„Wir sehen uns beim Aftertable“

Zur Erinnerung an Gerd Reuter: 6. Oktober 1944 – 19. Dezember 2017

Gerd Reuter nach getaner Arbeit in der Nähe von Cancun 1996. Foto: Rietig

Berlin, 09. Januar (ssl) Es gibt Menschen, die Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes geschrieben haben und trotzdem fast nie auf Bildern historischer Ereignisse zu sehen sind. So einer ist Gerd Reuter. Als Korrespondent arbeitete er für die Deutsche Presse-Agentur in Paris, Kopenhagen und Buenos Aires, zuletzt in Bonn und Berlin. Meines Wissens hat er keine Journalistenpreise gewonnen. Wenn doch, bitte ich um Entschuldigung. Dann hat er jedenfalls nicht darüber gesprochen, sodass ich nichts davon mitbekommen habe, und das spricht für seine Bescheidenheit.

Aber er hat der deutschsprachigen Welt maßgeblich die deutsche Politik der 90er und Nuller-Jahre erklärt, und beide Seiten wussten wohl kaum, was sie an ihm hatten. Gerd Reuter fand immer die richtigen Worte, also im Nachrichtenjournalisten-Jargon: den richtigen Leadsatz.

Gerd Reuter war mit den einflussreichen Leuten in der CDU Helmut Kohls so gut vernetzt, dass er fast schon vor ihnen selbst wusste, wie Politik sich entwickeln würde. Er fehlte jahrelang auf kaum einem Parteitag, kaum einer Pressekonferenz, kaum einem Gipfel, kaum einer Auslandsreise des Kanzlers der Einheit. Bevor ich die erste Anekdote erzähle, schicke ich voraus, dass ich ihn als Vorbild, Mentor und Freund mochte, obwohl wir nach der Papierform scharfe Konkurrenten waren.

„Aus dem Markt schreiben“

Mehr schlecht als recht vorbereitet, aber voller Tatendrang wurde ich 1995 aus Frankfurt in „das politische Bonn“ geschickt und hatte unter anderem die Aufgabe, die CDU/CSU zu betreuen und den Bundeskanzler auf Auslandsreisen zu begleiten. So traf ich Gerd Reuter, mit dem ich in den folgenden Jahren mehr Länder dieser Welt gesehen habe als mit meiner Frau. Nach einigen gemeinsamen Abenden in Luxushotel-Bars merkten wir, dass die Chemie zwischen uns stimmte. Er erzählte mir die Geschichte, wie er von seinen Chefs auf diese neue Konkurrenzsituation mit einem „Greenhorn“ angesprochen und beauftragt worden sei, „die AP“ – meinen damaligen Arbeitgeber – „aus dem Markt zu schreiben“.

Oha, dachte ich leicht schaudernd, hier findet ja richtiger Wettbewerb statt. Das war ich in dieser Form nicht gewohnt, und er auch nicht. Er habe seinen damaligen Chefs geantwortet, die Konkurrenz werde sicher keinen Anfänger, sondern einen Profi ins Rennen schicken. Ich ließ das dankbar so stehen.

Ein Ausbund an Kollegialität

Natürlich hat er die AP nicht aus dem Markt geschrieben. (Sie hat sich letztlich selbst aus dem Markt genommen, aber das ist eine andere Geschichte.) Vielmehr erwies er sich genau wie die übrigen damaligen Agenturkollegen als Ausbund von Kollegialität. Er war zwar nie ein IT-Spezialist, aber mit seiner Ausstattung konnte er souverän umgehen. Manchmal stieß er dennoch Hilferufe wie „Wo ist denn mein Cursor? Mein Cursor ist weg!“ aus, was aber selten an ihm, sondern an der Ausstattung lag. Immer wieder kamen die Edelfedern, die inzwischen in Talkshows sitzen und die Welt zu erklären versuchen, und ließen sich von ihm die Computer- und Übermittlungswelt erklären. Gerd tat es geduldig, nahm ihnen manchmal sogar das Senden ab, soweit es seine Zeit erlaubte.

Und zugleich half ihm sein unendlich verflochtenes Netzwerk, immer wieder erfolgreich über das redaktionelle Schwarzbrot hinaus zu recherchieren. Mag sein, dass es damals schon das Internet gab, aber selbst in Agentur-Redaktionen war es noch nicht in vollem Umfang erschlossen, und wenn, dann sicher mehr bei der internationalen AP als bei der dpa. Die ausländischen Regierungen dagegen bewiesen unterschiedliches Talent darin, für die mit der Politprominenz reisende Presse Kommunikationsmöglichkeiten bereitzuhalten.

