(117) Münkler, Herfried: Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648
Gelesen als: Hamburg bei Reinbek (richtig!): Rowohlt Taschenbuch Verlag 2019. 4. Auflage 2022. 976 Seiten, zahlreiche SW-Abbildungen und Karten. ISBN 978-3-499-63090-3. 18€.
Über den Autor: Münkler (*1951 Friedberg) ist einer der einflussreichsten zeitgenössischen Politikwissenschaftler. Er studierte an der Frankfurter Goethe-Universität, promovierte bei Iring Fetscher über Macchiavelli und habilitierte sich 1987 zum Thema Staatsräson. Zurzeit lehrt er an der Berliner Humboldt-Universität. Er vertritt u.a. die These, dass sich in der Neuzeit asymmetrische Kriege prägend für das von Gewalt dominierte Konfliktgeschehen seien, bei denen sich verschiedene Typen von Kriegen vermischen, etwa hegemoniale mit religiös motivierten, was ihre Beherrschung bzw. Beendigung schwieriger mache, da Sieger und Besiegte schwerer zu definieren seien. Einige seiner überaus zahlreichen Veröffentlichungen werden kontrovers diskutiert, etwa weil sie die Position der Elite verträten.
Inhaltsangabe: Münkler versucht, mit einer umfassenden Schilderung der Voraussetzungen und des Ablaufs des Dreißigjährigen Krieges die These zu belegen, dass Abfolge und Abhängigkeiten jener Auseinandersetzungen als Analyse der heutigen Kriege verstanden werden können, da sie – im Gegensatz zu den großen Kriegen nach dem Westfälischen Frieden – im 21. Jahrhundert nicht mehr nach klaren Regeln ablaufen wie z.B. Kriegserklärung, Aufeinandertreffen staatlicher Streitkräfte und Ende nach klarem Sieg.
Anlass der Lektüre: Kauf aus Interesse nach Lektüre von Schillers „Der Dreißigjährige Krieg“ vor einigen und Grimmelshausens „Simplicissimus“ vor vielen Jahren.
Bewertung: Wer die heutigen Kriege verstehen will, insbesondere die Auseinandersetzungen im „Vorderen Orient“, wie Münkler den Nahen Osten nennt, kann aus der Lektüre neben dem üblichen historiographischen Erkenntnisfortschritt viel lernen, aber leider nicht, wie die betroffenen Länder zu befrieden sind. Es wäre ja auch ein Wunder. Um eine eurozentrische Sicht auf die derzeitige Wirklichkeit zu relativieren, bedient sich Münkler der von Ernst Bloch eingeführten Sicht der „Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit“ und behauptet glaubhaft, die derzeitigen Nahost- und Nordafrika-Konflikte ähnelten strukturell dem Dreißigjährigen Krieg.
Daraus erwächst aber auch die traurige Wirklichkeit: „Normale“ Kriege enden, wenn die Kriegsparteien aus diametralen Gründen (Sieg bzw. Niederlage) zu der Einsicht kommen, ihre Ressourcen seien erschöpft und es gebe keinen anderen Ausweg aus dem massenhaften Töten und Zerstören als das Aushandeln von und der konsensualen Zustimmung zu Friedensbedingungen. Sehr viel schwieriger wird dieses Beenden aber, wenn bürgerkriegsähnliche Zustände und z.B. die Existenz von Söldnerheeren dazukommen. Noch schwieriger wird es, wenn auch nur eine Partei nicht nur einen hegemonialen, sondern einen Unbedingtheitsanspruch erhebt. (Der Papst lehnte den Westfälischen Frieden ab.)
So wurde der Westfälische Frieden erst verhandelbar, als religiöse Gesichtspunkte in den Hintergrund traten und die Verwüstung des Landes in den Vordergrund rückte, weil sie die Versorgung der Armeen erschwerte bis unmöglich machte. Der Friedensschluss führte zu der „Westfälischen Ordnung“. Sie ermöglichte zwar nicht die „Abschaffung“ des Krieges an sich, stellte aber Regeln für Europa auf, die jahrhundertelang weitgehend befolgt wurden und die katastrophale Einbeziehung der Zivilbevölkerung verringerten.
Trivia: Mein Exemplar hatte mittendrin die Seiten 529-560 doppelt, was mir natürlich erst auffiel, als ich in Erwartung der Seite 561 wieder mit der Seite 529 konfrontiert wurde. Glücklicherweise bewahrheitete sich meine Befürchtung nicht, dass dafür weiter hinten 30 Seiten fehlen könnten.
(118) Kranich, Laura: Unterm Himmel. Aus der Buchreihe „European Essays on Nature and Landscape“.
Gelesen als: Hamburg: KJM Buchverlag 2023. Gebunden, 133 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, Karten. Federzeichnungen von Rüdiger Tillmann im Vor- und Nachsatz. ISBN 978-3-96194-219-0. 20 Euro.
Über die Autorin: Laura Kranich ist Meteorologin und Fotografin. Außerdem arbeitet sie als freie Kamerafrau für RTL News https://lk-photo-film.de/Laura-Kranich/
Inhaltsangabe: Kranich beschreibt die physikalischen Vorgänge, die zu Himmelserscheinungen wie Polarlicht führen, nicht ohne die Einflüsse des Klimawandels zu erwähnen. Zugleich gibt sie Anregungen zur erfolgreichen Beobachtung.
Anlass der Lektüre: Besprechungsexemplar.
Bewertung: Vor allem die Fotos teilen dem Leser viel von der Faszination der Himmelserscheinungen mit. Ausführliche Rezension: https://schienestrasseluft.de/2023/11/06/die-faszination-des-himmels-hat-ihre-unschuld-verloren/
119) Mayr, Suzette: Der Schlafwagendiener. Roman. Übersetzt von Anne Emmert.
Gelesen als: Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2023. Gebunden mit Schutzumschlag, 240 Seiten. ISBN 978-3-8031-3357-1. 25,– €. Originalausgabe: The Sleeping Car Porter. Toronto: Coach House Books 2022
Über die Autorin: Mayr (*1967), Professorin für Literaturwissenschaft, unterrichtet Kreatives Schreiben an der Universität von Calgary, an der sie auch studierte. An der University of New South Wales wurde sie promoviert. Sie schlug sich als Hilfsarbeiterin durch, bevor sie von ihrem Schriftstellerberuf leben konnte. 2022 erhielt sie für „Der Schlafwagenschaffner“ den renommierten kanadischen Giller Prize. (Q: https://de.wikipedia.org/wiki/Suzette_Mayr)
Inhaltsangabe: Ein junger schwuler Schwarzer verdingt sich als Schlafwagen-“Diener“ (das sind die Untergebenen des Schlafwagenschaffners), um das Studium für seinen Traumberuf Zahnarzt finanzieren zu können. Das Buch schildert die Abläufe auf zwei Fahrten, im wesentlichen eine transkontinentale mit einem von einer Schlammlawine verursachten ungeplanten mehrtägigen Aufenthalt in den Rocky Mountains.
Anlass der Lektüre: Geschenk.
Bewertung: Weniger etwas für Eisenbahnfans (aber ein bisschen vielleicht doch, vor allem, wenn man schon mal die Strecke oder in einem vergleichbaren Zug gefahren ist), mehr zur Soziologie der Fahrgäste und des Personals, die die Autorin gelungen, aber teils drastisch darstellt. Abgesehen von einem kleinen Kind, lassen alle Fahrgäste und Vorgesetzten den Protagonisten spüren, dass er am untersten Ende der Gesellschaft steht und gleich mehrere Diskriminierungs-Narrative auf sich vereint. Bleibt ihm nur zu wünschen, dass er sein Studium erfolgreich absolvieren konnte.
Der schönste Satz: „Tief unter den Gleisen brodelt Magma.“ Ersetze „Gleise“ durch einen beliebigen irdischen Gegenstand, der Satz stimmt immer.
(120) Herzog, Christian: Aktion Phoenix. Roman.
Gelesen als: Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH. Gebunden mit Schutzumschlag und Lesezeichen, 513 Seiten, ISBN 978-3-8052-0106-3. 25,–€
Über den Autor: Herzog (Pseudonym von Rolf H. Dorweiler)(*1973 Nastätten/Taunus) studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Köln und lebte anschließend im Südschwarzwald, wo er zunächst als Redakteur einer Tageszeitung arbeitete, bevor er von seinen historischen Romanen und Krimis leben konnte, die er unter dem Namen Dorweiler verfasste. „Aktion Phoenix ist der erste Roman unter dem Pseudonym. Inzwischen lebt er in Bad Pyrmont.
Inhaltsangabe: Sowohl eine Widerstandsgruppe im nationalsozialistischen Deutschland als auch eine Verschwörergruppe zur Rechtfertigung des bevorstehenden Holocausts versuchen unter dem Namen Phoenix, die Olympischen Spiele 1936 und den Zeppelin LZ129 „Hindenburg“ für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Nichts davon klappt (wie wir wissen). Die Konsequenzen für die handelnden Personen sind erwartungsgemäß erheblich und lassen Raum für Fortsetzungen.
Anlass der Lektüre: Wegen des Titelbildes und des Waschzettels gekauft.
Bewertung: Spannende Lektüre. Die Handlung fügt sich glaubhaft in die historischen Tatsachen ein, die nicht oft genug geschildert werden können. Positiv, dass der Autor selbst eine Stellungnahme vermeidet und stattdessen versucht, die Befindlichkeit von Mitläufern, Denunzianten, Karrieristen und Widerständlern im weitesten Sinn zu erfassen, auch wenn das Liebesverhältnis etwas konstruiert daherkommt. Ich finde es allerdings problematisch, wenn hochprominente Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, in diesem Fall Hitler, Goebbels und Riefenstahl, scheinbar vollständig geschildert, in fiktionaler Trivialliteratur vorkommen, noch dazu, wenn sie sich in ihren historischen Objektivationen als Unmenschen disqualifiziert haben (ok, Riefenstahl war vielleicht kein Unmensch, aber sie hat mit den Löwen gebrüllt und reichlich zu ihrer Glorifizierung beigetragen).