Eine Million Kupplungen für wahre Europäer

Mammutprojekt zur Modernisierung des Schienengüterverkehrs gestartet

Minden, 31. August (ssl) Die Prozedur hat sich seit gut einem Jahrhundert nicht wesentlich geändert: Wer in Europa einen Güterzug zusammenstellen oder auseinandernehmen will, muss reichlich Muskelkraft mitbringen. Kuppeln bei der Bahn ist Schwerstarbeit. Das ist so, das war immer so. Jetzt soll es anders werden: digital und automatisch. Wie es gehen soll, zeigte DB Systemtechnik in Minden.

Zwei Vorstandsmitglieder der Deutschen Bahn machen sich für die Digitale automatische Kupplung stark: Sabina Jeschke, zuständig für Digitalisierung (links), und Sigrid Nikutta, Güterverkehrschefin. © alle Fotos: Thomas Rietig

Langsam schiebt die Rangierdiesellok des Typs „Köf II“ einen Güterwagen auf einen anderen. Ein Rangierer kriecht unter den Puffern hindurch in die Gleismitte, hebt die 20 Kilo schwere Stahlöse der Kupplung des einen Waggons auf den Haken des anderen, schraubt sie auf Spannung und verbindet die ebenfalls nicht gerade leichten Enden der Druckluftleitungen. Schon beim Zuschauen bekommt da mancher Rückenschmerzen.

Die wahren Europäer

Dass die aus der Zeit gefallene Prozedur immer noch Alltag ist, liegt daran, dass Güterwagen schon seit Jahrzehnten eigentlich die wahren Europäer sind. Sie sind bis tief in den ehemaligen Ostblock hinein frei austauschbar und müssen deshalb zueinander passen. Soll am Kupplungsprinzip etwas geändert werden, müssen alle Bahnen mitmachen. Das kostet viel Abstimmung und vor allem viel Geld, weil die Umrüstung („Migration“) in kurzer Zeit, wenn nicht gleichzeitig vonstatten gehen muss.

Jeder Probezug besteht aus drei Waggons: Einem offenen vierachsigen Güterwagen Eanos, einem geschlossenen zweiachsigen Güterrwagen Hbbins und einem langen vierachsigen Gaskesselwagen Zags, die jeweils besondere Eigendynamik aufweisen, wenn sie in Betrieb sind.

Dabei könnte es so einfach sein: Lok schiebt Wagen an Wagen, deren automatische Kupplungen schnappen wie bei der Modelleisenbahn ein, die Druckluftventile öffnen sich, und zahlreiche elektrische Stecker und Steckdosen verbinden sich ebenfalls automatisch. Gefördert von EU und Bundesverkehrsministerium, will ein internationales Konsortium unter Führung der DB Systemtechnik mit mehreren Probezügen bis Ende 2023 eine digitale automatische Kupplung (DAK) zur Serienreife bringen, die innerhalb von sechs Jahren in rund 500.000 Güterwaggons und 17.000 Lokomotiven europaweit eingebaut werden soll. DB-Digitalisierungsvorstand Sabina Jeschke scheute sich nicht, am Montag (31. August) in Minden bei der Vorstellung eines Testwagen-Trios von „einer digitalen Revolution für den Güterverkehr auf der Schiene“ zu sprechen.

Es ist ein Acht-Milliarden-Projekt, an dem Eisenbahningenieure schon seit Jahrzehnten tüfteln. Automatische, wenn auch nicht digitale Kupplungen sind in Amerika und Russland schon lange Standard. In West- und Mitteleuropa sind wegen der Kleinstaaterei und dem starken Kostendruck auf den Schienenverkehr frühere Versuche immer wieder gescheitert, wenn man von einigen Insellösungen absieht, etwa mit Erzzügen von norddeutschen Häfen zu süddeutschen Hüttenwerken. Sie fahren seit den 70-er Jahren mit einer Mittelpufferkupplung, die weitaus höhere Zuglasten erlaubt als die klassischen Schraubenkupplungen. Von Digitalisierung redete damals niemand.

Versuchszüge mit Prototypen

„Vielleicht ist es ganz gut, dass das damals gescheitert ist“, sagte DB-Güterverkehrschefin Sigrid Evelyn Nikutta, „denn so haben wir die Chance, die Digitalisierung gleich mit zu erledigen.“ Die Versuchszüge, die aus jeweils einem zweiachsigen geschlossenen, einem vierachsigen offenen und einem vierachsigen Kesselwagen bestehen, sind untereinander mit vier Prototypen verschiedener Hersteller gekuppelt, aus denen sich im Probebetrieb das beste Modell herauskristallisieren soll.

Zwei Waggons werden automatisch entkuppelt.

