Ewald Webers Pflanzenbuch: Wo die wilden Pflanzen wohnen
Berlin, 03. Februar (ssl) Wussten Sie, dass es Rechtswinder und Linkswinder gibt? Im Gegensatz zu den HänderInnen beim Menschen sind bei den Schlingpflanzen die Rechtswinder die Ausnahme, also jene, die sich – wie der Hopfen – im Uhrzeigersinn um ihre Stütze herum hochwinden. Dies und andere botanische Details wild wachsender heimischer Pflanzen lernt, wer „Wo die wilden Pflanzen wachsen“ des Potsdamer Biologen Ewald Weber liest. In dem mit anschaulichen bunten Aquarellen und Schwarzweiß-Zeichnungen von Rita Mühlbauer ausgestatteten Buch nimmt er sich kleine und große, unscheinbare und geradezu gewaltige Pflanzen vor und erklärt, wo ihr Platz im Gefüge der Biosphäre ist beziehungsweise wo der Mensch in seinem Bemühen, die Welt zu kultivieren, ihnen einen Platz gelassen hat.
„Die ganze Lebensweise der Herbstzeitlose ist außergewöhnlich“, schreibt er etwa, bevor er erklärt, dass von dieser ebenso hübschen wie giftigen Pflanze weite Teile der Blüte unterirdisch bleiben. Dennoch entfaltet sie ihre blasslila Schönheit sehr auffällig auf der Herbstwiese, während die Blätter der Pflanze überhaupt erst im folgenden Jahr in Erscheinung treten.
Beiläufig und unaufdringlich thematisiert Weber die Schizophrenien des augenblicklichen Nebeneinanders von High-Tech-Strukturen und Natur- und Umweltschutz, etwa bei Pflanzen wie der Kornblume, die „einerseits auf der roten Liste stehen, andererseits in Unkrautlisten aufgeführt werden und dass es Bekämpfungsempfehlungen gegen sie gibt“. Zugleich erinnert er daran, dass es nicht nur heutige Generationen sind, die Konflikte wie diesen thematisiert haben. „Für Bauern waren Kornblumen auch früher nur lästig“, belegt er mit einem Gedicht aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Und manchmal berührt er damit auch persönliche Empfindungen, etwa wenn der Leser lernt, dass die Pflanze, die er wegen ihrer komplizierten Blüten am Uferrand immer sehr spannend fand, auf den unspektakulären, wenig attraktiven Namen „Drüsiges Springkraut“ hört und eine invasive Art ist, die eigentlich eher unerwünscht ist, zumindest in Süddeutschland, wo sie sich massenhaft ausbreitet.
Er klärt die LeserInnen auf, woher die ausgefallene Farbe der Birkenrinde kommt, räumt aber auch ein, dass die Forschung noch nicht wirklich weiß, warum: „Baumstämme brauchen sich … nicht zu tarnen, und wir können über die weiße Farbe nur spekulieren.“ Bei Bäumen allgemein erläutert Weber unaufgeregt, wie es dazu kam, dass heutzutage in Deutschland nur noch wenige – manche sagen: zu wenige – Buchenwälder existieren, dafür aber viele – viele sagen: zu viele – Fichtenwälder. Mindestens indirekt wirbt er für eine grundlegende Umgestaltung der Wälder, damit diese überlebenswichtigen Landschaften besser mit dem Klimawandel zurechtkommen. All das ist zwar nichts Neues, kann aber nicht oft genug gesagt werden. Deshalb ist das Buch nicht nur amüsant, unterhaltend und lehrreich, sondern auch – wie das Gift der Herbstzeitlose – in der richtigen Dosis heilsam. Es taugt auch als Bestimmungsbuch.
Ewald Weber: Wo die wilden Pflanzen wohnen. Geschichten über Kratzdistel, Besenginster & Co. 256 S., zahlreiche Illustrationen von Rita Mühlbauer. Hardcover, oekom Verlang München 2022. ISBN 978-3-962383435. 22 Euro (D).