Von überfüllten Talenten und Old-School-Abteilen

Bahn fahren kann so spannend sein

Berlin/Hamburg, 11. August (ssl) Berlin Hauptbahnhof, 10. August, 17.00 Uhr. Feierabend. Mit dem Fahrrad will ich zum Bahnhof Wannsee mit der Bahn fahren. Der Fahrplan bietet bis 17.17 Uhr zwei S-Bahnen an, dazu kommt um 17.11 Uhr der RE1 Richtung Magdeburg und um 17.15 Uhr der RE7 Richtung Dessau. Die Entscheidung fällt für den RE1, weil der am schnellsten in Wannsee ist und weil er (Ferienzeit) wahrscheinlich nicht besonders voll ist. Draußen sind 35 Grad. Im Schatten. Bei einer Abfahrt nach 17.20 Uhr wird es knapp, um die Fähre in Wannsee um 18.00 Uhr noch zu erreichen. Nettofahrzeit laut Fahrplan mit der S-Bahn ca. 26 Minuten, mit dem Regionalexpress ca. 16 Minuten.

17.08 Uhr, eine S-Bahn habe ich bereits wegfahren lassen. Gleis 13. Hier soll der RE1 abfahren. Die Zugzielanzeige am Bahnsteig ist allerdings ausgefallen, sodass sich das nicht ohne weiteres verifizieren lässt. Doch da kommt die vielversprechende Ansage: „Auf Gleis 13 hat Einfahrt der RE1 … nach Magdeburg.“ Na prima.

17.14 Uhr. Gleis 13. Der RE1, üblicherweise aus sechs geräumigen Doppelstockwagen bestehend, ist noch nicht da. Es gibt aber eine Ansage: „Sehr verehrte Fahrgäste, der RE7, fahrplanmäßige Abfahrt 17.15 Uhr auf Gleis 14 nach Dessau, fährt heute ausnahmsweise von Gleis 13.“ Nun gut, nehmen wir halt den anderen. Es hat sich schon eine gewisse Menschenmenge auf dem Bahnsteig angesammelt.

17.17 Uhr, Gleis 13. (Auf Gleis 16 ist gerade die zweite S-Bahn abgefahren, die letzte, mit der die Fähre noch hätte erreicht werden können.) Durchsage: „Meine Damen und Herren auf Gleis 13: Der RE1 nach Magdeburg, planmäßige Abfahrt 17.11 Uhr, verzögert sich heute um etwa 15 Minuten.“ Wie man es macht, ist es verkehrt.

17.18 Uhr, Gleis 13. Der RE7 nach Dessau, ein einstöckiger, normalerweise siebenteiliger Talent-2-Triebzug, hat heute nur vier Teile. Entsprechend voll ist er, als er auf Gleis 13 einfährt. Er wird doppelt so voll, und Fahrradfahrer werden mit ganz besonderer Begeisterung empfangen. Die Klimaanlage scheint zu funktionieren, wirkt aber nicht. Der Mann neben mir fragt höflich, ob er seinen Rucksack auf meinem Gepäckträger abstellen darf.

17.25 Uhr: Der Zug hat sehr lange Aufenthalt am Bahnhof Zoo, wo wieder sehr viele Leute warten. Die meisten scheinen es glücklicherweise vorzuziehen, auf den geräumigen RE 1 mit möglicherweise 15 Minuten Verspätung zu warten. Die Türen schließen sich nur zögernd.

17.28 Uhr: Der Zug steht am Bahnhof Charlottenburg. Auch hier warten -zig Fahrgäste auf einen der drei Züge nach Westen. So muss es vor 25 Jahren gewesen sein. Die Türen gehen zwar auf, aber kaum jemand schafft es noch in den Zug. Alles voll. Fast verzweifelt erklärt eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher, dass die Fahrgäste doch bitte auch die S-Bahnen (vom anderen Bahnsteig) und den „gleich hinter uns kommenden RE1 (am selben Bahnsteig gegenüber) nutzen“ sollten. Die Türen schließen sich nicht, der Aufenthalt scheint sich ins Unendliche zu verlängern.

