Digitale Rangierbahnhöfe sollen DB Cargo beim Wettbewerb mit dem Lkw helfen
– München Nord als digitales Testfeld
– Automatische Kupplung als Herzstück der Erneuerung
München, 9. Juni (ssl) Verkehrsminister Andreas Scheuer und DB-Cargo-Chefin Sigrid Nikutta leuchten orange vom Bug der gut 50 Jahre alten Rangierlok. Sie wollen an der Spitze sein bei der Digitalisierung des Schienengüterverkehrs, insbesondere des Einzelwagenverkehrs. Die weitgehende Automatisierung und Beschleunigung der Prozesse beim Sortieren der Güterwagen ist eine wesentliche Bedingung, um das Jahrzehnte alte Ziel „Mehr Güter auf die Schiene“ endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Der Rangierbahnhof München-Nord soll den Anfang machen.
Minister und Managerin präsentieren sich ganz in DB-Schutzkleidung und machen sich auch gleich an die Arbeit: zwei Waggons nach alter Sitte entkuppeln. Nikutta drückt dem neuen Kollegen die Schraubenkupplung in die Hand: „Herr Scheuer, jetzt lächeln!“ Der Minister hält die 20 Kilo Stahl zwischen den Puffern hoch und ächzt: „Fällt schwer“, schafft dann aber doch ein Schmunzeln.
Der Einzelwagenverkehr, dessen Züge die Hauptarbeit im Rangierbahnhof ausmachen, muss zunehmen, sonst klappt die Verkehrswende nicht. Er ist schon lange das ungeliebte, weil defizitäre Kind der Frachtsparte der Deutschen Bahn. Der Lkw ist bei kleineren Mengen und Stückgut unterhalb des Containervolumens einfach flexibler. Nur mit intelligenten Modellen und Strukturen kann die Schiene wenigstens auf langen Strecken konkurrenzfähig werden.
Die Züge, die von Kunden aus verschiedenen Ecken Europas kommen, müssen mehrfach neu sortiert werden, um zu anderen Kunden in anderen Gegenden zu gelangen. Im Gegensatz zu Ganzzügen, die sozusagen an einem Stück von A nach B, also etwa von einem Autowerk zu einem Hafen fahren, erfordern sie daher umfangreiche Bearbeitung in Rangierbahnhöfen auf der Strecke. Hier werden Züge auseinander gekuppelt und in anderer Wagenfolge wieder zusammengestellt.
Der Einzelwagenverkehr hat aber mit der Klimadebatte neues Momentum bekommen. Bis vor einigen Jahren schlug die Rentabilitätsfrage im Schienengüterverkehr stets die Umweltfrage. Nun sollen aber auch diese Transporte verstärkt für den Schienengüterverkehr gewonnen werden.
Dafür muss es bei der Bürokratie, vor allem aber auch beim Handling schneller gehen. „Prozessgeschwindigkeit erhöhen, heißt: Mehr Züge im Rangierbahnhof, heißt: Mehr Güter auf die Schiene“, bringt es Nikutta auf eine einfache Formel. Die Kapazität könne um 40 Prozent gesteigert werden, was gerade in München wichtig wird. Hier kreuzen sich die Ost-West-Magistrale von Paris nach Bratislava und der Korridor von Nord- und Ostsee über (und ab 2032 durch) den Brenner nach Südeuropa. Bundesweit gibt es neun derartige Rangierbahnhöfe. Maschen südlich von Hamburg ist der größte Europas.
Vor dem Sortieren löst ein Rangierer die Bremsschläuche und die schwere Schraubenkupplung und schließt sie am Schluss der Prozedur wieder. Pro Zug wird diese athletische Übung bis zu 50 Mal fällig, egal ob es minus 20 Grad kalt oder 30 Grad heiß ist, egal ob es regnet oder schneit. „Pro Schicht sind wir auf jeden Fall im dreistelligen Bereich“, sagt Rangierer Nuri Eryilmaz. Außerdem prüft er die Bremsen, den GPS-Tracker und das Äußere jedes Waggons auf eventuelle Schäden.
All diese Prozesse sollen nun digitalisiert werden. 14,5 Millionen Euro Förderung kommen aus Scheuers Ministerium, die Bahn selbst investiert zwölf Millionen. Es beginnt mit Lokomotiven, die eines Tages autonom die ankommenden und entkuppelten Züge den Ablaufberg hinaufschieben sollen. Schon heute sind sie, obwohl vielfach aus den 1970-er Jahren, teilautomatisiert.
Sind die Waggons übern Berg, sortieren sie sich einzeln oder in Gruppen in die verschiedenen Richtungsgleise. Dabei soll sie schon ab Sommer eine Kamerabrücke beobachten. Sie liefert hochauflösende Bilder, aus denen Rangierer am Monitor sehen, ob die Waggons intakt sind. Auch dies einschließlich des Erkennens von Schäden wird künftig künstliche Intelligenz übernehmen. Digitalisiert werden auch die vorhandenen automatischen Bremsen im Gleis und Weichen für die Richtungsgleise. Schließlich wird auch noch die für jeden ausfahrenden Zug vorgeschriebene Bremsprobe automatisiert. All das soll schrittweise bis 2023/24 Wirklichkeit werden.
Das Wichtigste dauert aber noch etwas länger: die digitale automatische Kupplung (DAK), über die schon seit Jahrzehnten in fast ganz Europa diskutiert wird. Bezeichnenderweise war zum Termin mit Scheuer und Nikutta keiner der bereits mit solchen Kupplungen ausgerüsteten Waggons vor Ort, obwohl es bereits einige davon gibt. Nikutta selbst hat das System vor einem Dreivierteljahr präsentiert. Sie erleichtert nicht nur den Rangierern die Arbeit, sondern bietet als Nebeneffekt durchgehende Stromversorgung und einen Datenbus für den ganzen Zug.
Da die Waggons europaweit austauschbar sein müssen, haben die einmaligen Kosten von sechs bis acht Milliarden Euro für knapp 500.000 Güterwagen und 17.000 Lokomotiven bisher nennenswerte Fortschritte verhindert, obwohl eine Ministeriumsstudie das Einsparpotenzial auf jährlich 600 bis 700 Millionen beziffert. Aber auch hier bewegt sich laut Scheuer etwas. So soll noch in diesem Jahr ein „Demonstratorzug“ mit bereits entwickelten Prototypen in Europa Reklame für das System fahren. Die Deutsche Bahn und Scheuer hoffen, dass die ersten DAK-Züge bis 2028 fahren.
Das ist auch dringend nötig. Nur mit einem Bündel von Maßnahmen kann der Marktanteil der Schiene im Güterverkehr von jetzt knapp 18 auf 25, wie es der Masterplan Schiene der Bundesregierung vorsieht, oder besser auf die EU-Vorgabe von 30 Prozent 2030 gesteigert werden. Das bedeutet laut DB Cargo 30 Millionen Lkw-Fahrten oder zehn Millionen Tonnen CO2 pro Jahr weniger.