Wenn der Zug alleine fährt und hält

Diskussion um autonomes Fahren auf der Schiene wird intensiver

Berlin, 05. Dezember (ssl) Die Diskussion um das autonome Fahren auf der Schiene kommt in Fahrt. Elemente davon gibt es seit Anbeginn des Schienenverkehrs. Dennoch musste wohl erst die Autoindustrie vorpreschen, um das Thema einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, nachdem dies noch nicht einmal die Lokführerstreiks der vergangenen Jahre geschafft hatten. Vielerorts fahren U-Bahnen bereits führerlos, und auch auf freier Strecke zeigen ernstzunehmende Versuche, dass es bald losgehen könnte.

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Die Allianz pro Schiene und der Bahnindustrie-Konzern Alstom haben von der Politik verlangt, das autonome Fahren auf der Schiene stärker zu fördern. Mit einer interaktiven Karte zeigt sie, wo in Europa U- und Stadtbahnen bereits fahrerlos verkehren. Das erste autonome Metrosystem in Europa, das gerne als Vorzeigeobjekt dient, ist dabei die U-Bahn von Lille im Norden Frankreichs, mit deren Bau 1977, also vor knapp 40 Jahren und damit gut eine Generation vor dem Internet der Dinge, begonnen wurde. Sie ist seit 1982 ununterbrochen in Betrieb. In Deutschland ist Nürnberg das leuchtende Beispiel; dort fahren seit 2008 zwei der bisher drei U-Bahn-Linien führerlos.

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In den rot markierten Städten fahren schon führerlose Metros; in den blauen sind sie in Planung. Grafik: Allianz pro Schiene

Stakeholder haben zu wenig getan

Allianz-pro-Schiene-Geschäftsführer Dirk Flege räumte ein, dass die Stakeholder im Schienenverkehr bisher wenig getan haben, um analog zum Auto das autonome Fahren voranzubringen. Möglicherweise kann das in Deutschland auch an der zurückhaltenden Begeisterung der Gewerkschaften liegen, die den Beruf des Lokführers zu Recht dadurch gefährdet sehen. Die Frage, ob wir ihn im klassischen Sinn wirklich noch brauchen, muss allerdings erlaubt sein.

Die Erfahrung mit den automatisierten Systemen zeigt, dass diese energieeffizienter und in engerem Takt fahren können. In einem Beispielfilm der Allianz pro Schiene erklärten Fachleute eine Taktung von 85 Sekunden für realisierbar. In Nürnberg habe sich die Pünktlichkeitsrate der Züge von 94 auf 97 Prozent erhöht. Nun ist die Pünktlichkeit in Zukunft bei sehr enger Taktung ohnehin keine Frage mehr, wohl aber die Sicherheit, die sich ebenfalls erhöhen soll. Bei den verhältnismäßig sehr geringen Verletzten- und Todesopferzahlen im Schienenverkehr ist dies jedoch schwer messbar.

Anders im Autoverkehr. Das Sicherheitsargument dürften die Herren über Fördermillionen in Berlin und Brüssel anführen, wenn sich die Schienenlobby wieder einmal als zu kurz gekommen empfindet: Auf den nicht automatisierten Straßen verunglücken jedes Jahr Tausende tödlich, bei der Bahn waren es im vergangenen Jahr drei. Selbst die elf Toten des tragischen Zugunglücks von Bad Aibling im Februar ändern nichts an der gemeinhin überragenden Sicherheit des Bahnbetriebs.

Rad-Schiene hat weniger Bewegungsfreiheiten

Von der Logik her müsste das System Bahn einfacher zu automatisieren sein als das System Straße, da das Rad-Schiene-System an sich weniger Freiheiten der Bewegung bietet. Abgesehen davon, dass Schienen die Bewegungsfreiheit ohnehin einschränken und leichter kontrollierbar machen, ist es auch unmöglich, mal eben aus dem kontrollierten System auszubrechen, wie das im Straßenverkehr ständig geschieht.

