Seit 10 Jahren fahren ICE und TGV zwischen Paris und Frankfurt/Stuttgart – und nach Marseille
Paris/Berlin, 02. Juni (ssl) Die Signale stehen wieder auf Grün im schnellen Schienenverkehr zwischen Deutschland und Frankreich. Das war nicht immer so in den zehn Jahren, in denen jetzt TGV und ICE zwischen den Metropolen mit Tempo 320 hin- und herrasen. Nach den Anschlägen in Paris gingen vor knapp anderthalb Jahren die Fahrgastzahlen deutlich zurück. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn die Europafeinde um Marine Le Pen an die Macht gekommen wären. Aber nun steigen die Zahlen noch über das vorherige Niveau hinaus. Ein aus Eisenbahnersicht „exotischer“ Versuch ist nach zehn Jahren zu einem deutsch-französischen Erfolgsmodell geworden. Die Bahnen feierten das mit einer Zugtaufe.
„Vor zehn Jahren waren wir Exoten“, sagt Frank Hofmann zufrieden. Jaetzt fahren die Züge normal und überdurchschnittlich zuverlässig. Aber damals war es durchaus ungewöhnlich, dass die beiden Eisenbahngesellschaften SNCF und Deutsche Bahn ein Joint Venture mit 50:50-Beteiligungen gründen wie die Alleo, deren Geschäftsführer Hoffmann ist. Beide Bahnen waren im Schienenfernverkehr Monopolisten, und wenn sie überhaupt mit anderen kooperierten, dann als Seniorpartner. Eines der Ziele war, dem Luftverkehr zwischen den Städten Passagiere abzujagen, und das ist gelungen. In der Relation Stuttgart-Paris haben die schnellen Züge jetzt einen Marktanteil von 65 Prozent gegenüber dem Flieger. Von Frankfurt sind es aber lediglich 33 Prozent. Das liegt unter anderem daran, dass der Frankfurter Flughafen viele Passagiere von transkontinentalen Verbindungen zur Kurzstrecke umsteigen lässt, und „dass Frankfurt eben eine sehr luftfahrtaffine Stadt“ sei wegen des großen Flughafens, wie Hoffmann bedauert. „Da ist noch Luft nach oben“, geben auch Birgit Bohle, Vorstandsvorsitzende von DB Fernverkehr, und Patrick Jeantet, Präsident von SNCF Réseau, zu. Die Züge sind noch nicht voll ausgelastet.
Das Hauptargument für die Wahl „Zug statt Flug“ ist die Reisezeit. Wer mit dem 8.000 kW starken Zug und Tempo 60 durch den Pfälzer Wald gondelt, reibt sich am Ende die Augen beim Blick auf die Uhr, verwundert, dass er trotzdem die Distanz von Frankfurt in knapp vier Stunden überwunden hat. Das liegt daran, dass die Züge auf dem französischen Teil der Strecke auf Tempo 320 aufdrehen. Von Stuttgart schaffen sie es sogar in 3:10 Stunden. So schnell geht keine Flugreise von Innenstadt zu Innenstadt.
16,4 Millionen Passagiere oder 60 Prozent Zuwachs auf den internationalen Verbindungen zählte alleo in den zehn Jahren seit Bestehen. 2016 waren es 1,8 Millionen, ein Viertel davon auf der Frankfurter Strecke. Zum Jahresanfang gingen sie deutlich in den Keller, parallel zu den Übernachtungszahlen in Paris nach den Terroranschlägen Ende 2015. Aber in den ersten vier Monaten 2017 stiegen sie um mehr als 20 Prozent und überkompensierten damit den Rückgang zum Vorjahr. „Wir wollen 2017 die Zwei-Millionen-Marke knacken“, sagt Hoffmann und ist sich ziemlich sicher.
Das wäre anders gewesen, wären die Präsidentschaftswahlen anders ausgegangen und dem Brexit womöglich ein Frexit gefolgt. Schon jetzt haben es die Terroristen geschafft, dass an der Grenze in Forbach ein Betriebshalt eingelegt wurde und ein Trupp schwerbewaffneter Ordnungshüter durch den Zug läuft.
