Abenteuer Bahn: Die Hoffnung stirbt zuletzt

Eine Reise nach Paris kann spannend sein

TGV und ICE friedlich vereint in der Gare de l’Est. Das Bild entstand im Juni 2017 anlässlich des zehnten Jahrestags der Eröffnung der Hochgeschwindigkeitsverbindung Frankfurt/Stuttgart-Paris. ©Foto: Rietig

Berlin, 23. Oktober 2019 (ssl) Zum Geburtstag: „Ein Wochenende in Paris!“ Mit der Bahn von Berlin aus? „Das geht heute schon!“, verkündet fröhlich ein aktueller Werbefilm der Deutschen Bahn. Ich wollte es meiner Frau in der vergangenen Woche beweisen. Die Reise war nicht gerade eine Werbeveranstaltung der DB Fernverkehr AG. Die folgte aber nun in Form der alljährlichen Konferenz „Mobilität erleben 2019“ im DB Werk Berlin-Grunewald, und tatsächlich – es gibt Hoffnung.

Die erste Nachricht bei der Reiseplanung war auch eine gute Nachricht. Bahnfahren ist nicht so teuer, wie es immer heißt. Zwei Personen, Hin- und Rückfahrt erster Klasse für rund 420 Euro. Unser Sohn, der mitfeierte, flog einen Tag später. Zwei Personen, Hin- und Rückflug Easyjet Economy für rund 510 Euro. Ein Kollege, der erst in ein paar Tagen fliegt, wird dasselbe zahlen. Und: Der Zug „landet“ und startet in der Gare de l‘Est. Vier Stationen mit der Metro à 1,49 Euro zum Hotel, wenn man die Zehnerkarte nimmt. Oder, um es für die Reisekasse vorzurechnen: Mit 29,80 Euro für alle U-Bahn- und Busfahrten zu zweit war der ÖPNV für das Wochenende voll bezahlt, schnell und pünktlich. Das wird mindestens für einen einzigen Flughafentransfer in Paris fällig.

Überall hin mit der Metro. Gerne auch durch ein Jugendstil-Tor. © Foto: Rietig

Weg mit 60.000 unbequemen Sitzen

Auch die erste Teilstrecke Berlin-Hannover verlief nach Plan, sogar der Komfort-Check-in funktionierte so gut, dass meine Frau sagte: „Das mache ich das nächste Mal auch so.“ (Natürlich hatten wir in der Tiefe des Rucksacks noch die ausgedruckten Tickets, falls etwas schieflaufen sollte.) Nur die Sitze im ICE3 waren nicht so das, was sie sich vorstellte. Zu unbequem.

Abhilfe naht schon im März 2020, wie die DB AG am Mittwoch auf der Konferenz „Mobilität erleben 2019“ im Bahnhof Grunewald versicherte. In der 1. und 2. Klasse der ICE 3 und, man höre und staune, des eigentlich brandneuen ICE 4, werden Schritt für Schritt die 60.000 Sitzpolster ausgetauscht und weitere kleine Verbesserungen angebracht. Für insgesamt 40 Millionen Euro. „Wir haben die Fahrgäste befragt und auf ihre Vorschläge reagiert“, erklärt der Eisenbahner im Mock-up-Abteil. Die Sitzprobe ergibt: Deutlich weicher, deutlich mehr Sitzfläche, sodass sich auch stundenlange Fahrten besser aushalten lassen. (Nach Paris sitzt man netto weniger als siebeneinhalb Stunden, planmäßig.)

Erster-Klasse-Sitz alt (links) und neu (rechts). Dass der neue weicher ist, sieht man nicht, aber dass die Sitzfläche länger und ergonomischer ist, schon. © Foto:Rietig

Pleiten, Pech und Pannen

Zweite Teilstrecke Hannover-Karlsruhe, besonderes Kennzeichen: Pleiten, Pech und Pannen. Schon bis Göttingen verursachte ein zu langsam vorausfahrender Zug 14 Minuten Verspätung. Nun ja, dachten wir, wir haben ja 28 Minuten Umsteigezeit in Karlsruhe, kein Problem.

