Schienengüterverkehr: Deutschland ist das Sorgenland Nummer eins
Berlin, 15. November (ssl) „Vor zwei Jahren haben wir den Gotthard-Basistunnel gefeiert – aber er nutzt nichts.“ Mit dieser ernüchternden Aussage begann der Direktor des schweizerischen Bundesamts für Verkehr (BAV) , Peter Füglistaler, eine Philippika über die Eisenbahnunternehmen Mitteleuropas, die es nicht schafften, pünktlichen Güterverkehr zu produzieren und damit ein entscheidendes Qualitätsmerkmal des Verkehrsträgers Schiene nicht erfüllten. „Deutschland ist das Sorgenland Nummer eins“, fügte er hinzu.
Die Qualität ist so schlecht wie nie“, klagte Füglistaler, der selbst von der Schweizerischen Bundesbahn SBB kommt, bei einer Podiumsdiskussion in der Schweizerischen Botschaft in Berlin am Mittwoch. Der „Kern“ des Bahnverkehrs, die Pünktlichkeit, funktioniere nicht. Nicht nur auf Deutschland bezogen, sagte er mit Anspielung auf nationale Egoismen auch in großen europäischen Ländern, die heutigen Bahnen seien „noch nicht in der Lage, internationalen Schienengüterverkehr zu betreiben“.
„Am Ende war es doch ETCS“
Der Chef des schweizerischen Verkehrsamtes, das für den öffentlichen Verkehr im Nachbarland zuständig ist, sprach von einer jahrzehntelangen „Pause“, in der in Deutschland weder die notwendigen Erneuerungsmaßnahmen im Schienennetz noch wichtige Ausbaumaßnahmen angegangen worden seien, sondern im Gegenteil das Gleisnetz um angeblich ungenutzte Überholgleise gekürzt worden sei. Ganz zu schweigen davon, dass die Einführung des elektronischen Leit- und Sicherungssystems ETCS mit Diskussionen um Wert und Nutzen um Jahre hinausgezögert worden sei – „und am Ende war es eben doch ETCS, das eingeführt wurde“. Aber er gestand zu, dass sich die Situation in Deutschland zu wandeln beginne, nachdem alle Verkehrsträger unter Kapazitätsengpässen litten.
In dieser Zeit habe die Schweiz Milliarden in die wichtigen Tunnelbauten durch die Alpen gesteckt. „Wir haben geliefert, jetzt sind die Unternehmen dran.“ Es sei weniger Aufgabe des Staates als vielmehr die der privaten Bahnen und Infrastrukturunternehmen, jetzt ihrerseits zu liefern.
Von der Schweiz lernen …
Der Abteilungsleiter Eisenbahn im deutschen Bundesverkehrsministerium, Hugo Gratza, musste Füglistaler zustimmen. Er verwies aber auch auf die diversen Aktionen seines Ministeriums seit dem Abschluss des Koalitionsvertrages , den Schienenverkehr für die bestehenden Herausforderungen zu ertüchtigen, darunter die Festlegung auf den Deutschlandtakt, die Höherstufung zahlreicher zusätzlicher Strecken vom potenziellen in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans 2030 . „Der Deutschlandtakt habe zwar als Vorbild den Personenverkehrsfahrplan der Schweiz, aber: „Von der Schweiz lernen heißt auch, die Zauberformel der Schweiz zu übernehmen: Geld, Geld, Geld“, sagte Gratza. Er stellte zugleich aber den Komplettausbau der Rheintalbahn für die Zeit nach 2040 in Aussicht, was Füglistaler optimistisch stimmte. Beim Kombinierten Verkehr sehe er noch große Potenziale, sagte er. Es seien immer noch Containerverkehre zu beobachten, die über große Entfernungen auf der Straße transportiert würden.
100 Lokführerjahre
Ein optimistischeres Bild der Lage zeichnete Michail Stahlhut, CEO von Hupac Intermodal , einem großen Betreiber im Kombinierten Verkehr mit Sitz im schweizerischen Chiasso. Er führte die derzeitigen Probleme im Schienenverkehr auf „die Überlagerung von Stören und Bauen“ zurück und rechnete vor: „Wären wir pünktlich, könnte wir etwa 100 Lokführerjahre pro Jahr einsparen.“ Mit anderen Worten: Es wären 100 Vollzeitstellen frei, um das anstehende Verkehrswachstum abzufahren. Er schlug eine Bündelung intelligenter Lösungen vor, bis die Vision eines funktionierenden mitteleuropäischen Netzes wWirklichkeit ist. Dazu gehöre das Umfahren der überlasteten Knoten. „Wo die Eisenbahn den Knoten umfährt, ist sie stabil“, fährt also nach Fahrplan. Ein „bisschen Oberleitungsbau“, zum Beispiel auf dem Ostkorridor Hamburg-Regensburg , müsse allerdings in die Hand genommen werden. Dort betrifft es rund 330 Kilometer Strecke. Sein Unternehmen halte 600 Güterwagen – ein Zehntel des Bestandes – Waggons an strategisch wichtigen Punkten des Netzes vor, sollten andere im Stau steckenbleiben und deshalb nicht wie geplant zu Versendern kommen.
Die Überlastung der deutschen Rheintalstrecke ist laut Stahlhut unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Verkehr dort funktioniere. Aber es sei bei mehr Zusammenarbeit möglich, auch auf der französischen Seite mehr Züge im Gotthard-Zulauf fahren zu lassen. „Anlauf nehmen mit zwei Beinen“, nannte er das. Es gebe noch mindestens 200.000, 300.000 Trailer auf den Straßen des Korridors Rotterdam-Genua, die verlagerungsfähig wären, ergänzte er.
Plädoyer für längere Güterzüge
Die zulässigen Zuglängen von derzeit 590 auf 740 Meter auszudehnen , sei sehr preisgünstig für die Logistiker und würde ebenfalls helfen. „Die Amerikaner machen das vor, und die haben schlechtere Schienen.“ Dazu müssten im Prinzip nur Signale umgesetzt werden. Die Einführung von ETCS könne in späteren Ausbaustadien dazu genutzt werden, die derzeit starren Blockabstände der Zugdichte anzupassen. Die derzeitige Signalisierung verglich er mit der „Vorstellung, auf die Autobahnen werde immer nur dann ein Auto gelassen, wenn das vorher fahrende einen bestimmten, festgelegten Abstand gewonnen habe“. Er kritisierte außerdem die hohen Anforderungen an Lokführer bei der Streckenkunde. Sie könnten mit einem Navigationsgerät für den Schienenverkehr gesenkt werden.
Gratzka machte der Branche Hoffnung: Die schnellere Ertüchtigung der Strecken für 740-m-Güterzüge sei jetzt im Fokus der Bahn, nachdem erkannt worden sei, dass dies das Nutzen-Kosten-Verhältnis der betroffenen Strecken auf Werte von 4,8 heraufsetzen könne (alles >1 ist nicht defizitär). Mit dem Planungsbeschleunigungsgesetz, das in Kürze in Kraft trete, würden etliche Ausbaumaßnahmen schneller vonstatten gehen. „Aber es gibt auch gegenläufige Tendenzen.“ Selbst die Versetzung eines Signals könne im Extremfall ein Planfeststellungsverfahren erfordern, etwa wenn danach Züge in der Nähe von Wohngebäuden halten und wieder anfahren. Stahlhut schloss mit den Worten: „Wir sollten aufhören zu weinen und statt dessen jetzt investieren.“