Industrie ruft nach Bestellungen von E-Fahrzeugen
Berlin, 14. März (ssl) Lange trat die Autoindustrie bei der Elektromobilität auf die Bremse. Das in scheinbarem Konsens mit der Politik gesetzte Ziel, bis 2020 ein Million E-Mobile aller Art auf der Straße zu haben, riss sie gewaltig. Der Diesel sei eine hervorragende Übergangstechnologie, hieß es ungeachtet der Skandale, es sei noch lange nicht ausgemacht, welche alternativen Antriebe am Ende das Rennen machen würden, alles viel zu teuer, keine Ladeinfrastruktur und so weiter. Beim Technischen Kongress des Verbandes der deutschen Automobilindustrie am Donnerstag in Berlin wurde eine Umkehr dieser Haltung deutlich. Jetzt pusht die Industrie. Volkswagen lieferte den dritten Tag hintereinander Fakten zu seiner künftigen E-Mobilitäts-Strategie, und der Zulieferer ZF Friedrichshafen AG rief Kommunen und Verkehrsunternehmen auf, Elektrobusse zu bestellen.
Das erste Ausrufezeichen setzte Volkswagen-Manager Thomas Ulbrich. Als Mitglied des Markenvorstands Volkswagen E-Mobilität präzisierte er Aussagen der Vortage zur künftigen Strategie. Ulbrich zeigte ein Bild, auf dem der Käfer, der Golf I und der künftige ID zu sehen waren, und drückte damit aus, dass auch dieser vollelektrische Kleinwagen einen weltweit nicht zu ignorierenden Markstein in der Automobilgeschichte setzen werde. Das Auto, wohl in etwa im Golf-Format, soll Ende dieses Jahres in Serie gehen und ab dem zweiten Quartal 2020 für „unter 30.000 Euro“ (VW-Chef Herbert Diess) ausgeliefert werden. „Der Paradigmenwechsel ist eingeleitet“, sagte Ulbrich. „Der batterie-elektrische Antrieb ist für ein gewisses Anwendungsportfolio alternativlos.“ Heißt: Wir füttern den Markt dermaßen mit Batterieautos, dass den anderen nichts anderes übrig bleibt als mitzuziehen.
Modularer E-Antriebs-Baukasten
Die Zahlen sind in der Tat eindrucksvoll: 70 verschiedene Modelle bis 2028. Sie werden mit 30 Milliarden Euro Investitionen bis 2023 entwickelt, und 2028 sollen 22 Millionen Fahrzeuge gebaut worden sein. Grundlage dafür sei der MEB, der „modulare E-Antriebs-Baukasten“. Herausragende Typfamilien: ID, BUZZ (die schon lange vorgestellte Variante des Bullis mit Elektroantrieb, aber mehr als Fun- denn als Kleinunternehmer-Universalfahrzeug), CROZZ als SUV und VIZZION als Oberklasse- und/oder Luxus-Variante.
Dank der Massenproduktion weltweit – in Hannover, Emden, Zwickau, Mlada Boleslaw/CZ, Chanttanooga/USA, Anting/China und Foshan/China – würden auch Unkenrufe obsolet, ein Elektroauto könne sich künftig nur noch die Oberschicht leisten. (Tatsächlich ist es ja heute so, dass sich schon die Mittelschicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten keinen Verbrenner-Neuwagen aus deutscher Produktion leisten will.) Die Preise der Elektroautos bewegten sich künftig auf dem „Level vergleichbarer Dieselfahrzeuge“, versprach Ulbrich. Ab 2025 solle bei der weltweiten Zahl der jährlichen Neuzulassungen von Batteriefahrzeugen die Millionengrenze überschritten sein. Sie verteilten sich zu etwas der Hälfte auf China, wenige in den USA und etwa 40 Prozent in Europa.
Sie kommt im Volumen
Allen, die am Eintreffen dieser Vorhersagen zweifelten, sagte Ulbrich mehrmals: „Die Elektromobilität kommt, und sie kommt im Volumen. Das haben wir schon lange entschieden. Die Ingenieure sitzen schon dran.“ Volkswagen werde auch bei der nötigen Ladeinfrastruktur helfen, sowohl beim Erwerb eines Autos als auch im öffentlichen Raum. Er gab der Politik die Aufgabe mit, die Änderung verschiedener Gesetze vorzubereiten. Es könne nicht angehen, dass ein Wohnungseigentümer am Veto eines Mitglieds der Eigentümergemeinschaft scheitere, wenn er in der Tiefgarage eine Wallbox zum Aufladen installieren wolle. Oder dass ein Supermarkt keine Förderung seiner Ladesäulen auf dem eigenen Großparkplatz bekomme, wenn die Säulen nur zwölf anstatt 24 Stunden täglich zugänglich seien.