Finale Destination unseres verspäteten ICE war übrigens Chur. Uns gegenüber saß ein älteres Schweizer Ehepaar, vor dem wir uns unausgesprochen fremdschämten. Sie scheiterten nicht nur mit dem Versuch, zur Feier des Tages im Speisewagen an je ein Glase Sekt oder auch eine Flasche zu kommen („Wir haben heute keinen Alkohol an Bord, also außer Bier“, sagte der Kellner“), sondern sie wissen wahrscheinlich auch gar nicht, was das hochdeutsche Lehnwort Verspätung überhaupt bedeutet, wenn man die Performance der Schweizerischen Bundesbahnen so anschaut.

Die Zuversicht, den Zug nach Paris zu erreichen, wurde in Kassel, dem nächsten Halt, massiv überschattet. „Wir haben hier einen längeren Aufenthalt, weil wir die Fahrgäste des havarierten vorausfahrenden Zuges aufnehmen müssen. Wir werden daher mit 24 Minuten Verspätung weiterfahren. Ich kümmere mich um ihre Anschlüsse.“

Unser ICE überfüllte sich. Auch in der 1. Klasse mussten Passagiere stehend weiterreisen. Nun ja, dachte ich, wir haben ja 28 Minuten Umsteigezeit in Karlsruhe, wird sportlich, ist aber zu schaffen. Meine Frau dachte anders, sagte aber nichts.

Noch vor Fulda wartete ich in der Schlange vor der Toilette, als eine neue Durchsage kam: „Liebe Fahrgäste, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass zwischen Frankfurt-Süd und Mannheim eine Person im Gleis war und wir deshalb über Worms umgeleitet werden. Die Verspätung erhöht sich deshalb auf 40 Minuten. Ich kümmere mich um Ihre Anschlüsse.“ Das war es dann erst mal.

Wem gehört „diese Zeit“?

„Diese Zeit gehört Dir“, heißt es ja in einem anderen DB-Werbefilm. Glatt gelogen. Mir gingen nur noch Fragen durch den Kopf, wie wir am selben Tag nach Paris und in unser Hotel kommen könnten. Züge aus dem Osten Frankreichs gibt es ja genug, und Kreditkarten hatten wir auch, aber eigentlich wollten wir es doch ein bisschen gemütlicher haben, wenn wir schon nicht fliegen.

Wie auch immer, der Zugbegleiter meldete sich kurze Zeit darauf mit einem Vorschlag, wie die Reisenden nach Stuttgart und Ulm trotzdem einigermaßen pünktlich an ihr Ziel kommen würden. Lösungen für eventuell nach Frankreich Reisende erwähnte er zunächst nicht. Dann ging es ihm aber auf, dass die auch in seinem Zug saßen, und wenig später kam er mit der ernüchternden Nachricht für alle, die nicht nach Paris, sondern nach Dijon, Lyon und Marseille wollten. „Leider ist der TGV nach Marseille (von Frankfurt, TR) ausgefallen“, gab er zu. Wahrscheinlich ebenfalls wegen des Personenunfalls. „Ich kümmere mich um Lösungen, auch für die Fahrgäste, die nach Paris wollen.“

Die gute Nachricht für die Zukunft kam wieder aus dem Ausbesserungswerk Grunewald: Alternativlösungen für Störfälle werden bald als Streckenkarte zunächst auf die Anzeigen an der Waggondecke des Zuges, aber auch auf den Smartphones und Tablets der Fahrgäste – wenn sie denn die App geladen haben – angezeigt, so dass sie sich selbst ein Bild von möglichen Ausweichrouten auswählen können. Noch dieses Jahr soll diese App bei der S-Bahn München in den Beta-Test gehen.

In Metropolregionen soll schon bald eine digitale Umleitugnskarte den Stress bei Störungen lindern. © Foto: Rietig

Es dauerte bis etwa Oggersheim, bis der Zugbegleiter die Lösung organisiert hatte. Ihm ist hier übrigens ein hohes Lob zu zollen. Er hatte offenbar sogar versucht, den ICE nach Paris so lange aufzuhalten, bis unser Zug in Karlsruhe ankommen würde. Der Versuch misslang, was unser Reisemanager kurz darauf mit einem leicht empörten Unterton mitteilte. „Wir legen deshalb um 16:21 Uhr einen außerplanmäßigen Halt in Offenburg ein. Von dort können Sie mit dem Regionalexpress XY, Abfahrt 16:35 Uhr, Gleis 4, nach Straßburg weiterfahren und von da aus mit einem TGV nach Lyon, Abfahrt xx:xx Uhr oder nach Paris, Abfahrt 18:17 Uhr, gelangen. Das Personal der SNCF am Informationsschalter wird sich um Sie kümmern.“

Zwölf Minuten

Abfahrt Straßburg 18:17 Uhr, das war genau zwölf Minuten später als wir eigentlich in Paris ankommen sollten. Nun gut, der Zug sollte 20:12 Uhr in der Gare de l‘Est einfahren, sodass uns nach dem Einchecken im Hotel noch genug Zeit bleiben würde, das Ende dieses gebrauchten Tages mit einem Glas Wein zu begießen.