17.34 Uhr, immer noch Charlottenburg. Da kommt er auch schon, der verspätete RE1 in Richtung Magdeburg. Er hält am selben Bahnsteig gegenüber. Alle scheinen irgendwie erleichtert, gleichwohl steigt niemand um. Nur die, die noch am Bahnsteig standen und vergeblich versucht haben, in den zu kurzen RE7 zu kommen, gehen nach gegenüber und steigen in den noch nicht überfüllten RE1. Da kommt die Ansage: „Sehr geehrte Fahrgäste im RE7! Leider ist der Zug dermaßen überfüllt, dass die Sicherheit der Fahrgäste auf der folgenden Strecke nicht gewährleistet werden kann. Wir müssen daher 50 % von Ihnen bitten, den Zug zu verlassen, da wir sonst unsere Fahrt nicht fortsetzen können. Bitte nutzen Sie den RE1 am selben Bahnsteig gegenüber.“ Einige, auch ich, folgen der Aufforderung, nicht ohne wegen des sperrigen Fahrrads Murren hervorzurufen. Jetzt ist der RE1 auch überfüllt. Er bleibt noch ein bisschen stehen, weil immer wieder neue Fahrgäste dazukommen und den Türschließmechanismus blockieren. Schließlich fährt er los – vor dem RE7. Und ist um 17.48 Uhr in Wannsee. Die Fähre wartet schon, als ich runterkomme.

Berlin-Spandau, 11. August, 6.54 Uhr. Viel zu früh am Gleis 3 für den ICE 1616 nach Hamburg. Hatte einen Stau auf der B2 nach downtown Spandau einprogrammiert, der fiel aber aus. Ferienzeit. Auf der Rolltreppe aus dem Augenwinkel gesehen, dass er „geänderte Wagenreihung“ hat. Fährt der ICE nach Düsseldorf normalerweise in Doppeltraktion? Jetzt ist es nur ein Zug. Die Zugzielanzeige rät jedenfalls den Fahrgästen, die nach Köln wollen, bis Hamm mitzufahren und dort in den zweiten Zugteil, der in Berlin noch nicht dabei ist, umzusteigen. Er fährt mit knapp zehn Minuten Verspätung ab. Ähnlich spät wird es mit dem IRE nach Hamburg über Lüneburg, ok, das ist sowieso ein Billigzug. Danach ein IC nach Köln, der heute ausnahmsweise ohne die Wagen 16, 17 und 19 fährt. Fahrgäste nach Wolfsburg mögen sich doch bitte auf die anderen Züge verteilen, rät die Durchsage. Mein ICE hat eine geänderte Wagenreihung, und an den Sitzen sit die Reservierungsanzeige ausgefallen. Da er voll ist, erwarte ich schon eine einschlägige Diskussion. Sie kommt aber nicht, da mein reservierter Platz tatsächlich noch frei ist. Kaum sitze ich, schickt mir die Bahn einen Hinweis aufs Handy, dass mein Zug zehn Minuten Verspätung hat und ich in Altona nicht den vom DB Navigator empfohlenen Bus nach Finkenwerder kriege. Der Vollständigkeit und des Lobes halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass das WLAN auf der gesamten Strecke problemlos funktioniert.

09.30 Uhr, Hamburg-Altona. Der Zug kommt mit zehn Minuten Verspätung an. Ich kriege nicht den vom DB Navigator empfohlenen Bus nach Finkenwerder. Glücklicherweise fährt schon in sieben Minuten ein weiterer Bus. So reicht die Zeit noch, ein Frühstückscroissant zu kaufen. Mein Terminplan in Finkenwerder war vorausschauend mit einem 40-minütigen Zeitpuffer konzipiert. Alles wird gut.

15.20 Uhr. Im „Eilbus“ E 86 (der hält nur an der Endstation Bahnhof Altona, schick!) vom Anleger Teufelsbrück nach Hamburg-Altona versucht, einen Platz im IC 2071 ab Altona 16.15 Uhr zu reservieren. Der DB Navigator erklärt sich dazu außerstande und rät zu einer anderen Verbindung. Der Zug wird doch nicht überfüllt sein, so wie der RE7 gestern? Ich hatte mir für die Rückfahrt extra einen IC ausgesucht, weil er es mir auf die halbe Stunde diesmal nicht ankam und ich old school fahren wollte. Außerdem kann man da gemütlicher auf dem Laptop schreiben. Steckdose und WLAN brauche ich erst mal nicht.