Deshalb ist automatisiertes, wenn auch nicht völlig autonomes Fahren auf der Schiene auch bereits an der Tagesordnung. Es begann vor vielen Jahrzehnten mit den Signalen. Anders als die Ampeln beim Autoverkehr beeinflussen sie in der Regel die Züge direkt. Auf die punktförmige Zugbeeinflussung folgte die Linienzugbeeinflussung, die in Deutschland für Strecken mit erlaubten Geschwindigkeiten über 160 km/h Pflicht ist und in der Lage ist, den Zug selbsttätig anzuhalten. Das Kontroll- und Steuerungssystem ETCS, das einmal auf den wichtigsten Strecken in ganz Europa installiert werden soll, kommt inzwischen ganz ohne die klassischen Signale aus, und in späteren Phasen können Balisen (Steuerelemente am Gleis) und Sensoren die Züge komplett ohne Zutun des Triebfahrzeugführers steuern. Zu betrachten ist es in Frankreich auf den TGV-Hochgeschwindigkeitsstrecken und in Deutschland auf der Neubaustrecke zwischen Halle/Leipzig und Erfurt (siehe Foto ganz oben).

Dazu kommen verschiedene Fahrassistenzsysteme wie LEADER (https://schienestrasseluft.de/2016/11/27/mit-dem-leader-nach-mainz-bischofsheim/#more-1226), die aber zunächst hauptsächlich auf Effizienz ausgelegt sind. Dennoch gibt es noch viel zu tun. Der LEADER arbeitet zwar mit dem elektronischen Buchfahrplan Ebu zusammen, aber die Deutsche Bahn konnte ihre ursprüngliche Absicht, auch die häufig wechselnden Langsamfahrstellen (La) mit einzuarbeiten, noch nicht verwirklichen. Sollte einst ein Ebula möglich sein und das System mit den Lokomotiven, den Ortungssystemen und den Signalen vernetzt werden können, wäre das autonome Fahren Realität.

LEADER in Aktion: Im Display ganz oben die Topographie der Strecke auf den folgenden Kilometern, darunter die Empfhelung für die optimale Geschwindigkeit aus Gesichtspunkten der Effizienz. Foto: Rietig
LEADER in Aktion: Im Display ganz oben die Topographie der Strecke auf den folgenden Kilometern, darunter die Empfehlung für die optimale Geschwindigkeit aus Gesichtspunkten der Effizienz. Foto: Rietig

Auch die Deutsche Bahn ist recht zurückhaltend mit Informationen über ihre Versuche autonomen Fahrens. Manchmal prescht Bahnchef Rüdiger Grube vor und erklärt, die DB wolle Vorreiter für das vollautomatische Fahren auf der Schiene werden. Dann berichtet er von drei Projekten: einer automatisierten Streckenlokomotive, die auf abgeschlossenen Versuchsstrecken erfolgreich getestet wurde. Dazu später mehr. Das zweite Projekt ist eine automatische Rangierlokomotive, die für den vollautomatischen Abdrückdienst im Rangierbahnhof München-Nord getestet wird. Sie soll möglicherweise als Pilotprojekt schon im nächsten Jahr (2017) Züge über den Ablaufberg schieben, deren einzelne Waggons oder Waggongruppen dann auf verschiedene Gleise abrollen, um neue Züge zu bilden.

Von Annaberg-Buchholz nach Schwarzenberg

Das dritte Projekt ist eine Strecke der Erzgebirgsbahn, auf der kein Linienverkehr stattfindet, die aber nicht stillgelegt ist. Auf rund 30 landschaftlich sehr schönen Streckenkilometern zwischen Annaberg-Buchholz und Schwarzenberg hat die DB an der Strecke Sensoren und Balisen installiert und einen Diesel-Nahverkehrstriebwagen der Baureihe 642 „Desiro“ mit Kameras, Laserscannern und Ortungssystemen präpariert. Diese sollen das bestehende Fahrassistenzsystem Fassi  unterstützen und ergänzen, ohne dass die Infrastruktur geändert werden muss. Im kommenden Jahr (2017) wollen die Tüftler um Claus Werner, dem Leiter Technologiemanagement und -entwicklung der DB Regio Netz GmbH, eine Betriebsgenehmigung für den Versuchsbetrieb mit dem umgebauten Triebwagen durch das Eisenbahn-Bundesamt erreichen.

VT 642 "Desiro". Foto: Siemens
VT 642 „Desiro“. Foto: Siemens

Unter anderem tastet ein Laser-Scanner den Fahrweg auf rund 400 Meter vor dem Triebwagen ab, um eventuelle Hindernisse zu erkennen. Der Zug, der für 120 km/h zugelassen ist, darf auf dieser Strecke maximal 80 fahren, und auch das nicht überall. Der errechnete Bremsweg aus diesem Tempo beträgt 352 Meter, sodass die Perspektive des Scanners mit den Sensoren ausreicht. Was passiert, wenn es in unübersichtliche Kurven geht? Dann können zwar weder der Scanner noch die ebenfalls eingebauten Kameras helfen, aber es gibt immer noch die Signale an der Strecke, die zumindest juristisch gesehen eine Garantie dafür sind, dass die Strecke frei ist. „Darauf muss sich heute auch der Triebfahrzeugführer verlassen können“, sagt Werner.

