Agrarmesse entwickelt sich von Mega-Theke zum ernst zu nehmenden Diskussionsforum
Berlin, 24. Januar (ssl) Was haben Kevin Kühnert und Julia Klöckner gemeinsam? Beide halten die Internationale Grüne Woche für ein ideales Diskussionsforum der Lebensmittel-, Agrar- und Forstwirtschaft einerseits und der Verbraucher andererseits. Die Messe, die am Sonntag 26. Januar zu Ende geht, war noch vor wenigen Jahren verschrien als Mekka für Freunde dumpfer Fress- und Sauforgien, hat sich zu einem Platz entwickelt, auf dem Informationen gesammelt, Argumente ohne Eifer und Zorn ausgetauscht und auch einmal vertieft werden können.
Zunächst ein Transparenzhinweis: Eine gewisse Parteilichkeit kann ich nicht bestreiten. Ich arbeite seit nunmehr sechs Jahren während der Grünen Woche für die Pressestelle der Messe Berlin. In dieser Zeit hat sich der Job von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme im wörtlichen Sinn zu einem gerne unternommenen Erkenntnisexperiment des Stadtmenschen entwickelt. Es setzt sich zusammen aus nahezu ununterbrochenen Messerundgängen, Gesprächen mit Standbetreibern vom mongolischen Jurtenaufsteller über den russischen Exportfachmann bis zum Juso-Chef und zur Bundeslandwirtschaftsministerin.
Auch wenn meine Frau und andere LeserInnen jetzt die Stirn runzeln sollten, muss gerade Klöckner ein wesentlicher Teil des Verdiensts an dieser Entwicklung zugeschrieben werden: Sie ist ja nicht nur gelernte Religionslehrerin, sondern auch gelernte Journalistin. Und sie war Weinkönigin. Sie kann PR, sie kommt aus dem ländlichen Raum (mit Sterne-Restaurant im Ort). Vor allem aber war sie diesmal die erste seit sechs Jahren, bei der sich die Leute fragten: „Übernachtet die auf der Grünen Woche?“ Es verging kein Tag, an dem sie nicht mehrmals auf der Bühne und an den Ständen auftrat und sich Argumente von Standesvertretern, von Verbraucherorganisation, von Ökobauern und Ernährungswissenschaftlern anhörte. Sie reichte allen gut 170 Produktköniginnen und –königen die Hand und motivierte deren Fans von der Bühne aus zu Beifall, plädierte immer wieder für Dialog. Sie schrieb den Bauern ins Stammbuch: „Wenn sich Entwicklungen nicht vermeiden lassen, sollte man sich an die Spitze setzen.“
„Hier werden Bezugspunkte geschaffen“
Und in dieselbe Kerbe schlug der Juso-Chef. Kühnert würdigte die Grüne Woche als Begegnungsstätte: Zwischen Bauernprotesten und Verbraucherschützern „gibt es, auch aufgrund des Wegzugs vom Land und der Vergrößerung von Agrarbetrieben, eigentlich kaum noch reale Bezugspunkte“, beklagte er, schon sehr SPD-Vize. „Hier werden diese Bezugspunkte geschaffen. Hier kann ich Fragen beantwortet kriegen, die mir kein Supermarkt beantwortet.“
Tatsächlich hilft es ja nicht, wenn altgediente Funktionäre nach den ersten drei regenfreien Tagen mit 35 Grad im Juni über die drohenden Ernteausfälle weinen. Mittelfristig dient es niemandem, wenn die Bauern mitleidheischend und Subventionen empfangend im Opfergefühl verharren. All die globalen Witterungsunbilden lassen sich nicht mehr wegdiskutieren. Und jedes Jahr eine Milliarde für Ernteausfälle fordern und mindestens in Wahljahren auch bekommen, ist auf die Dauer hoffentlich auch nicht das, wovon der Jungbauer träumt. Er macht zwar noch mit, wenn es darum geht, Politik und Klimaschützer mit dem eher selbstbewusst klingenden „Wir sind die Praktiker“ zu konfrontieren, aber er will ihnen dann hoffentlich auch zeigen, wie Landwirtschaft ökologisch und ökonomisch vertretbar umzusetzen ist.