Zu den internationalen kommen noch die nationalen Fahrgäste, namentlich auf der Strecke Paris-Straßburg, die auch die Franzosen wegen der konkurrenzlos schnellen Zeit gerne nehmen. Zwischen der Europa- und der Seinemetropole gibt es keine nationale Flugverbindung mehr, und auf der Autobahn gilt Tempo 130. Auch die 2012 zusätzlich aufgenommene Strecke Frankfurt-Marseille, die laut Hoffmann gut in die Fahrzeug-Umläufe passte, erfreut sich so großer Beliebtheit, dass die billigen Jubiläumstickets – 10.000 Stück bei der DB und 10.000 bei der SNCF für 29 Euro in der 2. und 39 in der 1. Klasse – , die die Bahnen jetzt auf den Markt werfen, für diese Relation nicht gelten.
Für alleo fahren je vier moderne TGV- und ICE-Garnituren täglich 24 Verbindungen. Sie erreichen dabei eine Tagesleistung von teils mehr als 2000 Kilometern. „Das muss auch so sein“, sagt Hoffmann, „denn die Züge sind teuer.“ Der Lokführer kann sich bei Tempo 320 verhältnismäßig gelassen der Streckenbeobachtung widmen. Er verdankt das zahlreichen technischen Besonderheiten. Jeder Zug mit 8.000 kW Leistung kann drei verschiedene Stromsysteme und noch mehr unterschiedliche elektronische Leit- und Sicherungssysteme verarbeiten.
Die Begrüßung der Fahrgäste offenbart eine weitere Spezialität der Züge: „Bonjour! Guten Tag! Good morning!“. Das Personal aus deutsch-französisch gemischten Teams ist dreisprachig und hat besondere Schulungen hinter sich zum gegenseitigen Vorurteils-Abbau. Die Teams zeigen sich auf jeder Fahrt hochmotiviert als hervorragende Protagonisten französisch-deutscher Freundschaft, und Bohle wie Hoffmann haben nur lobende Worte für sie übrig. Die Fahrgastzufriedenheit von mehr als 90 Prozent auf den Strecken, das muss Bohle zugeben, ist im innerdeutschen Fernverkehr noch Zukunftsmusik.
Höhepunkt der Feierlichkeiten am 1. Juni war eine Taufzeremonie. „Wir haben gar nicht mehr so viele ICE-Züge, die wir taufen können“, sagt Bohle. Die meisten haben schon einen Namen. Insofern sei es etwas ganz Besonderes, einen auf den Namen der Seinemetropole zu taufen, was die Verbundenheit der beiden Länder unterstreichen soll. Der ICE findet sich jetzt in Gesellschaft von Orten wie Elsterwerda, Wehrheim oder Bad Oldesloe.
Der Zug der Baureihe 407 fährt am Donnerstagnachmittag unter ohrenbetäubendem Betätigen des Warnsignals und der Lichthupe am Gleis 27 der ehrwürdigen Gare de l’Est vor. Als er neben dem Podest für die VIPs zum Stehen kommt, hält zunächst der stellvertretende Bürgermeister eine Rede, in der auch er die französisch-deutsche Freundschaft beschwört. Dann lassen die beiden Bahn-Direktoren aber nicht die ganze Champagnerflasche an der Karosserie zerschellen („Wir wussten nicht so genau, welches von beiden Teilen dann wirklich kaputtgeht“, murmelt ein Eisenbahner), sondern schütten das prickelnde Nass gezielt auf den Schriftzug. Anschließend unterschreiben sie mehrere original große Zuglaufschilder, wie sie einst an den Längsseiten der D-Züge hingen. obwohl es so etwas beim ICE natürlich nicht gibt.
Der Täufling musste sich gleich am nächsten Tag bei der Rückfahrt nach Frankfurt einer Belastungsprobe unterziehen: Er war als „schnellster Club der Welt“ Zubringer zur Club Beat Night im Frankfurter Waldstadion am Samstagabend. 400 junge Leute tanzten zu heißen Beats auf zwei Stages durch den Zug. Er überstand es mit Bravour und kam trotz zahlreicher Rauchpausen der Fahrgäste pünktlich am Stadionbahnhof an. Frank Hoffmann, der selbst in ein mit „Crew“ beschriftetes T-Shirt geschlüpft war, packte selbst mit an, wenn es um den Getränkenachschub und andere Serviceleistungen ging. Und war am Ende zwar geschafft, aber glücklich, dass die nicht nur symbolischen Projekte reibungslos gelaufen waren. Es hätte wirklich schlechter kommen können.
Zum Pressematerial der Deutschen Bahn geht es hier.