Stefan Hartung, Vorsitzender des Bosch-Unternehmensbereichs Mobility Solutions, verwies mit Blick auf die teils exponentiell steigenden Wachstumsraten beim weltweiten Personen- und Frachtverkehr auf den „Druck, den wir jetzt spüren“, an den Antriebskonzepten Grundlegendes zu ändern. „Das ist aber erst der kleine Anfang“, warnte er. Das gelte übrigens auch für die Verkehrssicherheit. Aus Sicht des Umweltschutzes sei das automatische Fahren zwar günstig: „Da lassen sich 20 bis 30 Prozent einsparen“, aber die Automationsrechner im Wagen verbrauchten auch Strom im Kilowattbereich, den man dagegen rechnen müsse. Die hohe Komplexität künftiger Mobilität ergebe sich unter anderem daraus, dass mindestens für die kommenden zehn Jahre alle denkbaren Technologien parallel zueinander betrieben würden.
Plädoyer für PHEV
Nicht ganz so schnell wie Ulbrich wollte CEO Wolf-Henning Scheider von ZF Friedrichshafen zum vollständigen Elektroantrieb umschwenken. Er plädierte für den Plug-in-Hybrid (PHEV) als Übergangstechnologie. Als Argument führte er die noch geringe Reichweite reiner Batterieautos an, aber auch die Umweltfrage. PHEVs hätten vorerst die beste CO2-Bilanz. In Zeiten, da Energie noch aus Kohle gewonnen werde, sei reine Elektromobilität „nur am Auspuff grün“. „Wir arbeiten am Volks-Hybrid“, suchte auch Scheider Befürchtungen zu zerstreuen, Otto Normalautofahrer können sich bald kein umweltfreundliches Auto mehr leisten.
Scheider machte vor allem für die inzwischen bereitstehenden elektromobilen Lösungen für den Öffentlichen Personennahverkehr auf der Straße Reklame. In London, Kopenhagen oder Hamburg führen schon Hybridlösungen, selbst in Doppeldeckerbussen, sagte er. „Die Städte sollten mal bestellen.“ Beim Technischen Kongress des VDA vor einem Jahr musste sich die deutsche Autoindustrie unwidersprochen anhören, sie komme mit E-Bus-Lösungen nicht in die Puschen. Tatsächlich haben inzwischen einige Verkehrsbetriebe zumindest mit Testläufen polnischer, ja sogar chinesischer Hersteller Ernst gemacht. Daimler stellte erst im Herbst 2018 seinen E-Citaro als Standardbus vor. ZF hat mit einer Elektro-Achse mit eingebauten Motoren samt Leistungselektronik ein Angebot bereitstehen, das im E-Citaro bereits werkelt, aber auch in gebrauchte Dieselbusse eingebaut werden und damit den Verbrennungsmotor ersetzen kann. Ein derartiger Citaro fährt bereits erfolgreich, wartet aber noch auf seine Zulassung für den öffentlichen Verkehr.
Sharing und Pooling
Der Verkehrsexperte Tom Vöge brachte einige Probleme (wieder) auf den Tisch, die zusätzlich gelöst werden müssten, um eine echte Mobilitätswende zu ermöglichen: Allein der Umstieg auf alternative Technologien ändert nichts am Verkehrsinfarkt in den Städten. Selbst mit Einführung des autonomen Fahrens gelinge das nur bedingt: „Der Stau ist dann eben automatischer“, sagte er. Das größte Potenzial hätten Sharing- und Pooling-Lösungen, damit die Zahl der Fahrzeuge verringert wird und die Auslastung der verbliebenen steige. Auch auf die Gefahr hin, von den anwesenden Industriellen „mit Eiern beworfen zu werden“, betonte er, dass zumindest im urbanen Raum die Zahl der Fahrzeuge verringert werden müsse. Er glaube aber auch nicht mehr an die völlige Überflüssigkeit des individuellen Autos. Im Prinzip helfe nur, die bestehenden Verkehrslösungen nicht zu ersetzen, sondern „intelligent zu ergänzen“. Wirkliche Systemlösungen seien aber zu komplex, um etwa von einem Hersteller allein bewältigt zu werden. Deshalb begrüßte er den Zusammenschluss von BMW und Daimler bei Sharing-Unternehmen und bei der Entwicklung autonomer Lösungen.