Streckenkarte der Erzgebirgsbahn. Es geht um die West-Ost-Strecke etwa in der Kartenmitte. Grafik: Erzgebirgsbahn
Streckenkarte der Erzgebirgsbahn. Es geht um die West-Ost-Strecke etwa in der Kartenmitte. Grafik: Erzgebirgsbahn

Darüber hinaus ist die Strecke mit der Punktförmigen Zugbeeinflussung PZB ausgestattet. Für die Ortung sorgt ein GPS-System, auch wenn es nicht viel genauer als auf zehn Meter den Standort des Zuges bestimmen kann. Da dies Probleme bei mehrgleisigen Bahnhöfen gibt, sind dort zusätzlich Balisen installiert. „Wir müssen die Funktionsweise rechnerisch, zeichnerisch und mittels Gutachter nachweisen“, sagt Werner, der aber zuversichtlich ist, dass das gelingt. Für das Bundesamt ist ein derartiges Genehmigungsverfahren ebenfalls Neuland. Parallel zum Genehmigungsprozess wird der Zug umgebaut, sodass es nicht beim Provisorium bleibt. Im zweiten Drittel kommenden Jahres soll dann der Betrieb mit „GoA II“ (Grade of Automation) aufgenommen werden.

Wie lange es dann dauert, bis auch mit Fahrgästen gefahren werden kann, steht aber noch in den Sternen. Anders als eine U-Bahn, bei der die Bahnsteige auch automatisch gut kontrolliert werden können, fährt ein Regionalexpress an den unterschiedlichsten Bahnhöfen und Bahnsteigen vor, von Bahnübergängen und eventuellen lebenden und toten Gegenständen auf den Schienen ganz zu schweigen. Deshalb wird auch „in freier Wildbahn“, umgebungsmäßig gesehen, ein Zugführer dabei sein, der nicht nur den Fahrgästen das Gefühl der Sicherheit vermittelt, sondern auch tatsächlich aufpasst dass nicht Unprogrammiertes passiert. „Wir gehen nicht von einem leeren Zug aus“, sagt Werner.

Erkennen großer Hindernisse

Bei der Streckenlokomotive, die dereinst autonom fahren können soll, handelt es sich um eine moderne Siemens-Vectron-Lok. Sie hat mit einem Autopiloten auf dem Testring Wildenrath schon eine erste Testreihe erfolgreich abgeschlossen. Dabei ging es um das automatische Abfahren eines vorgegebenen Geschwindigkeitsprofils, um das Andrücken an eine Waggongruppe und um den Halt an einem vorgegebenen Punkt und das Erkennen großer Hindernisse aus Tempo 50. Als nächste Schritte sollen die verschiedenen Systeme – Autopilot, ETCS und LZB – miteinander verknüpft und in das Steuerungssystem der Maschine integriert werden. Aus dem Begriff Autopilot wird bereits deutlich, dass an eine „Wegrationalisierung“ des Lokführers nicht gedacht ist. Ähnlich wie beim Flugzeug sollen vielmehr die Systemvorteile der Automatik ausgeschöpft werden, wie Energiesparen, Senkung der Betriebskosten und Erhöhung von Sicherheit und Pünktlichkeit.

Vectron-Lokomotive. Foto:Siemens
Vectron-Lokomotive. Foto:Siemens

Die Triebfahrzeugführer müssen also wahrscheinlich keine Angst haben, dass sie arbeitslos werden.

Tatsächlich ist es so, dass die meisten Bahnunternehmen derzeit händeringend nach Lokführern suchen. Der einstige Traumberuf ist inzwischen nur noch ein Knochenjob, der mit Schicht- und Wechseldienst verbunden ist, häufigen Orts- und Klimawechsel mit sich bringt und auch noch harte, gefährliche Handarbeit verlangt, etwa wenn es beim Güterzug darum geht, den Zug an die Lok an- oder von der Lok abzukuppeln.

Das geht nämlich, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, noch immer nicht automatisch, da Lok und Wagen sowie die Wagen untereinander mit Schraubenkupplungen verbunden sind, eine Technik, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammt und serienmäßig in Mitteleuropa seitdem nicht optimiert worden ist. Aber das ist ein anderes Thema, an dem wieder andere Ingenieure arbeiten. Mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit.