Meine Lektüre im vierten Quartal 2021
Berlin, 02. Januar 2022 (ssl) Es sollte eigentlich gar kein fünfter Teil meiner gesammelten pandemischen Leseerfahrungen mehr erscheinen, denn ich hatte gehofft, dass ich das Wort „pandemisch“ aus dem Leadsatz streichen könnte. Nun habe ich zwar die dritte Impfung hinter mir, hatte vor kurzem sogar eine Begegnung der dritten Art: Meine Corona-Warn-App zeigte Rot. Ein anschließender Test mit negativem Ausgang und das Ausbleiben der Symptome beruhigten mich aber wieder.
Allein: Das Gefühl des coronafreien Aufbruchs, das ich nach der zweiten Impfung hatte und mich freudig in den Frühling genießen ließ, stellte sich jetzt nicht wieder ein. Weniger, weil das Wetter sich auf Novembergrau beschränkte, sondern hauptsächlich, weil die anhaltende Pandemiesituation so aussichtslos scheint angesichts -zigtausender neuer Infektionen täglich und der Ratlosigkeit aller Entscheiderinnen und Entscheider. Selbst eine Impfpflicht, für die ich nachdrücklich stimmen würde, wenn mich jemand fragte, trägt ja nur wenig zur Linderung der aktuellen Lage bei. Kurz und gut: Nach zwei, drei Museumsbesuchen, einer Weihnachtsfeier in Restaurant und Kneipe ist wieder der Rückzug in den Lesesessel angesagt, unterbrochen von mehrmaligen Fahrradtouren pro Woche, und deshalb wird die Leseliste fortgeführt.
Die Liste beginnt mit einem Bestseller, nämlich dem jüngsten Astérix-Comic, und geht weiter mit einem Werk nur für Feinschmecker aus meiner Studentenzeit. Am Schluss steht ein Leckerbissen für Fans historischer Satiren: Adolf Glaßbrenner, der literarische Vater von Figuren wie dem Guckkästner oder Herrn Buffey.
Wie immer, ist die Auswahl der Bücher mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Natürlich lese ich keine Bücher zu Themen, die mich überhaupt nicht interessieren, oder Romane, die mir schon vom Klappentext her nichts zu bringen scheinen. Meine Auswahl wird bestimmt durch das Bedürfnis, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Oder Neugier. Oder eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen auffällt. Oder ich greife mir aus meinen überfüllten Regalen eins, das ich schon immer mal lesen wollte. Die ersten vier Teile mit jeweils elf Buchbesprechungen mit Bewertungen – finden die Leser hier, hier, hier, und hier, und in diesem Beitrag stehen die nächsten sechs, damit wir die 50 voll kriegen.
(45) Ferri, Jean-Yves, und Conrad, Didier: Asterix und der Greif
Heute lieferbar: 2021 Les Éditions Albert René, Verlegt von Egmont Ehapa Media GmbH, Gütersloh. 48 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-7704-2439-9, 6,90 Euro
Inhaltsangabe: Cäsar will einen Greif haben, ein Fabelwesen mit Zutaten eines Raubvogels und eines Pferdes (eigentlich Hippogryph, man erinnere sich an den Hippogryph der antiken Mythologie und den Hippogreif aus „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“), weil ihn eine entsprechende Abbildung auf einer Amphore fasziniert, und sendet eine Kohorte in Richtung Osten weit jenseits des Limes im kalten, schneereichen Sarmatien zwischen Weichsel und Wolga, wo es welche geben soll. Wie der Zufall so will, sind auch Miraculix, Asterix und Obelix in der Region unterwegs, weil Miraculix einem befreundeten Druiden aus einem sarmatischen Dorf mit Zaubertrank aushelfen will. Wir ahnen alle, wie es ausgeht. Die Kohorte scheitert schmerzhaft, und am Ende wird gefeiert.
Anlass der Lektüre: Leihgabe meines Sohnes, der um meine Vorliebe für Asterix-Abenteuer weiß. Sie gibt es seit 1965, als ich das erste Mal zum Schüleraustausch in Frankreich war und mein Austauschschüler die Bücher verschlang und auch mich dafür begeisterte. Meine damals guten Französisch- und Lateinkenntnisse ließen mich den speziellen Humor von Goscinny und Uderzo schnell verstehen, und besonders „Le Tour de Gaule“
empfinde ich nach wie vor als hervorragenden Ersatz für drei Semester französische Landeskunde.
Bewertung: Verglichen mit den alten Comics, enttäuscht dieser vom Text her. Ich werde das Gefühl nicht los, dass der Text politisch korrekt weichgespült wurde. Wenn überhaupt, finden wir nur noch sehr flache Späße, die jeder Subtilität entbehren. So unterscheidet sich die Schrift der Sarmaten lediglich durch ein gespiegeltes „E“ von der der Gallier und Römer. Als regionalen, von Obelix nicht estimierten Genuss gibt es vergorene Stutenmilch, und auch der Greif kommt nur als hölzerner Artefakt vor. Zeichnerisch ist die Nachfolge von Uderzo allerdings gelungen. Fazit: Lieber noch mal „Le Tour de Gaule“ oder „Asterix als Gladiator“ lesen. Nach mehr als einem halben Jahrhundert gibt es da wieder Altes zu entdecken.
(46) Hermand, Jost (Hrsg.): Von deutscher Republik 1775-1795. II. Theoretische Grundlagen
Gelesen: Frankfurt am Main: Insel Verlag 1.-4. Tausend 1968. Sammlung Insel 41/2. Heute nur noch antiquarisch erhältlich.
Inhaltsangabe: Das Buch, geschrieben zur 68-er Zeit, versammelt historische Texte deutscher Klassiker und Theoretiker von Lessing bis Kant, aber auch Knigge, über eine zu errichtende republikanische Gesellschaft auf deutschem Territorium. Sowohl Grundlagen als auch Perspektiven werden mit erstaunlicher Präzision dargelegt, und die Vorstellungen gehen von grundlegendem Umsturz bis zur Bevorzugung eines Freistaats, wie es sie in Ansätzen damals schon gab, gegenüber einer Monarchie.
Über den Autor: Jost Hermand (1930 Kassel – 09. Oktober 2021 Madison, Wisconsin) war ein deutscher Germanist, der in den USA lehrte. Nachruf hier. Er hatte von Richard Hamann den Auftrag für sein Hauptwerk: „Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus“ aus der DDR von der Humboldt-Universität angenommen, musste Ostdeutschland aber nach dem Ideologiewechsel verlassen, bekam auch in der alten Bundesrepublik keine Chance, sich zu habilitieren, und nahm deshalb eine Professorenstelle an der Universität von Wisconsin an, von wo aus er das fünfbändige Werk vollendete.
Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.
Bewertung: Interessante Einblicke in die politische Gedankenwelt der deutschen Avantgarde zu einer Zeit, da an der Ostküste Nordamerikas und in Frankreich die ersten Republiken der Neuzeit entstanden.
(47) Verfuß, Chris, und Erdmann, Felix (Hg.): Mondnacht – Fünf vor Zwölf. Antworten auf die Klimakrise.
Lieferbar: Berlin: Trabanten Verlag 2021, 560 S., Hardcover. ISBN 978-3-9822649-7-4, 24,– €
Inhaltsangabe: 21 aktuelle Essays zur Klimakrise, ergänzt um klassische Gedichte.
Anlass der Lektüre: Angebot des Verlages zur Rezension.
Ausführliche Bewertung hier . Ein Buch mit politischen Artikeln über die Anforderungen des Klimaschutzes brauche ich nicht mehr, kenne ich, akzeptiere ich. Einige Beiträge haben mir trotzdem weitergeholfen, aber die Gedichte fand ich auch sehr interessant.
48) Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg: Antoine Watteau – Kunst-Markt-Gewerbe
Heute lieferbar: Hirmer Verlag München 2021, 274 S., Gebunden, zahlreiche Abbildungen. ISBN 978-3-7774-3786-6. 39,90 €
Inhaltsangabe: Begleitband zu der gleichnamigen Ausstellung „Das Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint“ im Schloss Charlottenburg. Das gleichnamige Gemälde ist ein zentrales Werk Watteaus, und Ausstellung wie Begleitband stellen es in den historischen kommerziellen Kontext und beleuchten seine Wirkungen bis in die Gegenwart.
Anlass der Lektüre: Besuch der Ausstellung (empfehlenswert, dauert noch bis 09. Januar 2022).
Bewertung: Einer der besten Kunstbände, die ich gelesen habe. Die Autoren erklären nicht nur, wie ein professioneller hochgeschätzter Kunstmaler seine Werke erstellt und ins damalige Kunstmarketing in den höchsten Kreisen integriert. Das Buch erklärt unter anderem, wie sich die Kunde der Bilder so im Mitteleuropa des 18. Jahrhunderts verbreitete, dass Könige es kaufen wollten. Friedrich der Große war ein Liebhaber der Werke Watteaus und trug durch den Erwerb zahlreicher Produkte dazu bei, dass in seinen Schlössern heute neben Paris die größte Anzahl seiner Werke zu besichtigen ist, darunter die berühmtesten wie die „Einschiffung nach Kythera“ und eben dieses Ladenschild, das nur kurz an der Kunsthandlung hing, für die es Reklame machen sollte. Wer frühere Marketingmethoden kennen lernen und wissen will, was hinter den Gemälden steckt und wie sich ihre Rezeption unter den Zeitgenossen ausbreitete („Wie bekam Friedrich der Große Kenntnis von den Gemälden, die er später kaufte?“), für den ist das Buch eine Fundgrube. Die ausgezeichnete Wiedergabe der Details der Bilder lohnt ebenfalls das genaue Hinschauen.
(49) Dronke, Ernst: Berlin
Gelesen: Nachdruck, Darmstadt und Neuwied: Sammlung Luchterhand 1974. 430 Seiten, Taschenbuch, zahlreiche s/w-Abbildungen. ISBN 3-472-61156-1, DM 14,80
Erstdruck: Frankfurt am Main 1846
Heute lieferbar: Die Andere Bibliothek, Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2019, bibliophile Ausgabe, 416 Seiten, Leinen, ISBN 978-3-847700210, 30 €
Inhaltsangabe: Reportagenhafte Beschreibung der beklagenswerten gesellschaftlichen Verhältnisse im Vormärz-Berlin aus idealistisch-kommunistischer Sicht.
Über den Autor: Dronke (1822 Koblenz – 1891 Liverpool) war ein junghegelianischer Schriftsteller, der zeitweise mit Marx und Engels im Exil mitarbeitete, mit denen er sich aber in den 1860-er Jahren überwarf. Wenige Jahre vor der 1848-er Revolution in Deutschland kam er für zwei Jahre nach Berlin, und veröffentlichte anschließend in Frankfurt das „Berlin“-Buch. Es ist kein Roman, sondern Beschreibung, Analyse und heftige Kritik der despotischen Klassengesellschaft im Preußen der Vormärz-Zeit. Dronke wurde im Anschluss an die Veröffentlichung verhaftet wegen Verspottung der Landesgesetze, Majestätsbeleidigung und ähnlich fragwürdiger Gesetze zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Ihm gelang die Flucht aus der Festung Wesel nach Brüssel. Später exilierte er nach England. Seine politischen Ansichten fußen auf einer graswurzelähnlichen Verfassung der Urgesellschaften und prangern den Antagonismus zwischen Besitz und Besitzlosigkeit als Grundübel aller Herrschaft an. Marx und Engels (und viel später auch der stalinistische Teil der DDR-Literaturwissenschaft) warfen ihm kleinbürgerliches Kommunismus-Verständnis vor. Nachdem er sich von den Kommunisten entfremdet hatte, beschloss er sein Berufsleben in Liverpool als Agent einer Kupferminengesellschaft. https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Dronke_(Schriftsteller)
Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.
Bewertung: Aufschlussreiche Beschreibung der vormärzlichen Zustände im Königreich Preußen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere der mangelnden Pressefreiheit und der Undurchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten, die nach Dronkes Lesart ursächlich für alle Missstände dieser Jahre, vor allem auch der Eigentumskriminalität sind. Er schafft es vor allem in der Mitte des Buches – wenn er von der Reportage weg zu historisch-soziologischen Ideen geht – nicht immer, den Leser mitzunehmen, weil seine historische Ableitung der Zustände hin und wieder recht phantasievoll scheint. Siehe auch folgende Bücher (#50).
(50) Glaßbrenner, Adolf: Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe in drei Bänden, Band 1. Herausgegeben von Horst Denkler, Bernd Balzer, Wilhelm Große, Ingrid Heinrich-Jost. Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg 1981. Drei Leinenbände im Schuber, ca. 1000 Seiten. ISBN 3-7633-2636-2.
Heute lieferbar: Die dreibändige Ausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich, aber einzelne Sammelbände mit Volkskalender-Ausgaben, Guckkästner- und Herr Buffey-Sketchen gibt es im aktuellen Angebot. Einige Werke sind im Internet bei der Edition Gutenberg verfügbar.
Inhaltsangabe: Kommentierte Ausgabe wichtiger Werke des Vormärz-Schriftstellers.
Über den Autor: Georg Adolph Glaßbrenner (1810 Berlin – 1876 ebd.) war ein Satiriker und Schriftsteller. Er wurde bekannt mit satirischen Sketchen in Groschenheften aus dem Berlin der Vormärz-Zeit der 1830-1840-er Jahre, die ein sehr großes Publikum erreichten. Mehrmals lieferte er sich, nicht immer erfolgreich, Katz- und Maus-Spiele mit der Zensur in Preußen. Seine Charaktere wie Herr Buffey oder der Guckkästner trugen sehr dazu bei, das Image des Berliners mit Schnauze zu verbreiten.
Anlass der Lektüre: Stand weitgehend ungelesen im Bücherregal.
Bewertung: Passt gut im Anschluss an Dronkes „Berlin“ (#49), der ihn wenig schätzte. Im Gegensatz zu Dronke würde ich rund 175 Jahre später die Lektüre zumindest der Berliner Volksstücke aus den Groschenheften nachdrücklich empfehlen, denn Glaßbrenners Humor vermittelt sich auch heute noch. Es macht wesentlich mehr Spaß, ihn zu lesen als Dronkes Buch.. Dank der wissenschaftlichen Kommentierung verhilft die Lektüre auch dann zum Schmunzeln, wenn der Leser nicht total vertraut mit der Geschichte der deutschen Restauration ist. Die Lektüre zeigt auch, wie sich Autoren mal mehr, mal weniger erfolgreich bemühten, der Zensur ein Schnippchen zu schlagen. Glaßbrenner fühlte sich ein Leben lang zwischen den Stühlen der Verbrauchslektüre für alle und der höheren Literatur. Zeitweise wurde er mit den Vertretern letzterer in einem Atemzug genannt, aber der Ruhm war zu Recht vergänglich, und wer die Werkausgabe nicht kaufen kann oder mag, sollte sich auf „Berlin, wie es ist – und trinkt“ und die anderen „Volkswerke“ konzentrieren.