Ein leichtfertiges Versprechen

Plädoyer für eine Impfpflicht gegen das Corona-Virus

Wer jemals ein paar Tage auf der Intensivstation verbracht und überlebt hat, kann die Diskussion um die Impfpflicht nicht verstehen. Ganz abgesehen von körperlichen Schmerzen oder Unbehaglichkeiten durch den Anschluss von Sonden und Schläuchen überall, potenzieren sich bei dem Menschen in diesem Bett und bei seinen Angehörigen Ängste um das Leben oder die körperliche Unversehrtheit, wenn sie denn überhaupt in Gänze wiederhergestellt werden kann. Einmal genesen, wird der Patient alles tun, um nie wieder in diese Situation zu kommen, erst recht, wenn es sich nur um einen kleinen kostenlosen Stich in der Oberarm handelt.

Aber auch ohne diese Erfahrung wird es immer abstruser. Ja, die Bundesregierung hat zu Beginn der Pandemie einen schweren Fehler gemacht, indem sie versprach, es werde keine Impfpflicht geben. Es war ein Versprechen wie so viele, die gemacht werden, ohne vom Ende her zu denken. Die bei Journalisten verhasste Antwort: „Diese Frage stellt sich (noch) nicht“, wäre aus heutiger Sicht weit besser gewesen.

Hinterher ist man immer schlauer. Aber ein Blick in die Rechtsprechung hätte auch schon vor einem Jahr geholfen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hat der Gesetzgeber eine Masern-Impfpflicht für bestimmte Bevölkerungsgruppen mit der Begründung durchgesetzt, die Situation lasse keine andere Möglichkeit zu, nachdem alle Versuche, die Impfquote freiwillig zu erhöhen, nicht zum nötigen Erfolg geführt hätten.

Die derzeitige Corona-Situation dürfte der damaligen Masern-Bedrohung mindestens vergleichbar sein. Dazu kommt, dass die Diskussion um den Sinn des Impfens jetzt hinreichend ausführlich geführt worden ist. Sie hat keine hinreichende Verbesserung des Impfwillens gebracht. Es wird Zeit für mutige Maßnahmen.

Noch in den 1950-er Jahren wurde die deutsche Bevölkerung gegen Pocken durchgeimpft. Grundlage war ein 1874 unter Reichskanzler Otto von Bismarck erlassenes Gesetz, das abzuschaffen bis zur Ausrottung der tödlichen Krankheit niemand ernsthaft in Erwägung zog. Nennenswerte negative Folgen sind nicht bekannt. Schon 1975 in einem anderen Zusammenhang, hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, „im äußersten Falle“ Mittel des Strafrechts einzusetzen, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann. Gemeint ist jetzt nicht der Schutz den Schutz der körperlichen Unversehrtheit einer Minderheit vor unbewiesenen oder statistisch zu vernachlässigenden Folgen einer Impfung, sondern der Schutz der körperlichen Unversehrtheit einer Mehrheit vor erwiesenen Akut- und Langzeit- beziehungsweise tödlichen Folgen des Corona-Virus.

Natürlich müssen Bund, Länder und Kommunen zugleich alles tun, um die Verfügbarkeit von Impfstoff und Impflokalitäten zu sichern. Und zu guter Letzt: Wenn fast alle geimpft sind, hören auch die Klagen der Wirtschaft über drohende Insolvenzen auf.

(Transparenzhinweis: Dieser Beitrag ist zuerst in der „Nürnberger Zeitung“ vom 23. November 2021 erschienen.)