessen etwas zu essen, zu trinken oder irgendwelche kleinen Aufmerksamkeiten vorbei. Zum Beispiel die „Vancouver Sun“ mit Auto-Anzeigen. Da gab es einen billigen, gebrauchten Triumph TR4, damals noch kein schweineteurer Oldtimer, sondern ein in die Jahre gekommener britischer Roadster. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu kaufen. Das Geld, das ich mit hatte, hätte gereicht, aber für Benzin, Essen und Trinken wäre nicht mehr viel übrig geblieben. Und wer weiß, wie lang der Wagen gehalten hätte.

Das Kino im Flieger war mir auch neu. Es spielte sich auf kontrastarmen Monitoren vorne in der Mitte der Trennwände ab. Gegeben wurde „The Way We Were“ mit Robert Redford und Barbra Streisand. Sprachauswahl: englisch oder französisch. Aufregender waren die Ausblicke. Das Nordmeer, die Eisberge, die endlosen Prärien, die imposanten Rockies. Die Landung mit Anflug übers Wasser des Pazifiks bis unmittelbar vor dem Aufsetzen.

Ich kann 45 Jahre später nicht mehr klären, ob die Aussage von Annes Onkel bezüglich der Mietwagenkosten stimmte, vermute es aber. Die Tagesmiete für den Käfer, den ich mir in Victoria nach ausführlichem Studium einschlägiger Anzeigen besorgte, betrug acht (acht!) kanadische Dollar. Ohne Kilometerbegrenzung. Der Can$ lag damals, wenn die Erinnerung nicht trügt, bei 2,40 Mark oder so. Die folgenden vier Wochen hielten ungeahnte Erlebnisse in einem fremden Kontinent mit Land und Leuten bereit, die mein Leben mittelbar, unmittelbar und sicher positiv beeinflussten. Sie zu schildern, ist hier nicht der Ort. Nur eins: Damals lernte ich auch, was saurer Regen ist. Mitten im kanadischen Forst hatten die ersten Umweltschützer im heutigen Sinn Plakate an die Bäume genagelt, die erklärten, was das ist. Was ich gleich nach der Rückkehr noch nicht wusste: Es entstanden Freundschaften fürs Leben.

Der Käfer brachte gleich mehrere Vorteile mit sich: Er war sparsam, und das bei den damaligen Benzinpreisen dort. Man musste sich nicht umgewöhnen, und er war relativ geländegängig. Die Werbung für das Mietauto hatte dagegen suggeriert, dass er in seiner damaligen Kultigkeit der ideale Wagen sei, um in Victoria und auf der Insel ein bisschen zu cruisen. Das tat ich, fuhr aber zusätzlich viele der in dem Buch beschriebenen und andere Straßen des „Traumlandes“ ab, lernte Menschen, Natur, Landschaften und Perspektiven der Neuen Welt kennen. Dass bei der Rückgabe 3.500 Kilometer mehr auf dem Zähler standen, ließ den Vermieter zwar kurz schlucken, kostete aber nix extra. Ich war noch schnell durch die Waschanlage gefahren.

Zu viel erzählt

Die folgenden Monate erzählte ich, zurück in der Heimat, allzu oft allzu viel von der Reise, so dass Freunde und Bekannte bald mahnten, nun sei es aber genug. Das absolute Verdikt bei der Diashow: „Sieht ja aus wie im Schwarzwald.“ Trotzdem: Es ist jedem jungen Menschen zu wünschen, so etwas, also die Reise und das nachfolgende Genervtsein der Freunde und Bekannten, erleben und verarbeiten zu dürfen. Am Ende war diese Reise sicher mehr wert als die unterm Strich vielleicht dreieinhalbtausend Mark oder ein Gebrauchtwagen oder heute 5000 Euro.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass sich der Horizont meiner Weltanschauung danach deutlich ausweitete und mir einige Viren einpflanzte, die weder die Ideologen noch die Despoten dieser Welt mir jemals austreiben werden.

Nächste Woche fliegt mein Sohn mit seiner Freundin nach Kanada. Hin und zurück für 800 Euro pro Person.