Zur Minderung der Dieselemissionen in Städten – Schreiben dreier Minister an die EU-Kommission (2. Zusammenfassung mit Stellungnahme BVG und VDV)
Berlin, 13. Februar (ssl) Die Bundesregierung erwägt zur Vermeidung eines Dieselfahrverbots die Einführung von Gratis-Tickets im öffentlichen Nahverkehr. Das geht aus der Stellungnahme dreier Minister aus allen Parteien der Großen Koalition an die EU-Kommission zum möglichen Vertragsverletzungsverfahren wegen der Grenzüberschreitung bei den Stickoxid-Emissionen in Städten hervor, die Schiene Straße Luft und dem Verkehrsbrief vorliegt. Zuerst hat darüber der Brüsseler Newsletter „Morgen Europa“ von Politico berichtet. Das größte deutsche Nahverkehrsunternehmen, die Berliner BVG, erklärte auf Anfrage in einer ersten Stellungnahme, so ein Projekt sei machbar, aber teuer.
Das Schlüsselzitat ist einer von sieben Spiegelstrichen in dem in englischer Sprache abgefassten Schreiben und lautet: „Free public transport: Together with the Länder and the local level we are considering public transport free of charge in order to reduce the number of private cars.“ („Freier öffentlicher [Nah-] Verkehr: Zusammen mit den Ländern und der kommunalen Ebene erwägen wir kostenlosen öffentlichen Verkehr mit dem Ziel, die Zahl der Privatwagen zu verringern.“)
BVG-Sprecherin Petra Reetz erklärte dazu, machbar sei ein Nulltarif. „Aber nur stufenweise.“ Und es werde teuer. Sollte die Maßnahme für Berlin erwogen werden, so müsse berücksichtigt werden, dass zunächst rund eine Milliarde Euro jährlicher Einnahmen aus Ticketverkäufen wegfalle. „Die müssten wir von anderswo bekommen.“ Zu bedenken sei auch, dass die BVG in Verträgen mit Verkehrsverbünden stünden. Viele Pendler in Berlin benutzen zur Fahrt in die Stadt Verkehrsmittel verschiedener Unternehmen, etwa der S-Bahn, oder der Regionalbahnen. „Das zusätzliche Fahrgastaufkommen dürfte sich um den Faktor zwei, also eine Verdoppelung, bewegen.“ Zurzeit befördert die BVG täglich etwa drei Millionen Fahrgäste.
Das erhöhte Aufkommen koste ebenfalls viel Geld, sagte Reetz. „Dafür muss die Infrastruktur ausgebaut werden.“ Das gehe nicht sofort, selbst wenn das Geld dafür da wäre. „Busse, Straßen- und U-Bahnen müssen beschafft werden, Betriebshöfe müssen aus- bzw. neu gebaut werden. Die Möglichkeit eines abschnittsweisen Nulltarifs, etwa nur für Pendlerbusse, sah Reetz nicht, „weil es dann einen Aufschrei in Berlin geben wird von denjenigen, die nach wie vor bezahlen müssen.“
Die Minister kündigen in den übrigen Spiegelstrichen unter anderem an, die „künftige Bundesregierung“ werde einen legalen Rahmen schaffen, der Ländern und Kommunen ermöglichen soll, verbindliche Emissionsgrenzwerte für Busse und Taxis festzusetzen. Darin eingeschlossen seien auch Mietwagen, Car-Sharing-Autos, sowie „die gesamte Bandbreite“ („the full range“) von Lieferfahrzeugen. Dieses Gesetzespaket solle spätestens zum Ende dieses Jahres in Kraft treten. Wenn nötig, werde die Bundesregierung die Städte bei der Einrichtung effizienter Verkehrsregulierungen in ausgesuchten Straßen unterstützen, um die Luftverschmutzung aus Verbrennungsmotoren zu reduzieren. Für den Schwerlastverkehr soll es „Niedrig-Emissions-Zonen“ geben, die große Bereiche der Innenstädte umfassen sollen.