15.45 Uhr. Ich ziehe eine Nummer im DB-Kundencenter in Altona und versuche, den Platz dort zu reservieren. Zwölf Kunden sind vor mir. Ja, ob ich nun hier sitze und warte oder auf dem Bahnsteig, ist ja auch egal.

16.01 Uhr. Ich bin dran. Die Dame am Schalter fragt noch: „Erste oder Zweite Klasse?“ Ich: „Zweite.“ Sie nach kurzem Tippen und Blick auf den Monitor: „Da kann ich Ihnen nichts mehr reservieren. So kurz vor Abfahrt haben wir keinen Zugang mehr in das Reservierungssystem der IC-Züge.“

16.03 Uhr. Auf Gleis 12 steht der IC2071, Ziel Dresden, gebildet aus tschechischen Wagen mit einem tschechischen Speisewagen. Old school, aber voll klimatisiert, Kunstledersessel, Tischdeckchen, Wein- und Bierkarte, Speisekarte mit böhmischen Spezialitäten und dreiköpfiger Besatzung. Die Frage „Sind Sie schon im Dienst?“ wird bejaht. Da setze ich mich hin. Frage nach einem Fanta, weil es auch in Hamburg nicht ganz kalt war, die Sonne schien. Der Ober, weißes Hemd, schwarze Weste, wirkt zerknirscht. Tja, Fanta haben sie nicht, aber Pepsi Cola, Mineralwasser und Lipton’s Ice Tea Geschmacksrichtung Green Tea. „Das hätte ich gern!“ Der Ober, weißes Hemd, schwarze Weste, freut sich, dass er mir einen Gefallen tun kann, und bringt eine 200ml-Flasche dieses köstlichen Nektars. Schraubt sie auf und schüttet formvollendet 70 ml ins Glas. Schmeckt wirklich gut. Er ist noch nicht wieder zurück an seiner Küche, da ist sie schon leer. Als er zurückkommt, nimmt er eine Bestellung für eine weitere Flasche und ein Stück Honigtorte, noch nie gegessen, entgegen. Erst bringt er die zweite Falsche, die ist auch gleich leer, dann die Honigtorte, was ihm die Bestellung für die dritte Flasche einbringt. Bis kurz vor Dammtor ist alles erledigt, einschließlich Rechnung über 281 Kronen, 11,70 Euro plus Trinkgeld. Der Zug ist zu diesem Zeitpunkt gähnend leer.

Schicke Old-school-Vorhänge: Ein Intercity-Wagen der Tschechischen Staatsbahnen.
Schicke Old-school-Vorhänge: Ein Intercity-Wagen der Tschechischen Staatsbahnen.

 

16.19 Uhr. Auf dem Weg zu einem freien Fensterplatz komme ich an drei Abteilen vorbei, in denen jeweils die Fensterplätze von Hamburg bis Berlin reserviert sind. Das vierte ist der Anzeige zufolge vollkommen unreserviert und leer. Ich nehme Platz. Ordentlich gestärkte und gefaltete Vorhänge, bunte Plüschpolster, voll klimatisiert. Hinter dem Vorhang – wohlgemerkt, wir sind in der 2. Klasse – verstecken sich zwei vollwertige Schukosteckdosen. Gleich, in Hamburg Hauptbahnhof, steigen ein paar Leute ein. Und schon ist das Abteil voll. Dann kommt eine Dame, die hat angeblich den einen Gangplatz reserviert. Stand aber nichts draußen dran. (Wahrscheinlich sind die dazu nötigen Pappstreifen so old school, dass sie nicht mehr überall zu bekommen sind.) Mir egal, ich sitze ja auf dem Fensterplatz Nummer 76. Kurze Diskussion im Abteil, natürlich bekommt die Dame ihren reservierten Platz. Sie hat ja dafür bezahlt. In Büchen steigt wieder ein Herr ein. Er reklamiert den Fensterplatz Nummer 75 mir gegenüber. Stand auch draußen nicht dran, dass er reserviert gewesen wäre. Er kriegt ihn auch, nicht ohne Diskussion. Noch näher kommt mir die Gefahr an diesem Abend nicht mehr.

18.31 Uhr: Der Zug IC 2071 kommt mit sieben Minuten Verspätung in Spandau an. Alles wird gut. Im Supermarkt muss ich mir bald mal eine große Flasche Lipton’s Ice Tea, Geschmacksrichtung Green Tea, kaufen. In Berlin ist es eh wieder viel zu warm.