In Wildenranna glitzert eine von der EWG geförderte Tanne
Wildenranna, 09. Dezember (EigenerBericht) Mit touristischen Innovationen, die gleichzeitig auch das Lebensgefühl der Bürger verbessern, wollen die Stadtväter Wildenrannas das Image ihres Ortes aufpolieren. Erste Initiative: Sie stellten einen Weihnachtsbaum zwischen Bahnhof und Kiosk auf. Am Sonntag wurde er unter großer Anteilnahme der Bevölkerung der Öffentlichkeit übergeben.
Obwohl topographisch deutlich höher als Etwashausen gelegen, leidet Wildenranna unter mangelnder Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Es kommen wenige Touristen, und je grauer der Himmel im Herbst, umso häufiger leiden die Einwohner unter schlechter Laune. „Es gibt neben der Bahnhofsgaststätte nicht eine einzige Kneipe im Dorf“, klagte etwa Genoveva F. Im Bahnhof ziehe es immer durch die Fensteröffnungen, „da holt man sich ja werweißwas“. Deshalb müsse sie immer nach Etwashausen fahren, wenn sie mal ausgehen wolle. Andere Bürger ergänzten unter Hinweis auf das Kino in Etwashausen, auch das nicht-gastronomische Freizeitangebot lasse erheblich zu wünschen übrig.
Ortsvorsteher Peter Mai entgegnete zwar, es sei ihr persönliches Problem, wenn sie es nicht schaffe, den Herbst freudvoll zu verbringen, wurde aber doch nachdenklich, als mehrere Nachbarn sich der Beschwerde von Genoveva anschlossen und sogar eine Eingabe beim Gemeinderat androhten. So etwas konnte er nun gar nicht leiden, denn damit würde die Beschwerde aktenkundig, und endlose Debatten der Parlamentarier schadeten seiner Ansicht nach dem Nimbus der Entschlossenheit, den er um sich verbreitete.
„Also gut“, sagte er nach einigem Nachdenken, „wir können zwar nicht schlagartig auf Augenhöhe mit dem kulturellen Angebot Etwashausens aufschließen, aber mir fällt da etwas ein.“ Er erinnerte sich an ein Rundschreiben der Bezirksregierung, in dem auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, bei Baumaßnahmen verstärkt auf den Werkstoff Holz zurückzugreifen, um die Forstwirtschaft und Holzindustrie in Europa zu fördern. Dafür könnten Fördermittel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beantragt werden. Nötig sei nur ein formloses Schreiben, wenn sich die Summe in einem bestimmten Rahmen halte. „Wir lassen uns einen Weihnachtsbaum fördern“, sagte er.
Gesagt, getan. In dem formlosen Antrag bezeichnete Mai den Weihnachtsbaum als „vor Lärm und Feinstaub schützendes Element“, das Schadstoffe vernichten oder zumindest mindern sollte, die sich von der Bahnstrecke aus in Richtung Dorf ausbreiteten. Feinstaubexperte Wilhelm Meiserich fügte ein kurzes Gutachten bei. Dass der Verkehr nach Wildenranna mit immer größeren Anteilen elektrisch abgewickelt wird und daher kaum örtliche Schadstoffe emittiert, schrieb er nicht. „Erstens war nicht genug Platz auf der Briefseite, und zweitens reicht ja auch das Lärmschutzmoment.“ Das Volumen des Baums schätzte er großzügig. Und tatsächlich kam zwei Wochen später, gerade noch rechtzeitig zum zweiten Advent, der Vorab-Bescheid aus Neustadt, er dürfte Geld für die Emissionsschutzmaßnahme ausgeben.
Genoveva nutzte ihre Beziehungen zur Farben AG in Etwashausen und erklärte der Marketingabteilung, wenn mit den Produkten der Firma ein Tannenbaum zum Glitzern gebracht werden könne, steige die Akzeptanz weit über Etwashausen hinaus. Angesichts der treuen blauen Augen und der bekannten Verbindung Genovevas zu den „Etwaigen Nachrichten“ erklärten sich die Manager dazu bereit.
Sponsoring aus dem Fichtelgebirge
Güterbahnhofschef Jürgen Vogel sagte zu, die Rangierarbeiten im Etwashausener Bahnhof kostenlos abzuwickeln, wenn alle Rangierer bei der Eröffnung Glühwein umsonst bekämen. Auch das konnte Bürgermeister Mai erlauben. Die „Etwaigen Nachrichten“ wussten von einem Geschäft für Blumen und andere Grünpflanzen in Gefrees im Landkreis Bayreuth, die möglicherweise vergünstigten Zugang zu einer Fichtelgebirgstanne hätten. Und tatsächlich, Ursula S. Aus dem Geschäft stellte einen Baum sogar kostenlos zur Verfügung. „Wenn es darum geht, Wildenranna zu verschönern, will ich nicht hinten anstehen“, sagte sie.
So musste Mai nur noch den reinen Transport bezahlen, der zu 80 Prozent von Brüssel gefördert wurde. Die Tanne wurde auf einen Flachwagen verladen, in Etwashausen aus einem Durchgangsgüterzug herausrangiert. Die alte E-63-Rangierlok brachte ihn zum Bahnhof Wildenranna, und am Sonntag stieg zwischen dem Bahnhof und dem Zeitungskiosk die kurze Einweihungszeremonie.
„Hiermit eröffnen wir eine Kampagne zur Verschönerung von Wildenranna“, sagte Mai, nachdem er alle Förderer und anderen Wohltäter gebührend begrüßt hatte. „Die Tanne ist nur ein Anfang. Wir wollen ein Dorf haben, dessen Image seiner wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung gerecht wird, und in dem es Spaß macht zu leben. Ich möchte alle Bürger einbeziehen und bitte sie deshalb in aller Form um Vorschläge.“
Meiserich begann mit der Idee, den Baum nicht nur zur Weihnachtszeit am Bahnhof glitzern zu lassen, sondern nach Silvester durch mehrere lebende Tannenbäume zu ersetzen, damit das Mikroklima in Bahnhofsnähe weiterverbessert werde. Die Förderung einer Kneipe war ein weiterer Vorschlag, der allgemeinen Beifall fand. Wichtig sei, dass das Angebot ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Etablissements in Etwashausen aufweise. Und schließlich kam noch der Vorschlag eines Jugendhauses, bevor Genoveva die Veranstaltung mit derBemerkung schloss: „Jetzt erst einmal Glühwein, aber ohne Fotografen!“