Aldous Huxley, ein Fresko und die Eugenik

„Along the Road“: „Biologistische“ Stellen in historischer Literatur gestrichen


Berlin, 14. März 2025 (ssl) In der im vergangenen Herbst erschienenen deutschen Erstausgabe der Reiseberichte „Along the Road“ des britisch-amerikanischen Schriftstellers Aldous Huxley (1894-1963) sind einige Textstellen des englischsprachigen Originals gestrichen worden. Sie sind nach Angaben des Verlags von „biologistischem Denken“ geprägt oder bedienen „antisemitische Stereotypen“.
Ausdrücklich erwähnt der Verlag drei Textstellen. Die Erwähnungen finden sich in den Anmerkungen am Ende des Buches, die meist Namen und Wendungen erklären, von denen der Verlag meint, sie seien den Lesenden nicht ohne weiteres geläufig. Im deutschen Text selbst sind die Auslassungen nicht gekennzeichnet, weder durch Auslassungszeichen noch durch Fußnoten, die auf die Kürzungen hinweisen.

Huxley (1894 Godalming, Surrey [England] – 1963 Los Angeles) wurde vor allem berühmt durch seinen dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ („Brave New World“, 1932). Huxley wurde in eine Familie der englischen intellektuellen Elite geboren. Die Absicht, Medizin und Biologie zu studieren, vereitelte eine schwere Krankheit, die seine Sehkraft vorübergehend extrem einschränkte. Er lernte die Braille-Schrift und entschied er sich für ein Literaturstudium und anschließend für den Beruf des Schriftstellers.

Huxley (Foto oben, © The Huxley Brothers, 1947) verbrachte zwischen den Weltkriegen einige Jahre in Italien, das er wegen des im Vergleich zu England freundlichen Klimas schätzte. Nach der Flucht vor den Faschisten lebte er in Südfrankreich, wo er den weltbekannten Roman schrieb, der bei den Nazis verboten wurde. Vor diesen floh er wiederum 1937 nach Los Angeles, und während und nach dem Zweiten Weltkrieg wandte er sich immer mehr buddhistischen Lehren und der Mystik zu. Teilweise sind seine Prosa und seine philosophischen Arbeiten von eugenischen Perspektiven geprägt, die in Aldous’ älterem Bruder Julian einen berühmten Vertreter haben. (https://de.wikipedia.org/wiki/Aldous_Huxley)

Keine Bombe auf Sansepolcro
Die Sammlung „Along the Road“ erschien 1925. Mit ihr wurde Huxley unabsichtlich zum Retter wichtiger italienischer Kulturgutüer. Als sich 1944 die Alliierten in Italien an der „Gotenstellung“, einer Befestigungslinie der Wehrmacht durch den Apennin, heftige Kämpfe mit deutschen Truppen lieferten, weigerte sich ein britischer Soldat, die Stadt Sansepolcro zu beschießen, in der deutsche Truppen vermutet wurden. Der Offizier hatte „Along the Road“ gelesen, in dem Huxley von dem Fresko „Auferstehung“ (Foto unten) des dort geborenen Malers Piero della Francesca (um 1415-1492) als dem „herrlichsten Bild der Welt“ schwärmt. Das Fresko befand sich an der Wand des Rathauses, heute im Museo civico der Stadt.

Picture of the resurrection of Jesus Christ the Messiah near Roman soldiers


Das Original im Internet

Die deutsche Ausgabe von „Along the Road“ erschien erst im vergangenen Jahr unter unübersetztem Titel bei Rowohlt. Sie wurde durchweg positiv besprochen. In der Tat überrascht der Text mit teils immer noch gültigen Erkenntnissen, und einem lockeren, satirisch-ironischen Stil. Huxley und seine Frau fuhren mit dem Auto, einem 10-PS-Citroen. Was er verschweigt, aber der Übersetzer Willi Winkler erwähnt: Sie musste fahren, weil er noch immer unter Nachwirkungen seiner Augenkrankheit litt. Dafür gesteht er etliche Marotten, zum Beispiel die, auf jede Reise einen Band der Encyclopedia Britannica als Lektüre für langweilige Stunden mitzunehmen.

Huxleys Buch enthält neben Reiseberichten Nachdenkliches über den beginnenden Massentourismus, grundlegende Überlegungen zum Reisen und der daraus resultierenden Bildung. Huxley schreibt viel über italienische Landschaften und Maler, vor allem aus einer zwar merklich elitären, teils satirischen, aber auf sehr viel Wissen basierenden Perspektive.

Genau dieser Ton macht es sehr lesenswert. Vom Einfluss der Eugenik oder gar dem, was in Deutschland unter „Rassenlehre“ daraus wurde, merkt man wenig, bis man die Anmerkungen liest. Hier teilt der Verlag eher versteckt mit, dass drei Textstellen gestrichen wurden.

Das mag sich damit begründen lassen, dass das Buch nicht mit einem wissenschaftlichen Anspruch daherkommt. Für eine deutsche Erstausgabe ist es meiner Meinung dennoch ein fragwürdiges Vorgehen, zumal erwartungsgemäß das Wort „gekürzt“ nicht im Impressum vorkommt.

Auch im Nachwort erwähnt Winkler die Kürzungen nicht, obwohl er sich tatsächlich ausführlich mit der für Kritiker und Nobelpreisverleiher schwierigen Gewohnheit Huxleys auseinandersetzt, „dass er in seinen Büchern „nach Herzenslust zusammenführt, was ihn zwischen Naturwissenschaften und Mystik gerade bewegte“.