Und im TGV würde ich mir eine Flasche Bier kaufen. Wenn es denn zu dieser Fahrt kommen würde. Der Zug verlangsamte zwischen Karlsruhe und Baden Baden und dann zwischen Baden Baden und Offenburg seine Fahrt merklich, auch als von Baustelle (die Oberrheinstrecke wird gerade zur Schnellfahrtstrecke ausgebaut, geplantes Ende der Bauarbeiten: 2042) nichts zu sehen war. Ein Mitreisender unkte, in den TGVs ab Straßburg wären nicht so viele Plätze frei wie es Umsteiger gebe. In einen TGV geht man nämlich nicht einfach so hinein. Das Ticket impliziert eine Platzreservierung. Und wenn die Plätze voll sind, kommt keiner mehr mit. Unsere Reservierung musste also umgeschrieben werden.

Die Zeiger meines analogen Zeitmessers rückten unbeirrbar weiter, zunächst auf 16:17 Uhr. „Wir werden in Offenburg um 16:24 Uhr ankommen; der Regionalexpress wartet.“ Es wurde, wie nicht anders zu erwarten, 16:40 Uhr, aber der Regionalexpress, ein zweiteiliger Triebwagen einer DB-Tochter, wartete. Es stiegen so viele Fahrgäste um, dass er gestopft voll war. Das weckte neue Ängste, ob man im TGV überhaupt mitgenommen würde, und wenn ja, ob es vielleicht mal eben einen oder zwei Hunderter kosten würde.

Neue Gegenden kennenlernen

Wir lernten neue Haltepunkte wie Lengelshurst kennen (Nein, da ist kein Zeppelin abgestürzt), kamen aber kurz vor 17:17 Uhr in Straßburg an. Also etwa eine Stunde Zeit, um uns zwei Plätze zu sichern. Jetzt finden Sie vor lauter Stress im unbekannten Bahnhof, zur Berufsverkehrszeit, mit Rollkoffer, mal den richtigen Schalter!

Es naht Hilfe: Im DB Werk Grunewald gab es den Silberstreif am Horizont: Erst einmal für den Bahnhof Frankfurt am Main lotst der DB Navigator künftig die Reisenden zu ihren Anschlussgleisen. Er gibt nicht nur metergenau die zurückzulegenden Wege an, sondern zeigt das auch auf einer Karte, auf der der gestresste Passagier im Zweifel auch die Informations- und Ticketschalter lokalisieren kann. Schon 72 große deutsche Bahnhöfe hat die DB derart kartographiert, sie sollen nach und nach integriert werden. Sicher kommt sie schnell auf die Idee, grenznahe Bahnhöfe wie Straßburg, Breslau, Basel SBB, Salzburg … einzubeziehen.

Wir suchten analog anhand verschiedener, teils irreführender „Information“-Tafeln mit Pfeilen. Schließlich fanden wir die Schalterhalle. Dort gab es tatsächlich vor allen Ticketschaltern, für die man Nummern ziehen musste, einen Tresen, hinter dem eine nette Dame ausschließlich das Schicksal Gestrandeter bearbeitete. Auf Französisch. An diesem Abend hatte sie es mit einem Dutzend Deutscher zu tun, die nicht alle des Französischen mächtig waren. Dennoch schaffte es die nette Dame innerhalb etwa einer Viertelstunde, allen die Reservierungen umzuschreiben. Kostenlos.

Das alte (oben) und das in Straßburg umgebuchte Ticket . © Foto: Rietig

Die Deutsche Bahn übrigens will ihre Reisezentren auch modernisieren. Statt Nummern ziehen und Schlange stehen ist künftig Lounging angesagt. Im Bahnhof Leipzig hat sie es schon realisiert. Die Service-Leute sitzen dann nicht nur hinter den Schaltern, sondern bewegen sich auch frei im Raum und gehen zu Wartenden, die ihrerseits stehen oder sitzen können. Außerdem gibt es ein Kundenterminal, das bei Fragen und Dienstleistungen wie Online-Ticket ausdrucken, Abfahrtstafel anschauen, Lufthansa Online-Check-in erledigen (!), Bahnhofsplan anschauen (wenn man das Kundenterminal erst einmal gefunden hat), Fahrgastrechte beanspruchen oder Verspätungsbescheinigung erhalten helfen soll. Wir hoffen auf ein Interface, das deutlich intuitiver ist als die Fahrkartenautomaten, die wir bis jetzt kennen.

