Die neue Macht der Patienten

Apps ermöglichen ihnen „Selbstvermessung“ und die Herrschaft über ihre Daten – Vor allem die Ärzte werden sich umstellen müssen

Berlin, 20. April (ssl) Im Gesundheitswesen taucht gerade eine neue Macht aus dem trüben Meer von Lobbyisten, Regulierung, neuen und alten Medikamenten und Krankheiten auf: der Patient. Sein schärfstes Schwert ist offenbar die App. Das ist die erste Erkenntnis eines medizinischen Laien auf der Gesundheits-IT-Messe conhIT, die seit 19. und bis 21. April in Berlin stattfindet. Verspürte der Patient bislang in der Regel eher hilfloses Ausgeliefertsein als gleiche Augenhöhe bei der Erörterung von Diagnose und Therapie, so erhält er nun vielfach Macht über seine eigenen Daten. Wer aber bessere Waffen hat, bekommt auch neue Feinde. Im Gesundheitswesen tauchen sie in Form wachsender Sicherheitsrisiken auf und erschrecken die Öffentlichkeit.

Die conhIT ist keine gewöhnliche Gesundheitsmesse. Es geht nicht so sehr um neue Maschinen, sondern wie bei allen komplexen Systemen in den vergangenen zwei Jahren um Big Data, um Clouds und digitale Strategien. Start-ups werben um die Anerkennung durch große Teilnehmer am Gesundheitswesen bis hin zu Krankenkassen. Krankenhäuser beginnen die Zeichen der Zeit zu erkennen und stellen vom Nadeldrucker und Windows XP auf zeitgemäßere digitale Strategien um. Alle Beteiligten stellten, wie auch bisher in ihren Sonntagsreden, den Patienten in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen.

Inzwischen scheint es aber tatsächlich so zu werden, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Betroffen davon dürften im wesentlichen die Ärzte sein, deren Autorität weiter bröckelt, denn sie sind nicht mehr die Herrscher über die Patientendaten. Das sind sie zwar de jure schon heute nicht mehr, weil der Patient die entsprechenden Rechte gesetzlich verbrieft hat, aber was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Es sei denn, sie nehmen die Herausforderung an. „Die Machtblöcke im Gesundheitswesen verschieben sich fundamental“, sagt etwa Gunther Nolte, der im Vivantes-Konzern als Prokurist für die IT zuständig ist. „Ein Stück der ärztlichen Leistungserbringung wird obsolet; ärztliche Trivialleistungen werden sich wegkaskadieren.“ Heißt: in Richtung auf den Patienten „weggespült“ werden. Mit Blutdruck und Unterzuckerung fing die Selbstvermessung an. Heute gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten für Verbraucher, ihre persönlichen gesundheitsrelevanten Werte zu ermitteln, lange bevor sie krank werden, und wenn es sich dennoch nicht vermeiden lässt, erst recht. Dank Smartphone, Wearables und Apps wird den Patienten auch die Einordnung der Daten erläutert und erleichtert, so dass sie dem Arzt mit einem neuen Selbstbewusstsein gegenübertreten können.

Vom Payer zum Player

So wird der Patient „vom Payer zum Player“,wie es Stefan Greiner formulierte, einer der Entwickler der Anti-Migräne-App „m-sense“. Oder vielmehr zuerst die Patientin, denn sowohl die App-Entwickler als auch ihre Kontaktpersonen bei der Krankenkassen bestätigten das Vorurteil, dass Frauen sich mehr um ihr Wohlbefinden kümmern als Männer, zumindest wenn die ersten Symptome einer möglichen Krankheit erkennbar sind. Allerdings gibt es auch Krankheiten, bei denen sie deutlich häufiger betroffen sind. Bei krankhaften Essstörungen „nach oben und unten“, also in Richtung Magersucht oder Fettleibigkeit, beträgt die Frauenquote 89 Prozent. Die Frage, ob der klassische Männer-Bierbauch Symptom einer krankhaften Trinkstörung ist, soll hier nicht erörtert werden.

Junge Apps, die auf der conhIT um die Gunst der Kassen buhlten, beschäftigten sich mit Volkskrankheiten, deren Dimensionen lange ignoriert wurden. Sie verursachen aber volkswirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe, ganz abgesehen davon, dass die Betroffenen teils ein Leben lang darunter leiden müssen oder gar daran sterben. Krankhafte Essstörungen verlaufen nach Angaben von Ekatharina Karabasheva, die die einschlägige App „Jourvie“ entwickelte, zu 16 Prozent tödlich. So ungern es Smartphone-Muffel, besonders auch unter den Ärzten, hören werden: Die Macht liegt in der App. Wer unter Depressionen, unter Migräne oder Diabetes leidet, steht vor dem Problem, dass sein Arzt sich ein paar Minuten pro Quartal Zeit nimmt, die Krankheitsschübe aber kommen, wenn er oder sie gerade nicht im Behandlungszimmer sitzt. Die künstliche Intelligenz des Anbieters oder im Extremfall die Erfahrung eines Telefonpartners an der Hotline bietet aber auch Therapien oder zumindest Motivation auch außerhalb von Behandlungszimmer oder Klinik an. Präzise Daten erhält die App über Zusatzgeräte wie Wearables oder manuelle Eingabe. „Wir entwickeln nicht nur für, sondern mit dem Patienten“, sagte Kristina Wilms, die Vertretern der großen Kassen ihre Anti-Depressions-App „Arya“ vorstellte.

