Gerhard Rekels Biographie über „Monsieur Orient-Express“ Georges Nagelmackers
Berlin, 15. Oktober (ssl) Es gehört schon Mut dazu, noch ein Buch über den Orient-Express zu veröffentlichen. Die Literatur über das transeuropäische Netz von Luxuszügen und das zugehörige Verkehrsunternehmen „Compagnie Internationale de Wagons-Lits“ (CIWL) füllt bereits einige Regalmeter, weshalb viel Neues über die Welt der reichen und schönen Touristinnen und Touristen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht mehr zu recherchieren ist. Im Gegenteil, es ist bereits einiges hinzugedichtet worden, wenn wir nur an Agatha Christie oder Ian Fleming denken.
Gerhard J. Rekel hat als Sujet seines Buchs „Monsieur Orient-Express“ die noch nicht ganz so „ausliterarisierte“ Biographie Georges Nagelmackers‘ gewählt, der vor 150 Jahren, am 1. Oktober 1872, die „Compagnie Internationale de Wagons-Lits“ gründete. Damit wollte er sein Projekt realisieren, internationale Fernzüge ohne Rücksicht auf Grenzen von Nationalstaaten durch Europa fahren zu lassen.
Nagelmackers stand nicht vor der Herausforderung, sich aus ärmlichen Verhältnissen hocharbeiten zu müssen, sondern vor der, seine eigenen Ideen gegen den Willen seines Vaters, eines Bankiers und hochangesehenen Mitglieds der belgischen Oberschicht, durchsetzen zu müssen. Vater Edmond hielt die Ideen für wirtschaftlich nicht realisierbar, und es gab Phasen, in denen die Entwicklung der CIWL ihm recht zu geben schien. Ihre aktuellen Überbleibsel in den Händen verschiedener Investoren profitieren aber heute noch von der Vermarktung der einschlägigen Corporate Identity, auch wenn keine planmäßigen Luxuszüge mehr von London nach Istanbul fahren.
Die Biographie jedenfalls ist zeitweise auch ein Krimi. In ihr kommen zwar keine Morde, aber sehr wohl Potentaten vor, besonders der belgische König Leopold II. – das ist der mit der äußerst unrühmlichen kolonialen Vergangenheit im heutigen Zentralafrika. Nagelmackers profitierte von dem reisefreudigen Monarchen, zu dem er trotz der Distanz zu seinem Vater Zugang erhielt, weil er für die Realisierung seiner Pläne Beziehungen brauchte. Ohne das Geschick, notfalls auf Umwegen die kleinstaaterischen Bürokratien der jeweiligen Eisenbahnverwaltungen zu überwinden oder zu überzeugen, dass es letztlich auch in ihrem Interesse ist, solche Dienstleistungen im eigenen Land zu haben, hätte es aber trotzdem nicht funktioniert.
Die Lektüre ist amüsant bis spannend. Die Schilderung von Kindheit und Jugend Nagelmackers‘ kommt etwas gezwungen und mit einer Reihe von Wörtern wie „möglicherweise“ daher, weil wohl niemand daran dachte, sie in Tagebüchern festzuhalten, schon gar nicht Nagelmackers selbst, denn er hatte anderes zu tun in seinem nur 60 Jahre langen Leben. So ist Rekel auf Spekulationen angewiesen. Weil Nagelmackers 1905 starb, schildert das Buch nur die erste Hälfte der Entstehungsgeschichte des CIWL-Mythos. Über die Ära danach bis zum Ende des planmäßigen Orient-Express 1975 mit all den Geschichten aus den „Goldenen Zwanzigern“ muss der geneigte Leser sich daher in den vielen anderen Büchern informieren. Dieses Weiterlesen erleichtert Rekel mit einem ausführlichen Apparat. Ob er darüber hinaus den Fließtext wirklich mit Hunderten von Endnoten versehen musste, frage ich mich allerdings. Immerhin unterdrücken sie den Plagiatsverdacht von vornherein. „Monsieur Orient-Express“ ist ein ansprechend aufgemachtes Buch, das Lust zur Vertiefung in die Thematik macht.
Rekel, Gerhard J.: Monsieur Orient-Express – Wie es Georges Nagelmackers gelang, Welten zu verbinden. Wien: Kremayr und Scheriau GmbH & Co. KG 2022. Gebunden mit Schutzumschlag, zwei Karten im Vorsatz, zahlreiche Abbildungen. ISBN 978-3-218-01305-5. 25,– €