Wir machten uns in Richtung Gleis 1 auf, wo der TGV um 18:17 abfahren sollte, und tatsächlich tat er das auch. Ich kaufte mir ein Bier.

Auf die Minute

Und was soll ich sagen? Wir kamen auf die Minute pünktlich in der Gare de l‘Est an, fuhren mit der U-Bahn zu unserem Hotel, checkten ein, machten uns kurz frisch, fanden um die Ecke ein echtes kleines Bistrot, tranken dort einen Roten und einen Rosé, aßen eine Salade de chèvre chaud, unterhielten uns prächtig mit den anderen Gästen, und der Tag war gerettet.

Salade de chèvre chaud, genau das Richtige zum Rotwein am Abend. © Foto: Rietig

Nachzutragen wäre noch, dass wir auf der Rückfahrt lediglich (hüstel!) 56 Minuten Verspätung hatten, aber stressfrei, denn wir hatten das Auto am Bahnhof, und das wartete geduldig. Man wird ja bescheiden. Erst ging es mit Tempo 316 durch Ostfrankreich; die Verspätung entstand erst nach dem letzten Umsteigen in Mannheim. Dort gab es kurzzeitig Verwirrung wegen „geänderter Wagenreihung“ laut Bahnsteigansage, was aber nicht zutraf, jedenfalls nicht auf unseren Wagen.

Wieder Rettung aus dem DB Werk Grunewald: Die jeweils aktuelle Wagenreihung wird teils jetzt schon, künftig aber erst recht, auch auf der DB Navigator-App angezeigt. Na, hoffentlich richtig. Jadoch: „Ein modernes IT-System liefert widerspruchsfreie Informationen zu Zug- und Haltdaten über alle Informationskanäle hinweg“, verspricht die DB AG.

Hier in Mannheim wird die geänderte Wagenreihung zwar angeblich schon am digitalen Zugzielanzeiger angezeigt, aber wenn Sie jetzt im Wagen 29 sitzen, der laut ausgedrucktem Wagenstandsanzeiger an der Spitze des Zuges verkehrt, können Sie der digitalen Anzeige nicht entnehmen, ob er jetzt vielleicht doch ganz, ganz hinten ist. Wenn ja, müssen Sie einen halben Kilometer mit Rollkoffer auf dem übervollen Bahnsteig zurücklegen. Spoiler: In unserem Fall war der Wagen, wie ausgedruckt, an der Spitze des Zuges. © Foto: Rietig

Unser Wagen im wiederum überfüllten ICE war der Steuerwagen. Er fuhr nach wie vor am vorgesehenen Ende des Zuges, die Sitze befanden sich in der „Panorama-Lounge“, von deren Plätzen aus man theoretisch auf die Gleise vor oder hinter dem Zug gucken kann, je nach Fahrtrichtung – wenn der Lokführer die Fenster zum Führerstand transparent schaltet. Tat er nicht. Egal, es war eh dunkel. Angesichts der wiederum gnadenlosen Überfüllung des Zuges waren es eh die besten aller Plätze. Man muss auch mal Glück haben.

Im ICE irgendwo in Lothringen. © Foto: Rietig

Gut, dass DB-Fernverkehrschef Michael Peterson in Grunewald die mehreren hundert Zuhörer beruhigen konnte: „Kapazität ist das Schlagwort.“ Derzeit kommt alle drei Wochen ein neuer ICE4 zum Fuhrpark der DB hinzu. Wenn die Verkehrswende im vollen Gang ist, sollen es insgesamt 500 bis 600 Züge statt jetzt 282 sein.

Als wir wieder zu Hause waren, war meine Frau noch nicht so ganz überzeugt, dass eine Fahrt mit dem Zug nach Paris und zurück das Richtige sei. „Da müssen die noch dran arbeiten. Aber immerhin haben wir ganz viel CO2 eingespart!“ Und sie war nicht die einzige auf dieser Reise, die so dachte.