Erst mal durch Hub27
Natürlich waren auch jene Besucher da, die nicht unbedingt etwas lernen wollten, sondern mal eben einen lustigen Tag mit einer kulinarischen oder alkoholträchtigen Reise durch die Welt verbringen wollten. Wenn sie mit dem Bus kamen, mussten sie durch die neue Halle „Hub27“. Dort ging es erst einmal durch Waldinformationsstände, durch Innovationen für den ländlichen Raum und am Wissenschaftsjahr 2020 vorbei. Besser als gleich zum Slivovitz oder zum skandinavischen Bier.
Auf der anderen Seite wagen sich auch die urban Sozialisierten wieder aufs Land, nicht nur, um die blaue Blume zu suchen oder Praxis beim Fahren mit dem E-Mountainbike zu erwerben, sondern um das Bessere aus ihrer Welt auf Augenhöhe hinauszubringen. Ebenso wie der Tierschutzbund oder Greenpeace hatte „Fridays for Future“ einen Stand auf der Grünen Woche. Die Messeleitung arrangierte, dass sie bei Podiumsdiskussionen, etwa am Erlebnisbauernhof und bei der Schülerpressekonferenz, ihren Standpunkt gelassen einbringen konnten. A propos Schüler: Es waren 20.000 Kinder und Jugendliche mit ihren Schulklassen zwischen Stall und Acker.
Nachdem inzwischen auch der/die letzte PolitikerIn mitbekommen hat, dass es der Umwelt mindestens genauso dient, 5G an jeder Milchkanne zu haben wie an jeder Autobahnleitplanke, präsentieren sich auf der Grünen Woche Unternehmen und Initiativen, die das Land digitalisieren wollen. Das dient nicht nur einem ökologischeren Umgang mit Pestiziden und Herbiziden, sondern auch einem erleichterten Umgang der Landbewohner untereinander und mit den StädterInnen, die jetzt „rauskommen“, um zu bleiben. Sei es, weil sie lange genug in der Stadt gelebt haben, sei es weil es ihnen dort zu teuer ist, oder vor allem, weil es immer mehr Möglichkeiten des Arbeitens von zu Hause aus oder im dörflichen Coworking Space neben dem Bauernhof oder dem Gemeindehaus.
Über all das informiert die Grüne Woche. Und über alles kann man dort reden. Ohne dass man gleich mit der Moral- oder Betriebswirtschaftskeule (oder mit beiden) bedroht wird. Noch sind die Produzenten in x-ter Generation nicht alle mit dem Herzen dabei, aber sie bemühen sich, auf Frage nach „Bio“, „Klima“ oder „Umwelt“ Antworten zu geben, die ihnen einen Platz im Zug zu gewinnbringender ökologischer Landwirtschaft sichern. Aber es gibt schon viele, die sich diese Fahrt pro-aktiv auf ihre Fahnen geschrieben haben und damit Erfolg haben. Der stellt sich im Stall, im Wald und auf dem Acker oft genug deshalb nicht sofort ein, weil verknöcherte Vorschriften und Überregulierung im Wege stehen. Deshalb sind sowohl die „liebe Julia“ (Parteifreund und Waldbesitzerpräsident Hans-Georg von der Marwitz) und eventuell auch „KuehniKev“ (Kühnerts Twittername) weiter herausgefordert. Denn den nächsten wichtigen Schritt muss der Gesetzgeber gehen, nachdem er sich die Argumente beider Seiten angehört hat. Er sollte ihn unbeirrt vom Geschrei der politischen Ränder gehen: Vorschriften und Verfahren müssen angepasst werden. Denn allzu oft scheitert der gute Wille an hohen Mauern von überalterten, nicht mehr zeitgemäßen Vorschriften und Ärmelschonenden in den Ämtern.