Fünf „Leit-Städte“
Weitere Maßnahmen umfassen finanzielle Maßnahmen zur Förderung der Flottenerneuerung, insbesondere Unternehmensteuervergünstigungen für Elektrofahrzeuge und zusätzliche Subventionen für Taxen mit wenig Schadstoffausstoß sowie Liefer- und öffentliche Fahrzeuge. Die Bundesregierung will darüber hinaus bei den bestehenden Fahrzeugen durch „zusätzliche technische Maßnahmen“ den Schadstoffausstoß weiter reduzieren, „soweit das effizient und wirtschaftlich machbar ist“.
Schließlich soll all dies in fünf „Leit-Städten“ (lead cities“) getestet werden: Bonn, Essen, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim. Die erfolgreichsten Maßnahmen sollen dann in allen anderen betroffenen Städten ebenfalls umgesetzt werden.
In der Bundesrepublik gibt es bisher, von Shuttles zu Sonderveranstaltungen wie großen Publikumsmessen abgesehen, keinen Nulltarif im Personen verkehr. In den Vereinigten Staaten ist das allerdings hin und wieder umgesetzt worden, vornehmlich als Transportmittel zu touristischen Hotspots aber auch in „ganz normalen Städten“ wie etwa Charlottesville/Virginia. Dort verbindet ein kostenlos benutzbarer Bus die wichtigsten Stadtbezirke. In Berlin selbst gibt es die mehrheitlich von Touristen genutzte Buslinie 100 zwischen dem Bahnhof Zoo und dem Alexanderplatz, die zwar offiziell nicht kostenlos ist, deren Fahrer/innen aber vor allem gegenüber Touristen oft ein Auge zudrücken. Den Pendlerverkehr entlastet diese Linie allerdings nicht.
Der Verband der deutschen Verkehrsunternehmen (VDV) wiederholte aus dem aktuellen Anlass am Dienstag Nachmittag seine ablehnende Position zu Nulltarif-Versuchen. „Damit würden alle Bürger indirekt über ihre Steuerzahlungen zur ÖPNV-Finanzierung beitragen, egal ob sie den ÖPNV tatsächlich nutzen oder nicht.“ das sei schwer zu vermitteln und werde von vielen als „ungerecht“ angesehen. Der Verband nannte vier Städte, in denen es befristet Nulltarif-Systeme gegeben habe: „Hasselt (Belgien), 1997 – 2013, Finanzierung aus Haushaltsmitteln; Templin (Brandenburg), 1997 – 2003, Finanzierung aus Kurgebühr, ab 2002 Jahreskurkarte für 29 Euro; Lübben (Brandenburg), 1998 – 2002, Finanzierung aus Haushaltsmitteln; Tallinn (Estland), ab 2013, kostenlos nur für Bürger, Finanzierung aus Haushaltsmitteln.“
Die Finanzierung sei die „zentrale Schwierigkeit“, erklärte der Verband. Die zusätzlichen Kosten seien nicht durch den Wegfall des Vertriebssystems gegenzufinanzieren. „Wir gehen branchenweit von ca. 12 Milliarden Euro jährlicher Kosten für einen komplett steuerfinanzierten ÖPNV in Deutschland aus. Und darin sind die Kosten für Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur, die ja heute schon zu großen Teilen aus öffentlichen Kassen kommen, noch nicht mit eingerechnet.“
Von Altmaier, Hendricks und Schmidt
Mit dem Schreiben – und den Maßnahmen – will die Bundesregierung ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verhindern. Die Kommission hatte der Bundesregierung im Januar eine Frist bis Freitag vergangener Woche gesetzt, um Auskunft über wirkungsvolle Maßnahmen gegen die in vielen Städten überhöhten Stickoxidbelastungen zu geben. Das Schreiben mit Datum vom 11. Februar ist an den Umweltkommissar Karmenu Vella gerichtet und von den geschäftsführenden Kabinettsmitgliedern Peter Altmaier (CDU, Chef des Kanzleramts, Finanzen), Barbara Hendricks (SPD, Umwelt) und Christian Schmidt (CSU, Verkehr, Infrastruktur, Landwirtschaft) unterzeichnet.