Dieser Wettbewerb bedeutet nicht, dass die unterlegenen Hersteller aus dem Rennen sind. Das Projekt ist nämlich so umfangreich, dass wahrscheinlich alle etwas von dem großen Kuchen abbekommen. In den sechs Jahren müssen sie jährlich 144.000 Stück produzieren. Dazu kommt die logistische Herausforderung, alle Kupplungen so einzubauen, dass immer genug Güterwagen für den täglichen Betrieb zur Verfügung stehen und Engpässe vermieden werden, weil Züge mit alten nicht mit Waggons mit neuen Kupplungen zusammen fahren können. DB-Systemtechnik-Geschäftsführer Hans-Peter Lang: „Es geht letztlich um eine Million Kupplungen, von denen das Stück mit 5000 Euro plus 2.500 für den Einbau und weitere 5.000 Euro für die unterschiedlichen Anwendungen pro Waggon zu Buche schlägt.“ Bei den Loks wird es noch teurer, denn sie sollen „Hybridkupplungen“ tragen, die sowohl alt wie neu kuppeln können.

Aber außer Kuppeln geht da noch viel mehr: Neben den Druckluft-Bremsleitungen setzt die DAK die Waggons auch unter Strom und verbindet sie digital. Zwar sind viele moderne Güterwaggons dank GPS-Modul schon jetzt weltweit zu orten, aber nun finden aktuelle Daten über Temperatur, Luftfeuchte und andere für sensible Ladung wichtige Parameter ebenfalls den Weg ins Internet. Und die Zugleitung weiß immer, ob am Zug irgendetwas defekt ist oder bald den Geist aufgibt und kann damit die Wartungseffizienz drastisch steigern. Und schließlich erlaubt sie auch schwerere und damit längere Züge. Die Anforderungen sehen eine Zugkraft von 1.000 Kilonewton und einen Druck von 2.000 Kilonewton vor; das erlaubt Züge bis zu knapp 6.000 Tonnen. Einer der berühmtesten extrem schweren Züge Deutschlands, der „Lange Heinrich“ der Bundesbahn in den 60-er und 70-er Jahren zwischen dem Emder Hafen und dem Ruhrgebiet, brachte es mit 50 Waggons und zwei „Jumbo“-Dampfloks auf 4.000 Tonnen.

Drei Waggons in der Klimakammer

Durch die Waggons geht eine 110-Volt-Leitung, die so gestaltet sein muss, dass „am Ende eines Zuges aus 50 Waggons noch 30 Watt ankommen“, wie Ulrich Meuser, der Leiter des Konsortiums, erläutert. Auf Fragen nach der Alltagstauglichkeit der doch recht filigran scheinenden elektrischen und digitalen Verbindungen an den Kupplungen antwortet er, die Probezüge sollen jetzt erst einmal auf eine TÜV-Süd-Teststrecke nahe Görlitz und dann in die Klimakammer der Systemtechnik in Minden. Die „Kammer“ ist immerhin so groß, dass sie einen ganzen Drei-Wagen-Zug fasst. Dort wird er Temperaturen zwischen minus 20 und plus 45 Grad ausgesetzt. Und wenn sie das überstanden haben, kommen sie auch noch nach Nordschweden.

 

Ulrich Meuser, Projektleiter DAK Europe, erklärt die digitale automatische Kupplung. Seine linke Hand liegt auf dem wahrscheinlich empfindlichsten Teil, dem weißen Rechteck mit den elektrischen Verbindungen. Direkt darunter das Ventil für die Druckluftverbindung. Die hier gezeigte Variante baut auf der Scharfenberg-Kupplung auf, die bereits im Personenverkehr genutzt wird. Man beachte das Fehlen der Puffer am Waggon. Das erspart Gewicht. Mehr als diese Ersparnis sollte die DAK samt Zubehör nicht wiegen, um die Nutzlast nicht zu verringern.

So kostspielig sich das Projekt liest, so groß ist die langfristige Rendite, die sich die Bahnen davon erhoffen. Das Zusammenstellen und Zerlegen der Züge geht deutlich schneller. Nikutta rechnete mit 40 bis 70 Prozent Zeitersparnis gegenüber dem althergebrachten Verfahren. Nur so könne die Güterbahn attraktiv genug werden, um der Straße Verkehrsanteile abzunehmen. „Jede Tonne, die auf der Schiene statt mit dem Lkw transportiert wird, spart 80 Prozent CO2“, sagte sie. Für ganz Europa schätzen die Bahnen den finanziellen Nutzen auf 760 Millionen Euro pro Jahr.

Wenn es klappt mit dem großangelegten Umbau. Nikutta zeigte sich immerhin optimistisch: „Wir haben genau das richtige Zeitfenster. Vielleicht ist es das einzige.“

Und hier noch die niedliche Rangierlok des Mindener Systemtechnik-Betriebs. Köf II, Baujahr 1960. Und zieht und schiebt immer noch …