Es soll ja Feuilleton-Journalisten geben, die lediglich den Waschzettel kopieren, wenn sie eine Neuerscheinung vorstellen. Die im Internet verfügbaren „Besprechungen“ von „Along the Road“ legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Hoffentlich nur deshalb habe ich bisher keine Erwähnung der erwähnten Kürzungen gefunden. Was ich aber gefunden habe, ist der frei zugängliche Originaltext im Internet. https://www.fadedpage.com/showbook.php?pid=20231239. Daher gebe ich die fehlenden Stellen hier in der Originalsprache wieder.

1) Auf Seite 67, im Kapitel „Das Land“, geht es um die geringe Bevölkerungsdichte Frankreichs. Dieser Umstand bedeutet für Huxley eine Gefahr. Er prognostiziert, dass sich die Bevölkerung der Nachbarländer, etwa Deutschlands und Italiens, über den Rhein bzw. die Alpen nach Frankreich ausbreiten könnte und es deshalb irgendwann keine Franzosen mehr gäbe. In diesem Zusammenhang wurde folgender Satz zur Beschreibung der Deutschen und Italiener gestrichen: „Huge populations, upon whose skulls the bump of philoprogenitiveness can be seen at a quarter of a mile, pullulate on the further side of almost every frontier.“ (Wörtlich etwa: Auf der anderen Seite fast jeder Grenze [Frankreichs] wimmelt es von riesigen Populationen, auf deren Schädeln man noch aus einer Viertelmeile Entfernung den Wulst der Kinderliebe erkennen kann.) Begründet wird die Streichung in den Anmerkungen, damit, dass sich Anfang des 20. Jahrhunderts „biologistische, vom Sozialdarwinismus geprägte“ Anschauungen auch bei linken Autoren fanden. „Um dieses auch bei Huxley zeitweise anklingende Denken nicht zu reproduzieren, wurde hier ein Satz gekürzt.“

2) Auf Seite 68 der deutschen Ausgabe fehlt hinter den Worten: „…bietet sich nichts Besseres an.“ ein ganzer Absatz. Er lautet: „The Portuguese who, in the later sixteenth and the seventeenth century, suffered acutely from under-population (half the able-bodied men had emigrated to the colonies, where they died in war or of tropical diseases, while those who stayed at home were periodically decimated by famine—for the colonies produced only gold, not bread) solved their problem by importing negro slaves to work the deserted fields. The negroes settled. They intermarried with the inhabitants. In two or three generations the race which had conquered half the world was extinct, and Portugal, with the exception of a small area in the north, was inhabited by a hybrid race of Eur-Africans. The French may think themselves lucky if, avoiding war, they can fill their depleted country with civilized white men.“ Die Übersetzung erspare ich mir. Begründung der Streichung: „Auf dieser Seite wurde ein Absatz gekürzt, in dem biologistisch geprägte Vorstellungen von „Rasse“ und weißes Überlegenheitsdenken zum Ausdruck kommen.“

3) Auf Seite 88 des Buches fehlt der im Folgenden kursiv gedruckte Halbsatz: „Was hard work to the greater glory of God more detestable than eight hours a day in an office for the greater enrichment of the Jews? Temperance was a bore, no doubt; but was it so nauseatingly wearisome as excess?“ Begründung: Der Halbsatz wurde gestrichen, weil er ein „zeittypisches antisemitisches Stereotyp“ beinhalte.

„Along the Road“ ist weder ein Kinderbuch noch ein Trivialroman, und Huxleys Dystopie „Schöne neue Welt“ gehört (hoffentlich noch?) zum Kanon im Gymnasialunterricht. Dem Leser eines solchen Textes kann doch wohl zugemutet werden, diese zwei rassistischen bzw. antisemitischen Anklänge in den historischen Kontext einzuordnen. Will er sich ein Bild des Autors machen, sind solche Stellen nicht einfach entbehrlich. Mindestens sollten sie bei den Anmerkungen hinzugefügt werden, und zwar sichtbar mit Fußnoten im Haupttext, damit der Leser es auch an der richtigen Stelle erkennt. Die im Internet verfügbaren Rezensionen des Buches erwähnen dies übrigens nicht. Wer liest schon die Anmerkungen?


Und zum Schluss das Funktelefon

Während Huxley bei manchen Zukunftsvisionen durchaus richtig lag, hat er sich (zumindest bis jetzt) in der Causa Portugal geirrt, ebenso wie in der Prognose der demographischen Zukunft Frankreichs. Andererseits kommt in der guten deutschen Übersetzung Winklers der 2020-er Jahre des, wie gesagt, 1925 entstandenen Textes das Wort „Funktelefon“ vor, und zwar auf Seite 246 in dem Kapitel „Arbeit und Freizeit“ („Work and Leisure“). Heute würde man es „Work-Life-Balance“ überschreiben, und es ist wirklich eine köstliche Lektüre, 100 Jahre später. Das Wort lautet „wireless telephones“. Er schreibt es wirklich, und das versöhnt den Leser dann doch endgültig.


Huxley, Aldous: Along the Road – Aufzeichnungen eines Reisenden. Berlin: Rowohlt Verlag 2024. Deutsche Erstausgabe. Hardcover mit Lesezeichen, 288 Seiten, ISBN 978-3-7371-0192-9, 25 €