Stundenlanges Warten vor Palästen

Viel Zeit für Persönliches bleibt auf solchen Reisen selten, aber wir fanden doch genug Minuten, um uns gegenseitig auszusprechen, auch über Dinge zu reden, die schon immer mal raus wollten. Man wartete ja oft vor schönen Palästen Stunden darauf, dass ein Informant oder der Kanzler selbst herauskam und das nach seiner Ansicht Wesentliche der Begegnung referierte. Gerd hatte mir ein paar Jahre Lebenserfahrung voraus. Einer seiner Sprüche lautete:  „Journalisten und Politiker verhalten sich zueinander wie Zuhälter und Huren – nur weiß man nie, wer gerade welche Rolle spielt.“ Es gab auch sonst viel zu erzählen, nicht zuletzt weil er aus Offenbach kam und ich einen wesentlichen Teil meines Lebens in Frankfurt verbracht hatte.

Wir pflegten das Wort: „Wir sehen uns beim Aftertable.“ Es beschrieb den Umstand, dass häufig nach Pressekonferenzen oder Briefings ein – gerne auch opulentes – Essen stattfand, das Agenturjournalisten in der Regel verpassten, weil sie schnell schreiben und senden mussten. Wenn sie Glück hatten, erwischten sie noch was vom Nachtisch.

Zwei gleiche Sweatshirts

Einmal waren wir mit einer sehr kleinen Delegation auf einer Kanzlerreise, die im Mai 1997 mit zahlreichen Stationen bis Neuseeland führte, und in Wellington kauften wir uns zwei gleiche Sweatshirts, die wir stolz auf der Rückreise trugen. Es brachte uns bei manchen Mitreisenden den Spitznamen „Pat und Patachon“  ein. Ich trage das Shirt noch heute gelegentlich und denke dabei an Gerd.

Eine der letzten gemeinsamen Reisen führte uns im Frühsommer 1998 mit nur zwei weiteren Journalisten nach Boston. Auf der Rückreise nahmen Gerd und ich alle unsere investigative Kraft zusammen und wurden trotzdem von Helmut Kohl hinter die Fichte geführt. Darüber habe ich hier schon berichtet. Gerd kaufte sich in Boston ein Moleskine, in das ich eine Widmung schreiben sollte. Eigentlich darf ich es hier gar nicht erwähnen, aber es hat kein Geschäft geschädigt, und mein nicht ernst gemeinter Wunsch ist ja leider in Erfüllung gegangen: „May you ever be the market leader.“

Standardisierte Auslandsbesuche

In die Annalen der Geschichte Kohl‘scher Auslandsreisen mit Journalisten dürfte auch eine nach Lateinamerika eingehen. Sie endete 1996 auf der Halbinsel Yucatàn in einem Luxusresort,  wo jeder Journalist einen kleinen Bungalow für sich hatte. (Um dem Argument vorzubeugen, hier seien Steuergelder verschleudert worden, weise ich wie immer darauf hin, dass die mitreisenden Journalisten bzw. deren Arbeitgeber ihre Reisekosten selbst tragen mussten.)

Die Berichterstattung war damals ebenso wie die bilateralen Treffen selbst teilweise standardisiert, was zusammen mit den hohen Kosten zur Folge hatte, dass die Journalisten-Nachfrage nach der Teilnahme an derartigen Ausflügen nachließ. Diese Standardisierung galt und gilt besonders für Lateinamerika. Die Beziehungen der Mercosur-Staaten mit Deutschland bzw. der EU sind für das allgemeine Publikum so unspektakulär, dass solche Besuche wenig Nachrichtenwert haben. Gerd wusste das auch und schrieb die Rohfassung so manchen Texts schon vorher: „Deutschland und (Gastland) wollen die bilateralen Beziehungen weiter vertiefen. Bundeskanzler Helmut Kohl und (Regierungschef des Gastlandes) vereinbarten daher am (Wochentag) in (Hauptstadt des Gastlandes), eine gemeinsame Kommission einzusetzen, die entsprechende Politikfelder ausloten sollte usw.“ Ergänzend fügte Gerd im Gespräch hinzu, dass Kanzlerberater Norbert Bitterlich zugegeben habe, der deutsche Teil der Kommission sei nur er persönlich, und am Ende werde wahrscheinlich ein Jugendaustauschprogramm dabei herauskommen.

Nach des Tages Arbeit gönnten wir uns eine Marguerita in salatschüsselgroßen Gläsern im Pool und ließen uns dabei von dem mitreisenden dpa-Fotografen Tim Brakemeier, ebenfalls einem Freund Reuters, ablichten. Wohl wissend, was wir im Fall einer Veröffentlichung damit im politischen Bonn auslösen würden. Im Gespräch war, es im Almanach des nächsten Bundespresseballs zu bringen, aber dazu kam es nicht.

Mit Gerd wird heute ein toller Kerl zu Grabe getragen. Er wurde 73 Jahre alt. Das Sweatshirt werde ich immer wieder anziehen, solange es hält. Vielleicht sehen wir uns beim Afterlife, aber bitte nicht so bald.