Der europäische Traum muss verteidigt werden
Genauso wie es den amerikanischen Traum gibt, der in der Verfassung der Vereinigten Staaten mit dem Begriff „Streben nach Glückseligkeit“ beschrieben wird, lebt auch Europa einen Traum, den Traum von Einigkeit und Recht und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, vor allem von Frieden für diesen geschundenen Kontinent.
Vor mehr als 30 Jahren begann dieser europäische Traum Wahrheit zu werden. Und die Völker lebten ihn eine Generation lang aus, ignorierten vieles, was nicht ins schöne Bild passte. Der Wohlstand stieg stetig vom Ural bis Gibraltar, Konfrontationen lösten sich auf, demokratische Regierungsformen und Achtung vor Menschenrechten bestimmten weitgehend das Leben, Nationen rüsteten ab, Verteidigungsbündnisse gaben kampflos auf oder versuchten es mit einem friedlichen Auftritt bis fast zur Selbstaufgabe. Verträge sollten diesen Zustand für immer absichern. Die Europa-Hymne und der zugehörige Text der „Ode an die Freude“ von Friedrich Schiller mit den zentralen Worten „Alle Menschen werden Brüder“ wurde zur bestimmenden Melodie aufgeklärter politischer Systeme. Darüber geriet ein anderer Sinnspruch desselben Autors in Vergessenheit: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“
Keine demokratische Dividende
Der böse Nachbar, eine Weltmacht mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, hat Europa jetzt mit Kanonendonner aus seinem Traum geweckt. Hinfällig geworden ist damit die Hoffnung, bei den einflussreicheren Staaten der Welt herrsche ein vertraglich abgesicherter Konsens darüber, dass mit Waffengängen nichts zu gewinnen, sondern nur alles zu verlieren sei, und dass der wachsende Wohlstand automatisch eine demokratische Dividende hervorbringe. Nach dem russischen Überfall Putins auf die Ukraine und seiner Drohung, auch den Westen notfalls nicht von kriegerischen Maßnahmen zu verschonen, gewinnt vielmehr die überwunden geglaubte Doktrin wieder an Gewicht, dass Frieden nur aus einer Position der Stärke heraus zu erhalten ist.
Die Nato-Streitkräfte müssen daher mindestens wieder auf einen Stand gebracht werden, der eventuelle Feinde nicht nur am Hindukusch, sondern gleich hier im Osten abschreckt. Wer sich nun darüber aufregt, dass seit Jahrzehnten die Streitkräfte vernachlässigt oder kaputtgespart worden sind, der heuchelt insofern, als dieser Weg von einer breiten Mehrheit der Bevölkerungen in den betroffenen Staaten befürwortet wurde. Nebenbei bemerkt: Der Umstand, dass der deutsche Verteidigungsetat gut zwei Drittel des russischen beträgt und die russische Armee mit einer Million Soldaten gerne als High-Tech-Streitkraft bezeichnet wird, wirft zugleich die Frage auf, wo das viele Geld für die Bundeswehr bleibt – doch nicht etwa in letztlich offenbar unergiebigen Beraterhonoraren?
Es war auch Willy Brandts Traum
Umfragen werden es bald zeigen: Die Öffentlichkeit dürfte sich nach dem Angriff und der Bedrohung auch Osteuropas durch Putin darüber einig sein, dass es gut für das Baltikum, aber auch für Deutschland ist, unter dem Schutzschirm des Nordatlantikpakts zu stehen. Deshalb ist es unabdingbar, die Bundeswehr wenn schon nicht auf-, dann mindestens zum Stand der Technologie auszurüsten. Wer sich jetzt, schon vor einer Bestandsaufnahme, gegen eine Erhöhung des Wehretats ausspricht wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, repräsentiert die letzten Reste einer realitätsfernen Russenfreundschaft der linken Politik. Er hat im wahrsten Sinn des Wortes den Schuss nicht gehört. Dann hört er eben das Echo aus Westeuropa, wie bereits bei der Frage der Waffenlieferungen oder der Ausgrenzung Russlands aus dem Swift-Abkommen: Wir erleben gerade eine Anpassung scheinbar in Stein gemeißelter Überzeugungen an die mörderische Realität Putins. Ohne diese Anpassungen lässt sich der europäische Traum nicht mehr realisieren.
Dass zusammenwachsen möge, was zusammengehört, war auch Willy Brandts Traum. Er lässt sich ganz offensichtlich nicht wehrlos verwirklichen, so traurig es ist, im Normalfall allein für die Abschreckungskulisse Milliarden ausgeben zu müssen, die anderswo auch dringend gebraucht werden. Aber Frieden und Freiheit sind die Verteidigung wert.
(Dieser Beitrag erschien in der „Nürnberger Zeitung“ vom 1. März 2022 als Leitartikel.)