Krankenhäuser ringen um die richtige digitale Strategie

Wer mit diesem neuen Verständnis ins Krankenhaus kommt oder es verlässt, erwartet auch mehr als die weitgehend unpersönliche Aufnahme, die neuerliche Abfrage aller Daten und stundenlange „analoge“ Untersuchungen, die eigentlich alle schon bekannt sein müssten – wäre das Gesundheitswesen so vernetzt, dass es im Sinn der Patienten wäre. Eines der größten Probleme der Krankenhäuser ist die mangelnde Vernetzung der Bereiche des Gesundheitswesens vor und nach dem Klinikaufenthalt. Denn, wie es der Vorstandsvorsitzende der evangelischen Krankenhauskette Agaplesion AG, Markus Horneber, formulierte: „Wir verstehen uns nicht als Krankenhausbetreiber, sondern als Kümmerer.“ Die veralteten Strukturen müssten aufgebrochen werden, um der neuen Macht der Patienten Rechnung zu tragen. Wenn diese sich zunehmend selbst an Diagnose und Therapie beteiligen, brauchen die Krankenhäuser „ein System, das dem Patienten ermöglicht, jederzeit seinen Status abzufragen“, wie Bernd Christoph Meisheit von den Sana-Kliniken sagte. Und wenn dazu Startups nötig seien, heiße die Parole: „Nicht mehr über Regulierungsrahmen oder Finanzierung nachdenken, sondern einfach machen!“, so Tobias Meixner von den Helios-Klinken, die eine eigene „Helios Cloud“ betreiben.

Der allgemeinen Vernetzung steht im Moment allerdings das Totschlagargument „Datenschutz“ entgegen. Wer es benutzt, setzt sich aber mittlerweile dem Verdacht aus, der Vernetzung generell kritisch bis ablehnend gegenüber zu stehen. Zum Beispiel die Ärzte. „Datenschutz geht mir unglaublich auf die Nerven. Da hat das Recht eine Schieflage“, sagte Enno Park, der Gründer und Vorsitzende des Cyborgs e.V. Er selbst hat ein künstliches Gehör in sich und fühlt sich deshalb schon als Cyborg, dessen Körperfunktionen eben ständige medizinische Betreuung brauchen. Und nur wegen des Datenschutzes auf die Errungenschaften moderner Kommunikationstechnik zu verzichten, das sei so, als wäre man wegen der Unsicherheit im Auto wieder auf Pferdekutschen umgestiegen, anstatt den Sicherheitsgurt zu erfinden und einzubauen.

Immer wieder wurde zwischen den Zeilen erkennbar, dass vor allem die Ärzte bremsen. Dabei steht ihnen, wenn der Patient die „Trivialleistungen“ selbst übernimmt, eine intellektuelle Herausforderung bevor, die besser zu ihrem Image passt als Urinproben auszuwerten oder den Blutdruck zum x-ten Mal zu messen: Sie können die Daten bewerten und mit den Patienten über die besten Therapien diskutieren, anstatt nach Schema F vorzugehen und Medikamente zu verschreiben. „Der Patient braucht einen Deuter“, merkte Nolte an.

Dennoch gibt es Bremser. Zumindest Menschen und Institutionen, die qua Amt vor zu leichtfertigem Umgang mit der Technologie warnen. Das gilt besonders für die sogenannte Kritische Infrastruktur, jenen Bereich, dessen Versagen einen „bedeutenden Versorgungsgrad“ des öffentlichen und privaten Lebens lahmlegen würde. Flughäfen, Polizei und wo weiter gehören dazu, und eben das Gesundheitswesen – dies aber zu einem noch nicht festgelegten Anteil. Ein elektronisches Voting bei einer Podiumsdiskussion führte auf der conhIT zu dem Ergebnis, dass alle Krankenhäuser, Maximalversorgungszentren und Arztpraxen zur Kritischen Infrastruktur gehören sollten. Für diese Option entschieden sich 40,2 Prozent der Teilnehmer, eine deutliche einfache Mehrheit gegenüber den fünf schwächeren Optionen. Es überraschte selbst die Podiumsteilnehmer, und es ist unwahrscheinlich, dass sich ein derartig hoher Sicherheitsstandard am Ende durchsetzen wird.

Dennoch gibt es auf diesem Gebiet viel nachzuholen, und zwar bei allen Beteiligten. „Der Stand der Technik ist seitens der Hersteller“ der Krankenhausinfrastruktur einschließlich medizinischer Geräte „längst nicht erreicht“, kritisierte etwa Rüdiger Gruetz, Leiter des Branchenarbeitskreises Gesundheitsversorgung, der für die Betreiber die Struktur der IT-Sicherheitsvorkehrungen erarbeitet. Armin Will von der Stabsstelle IT des Uniklinikums Schleswig-Holstein wies auf hochkomplexe und weitgehend unübersichtliche Strukturen der Vernetzung hin. Außerdem würden vielfach noch Rechner mit Windows XP betrieben. Auch in der Organisation müsse die Geschäftsführung Verantwortung übernehmen und Sicherheitsrichtlinien erlassen.

„Es ist machbar, aber die Lösungen muss jeder einzelne Mitarbeiter bewusst und verantwortlich anwenden“, sagte Will. Das Gesundheitswesen sei unter anderem deshalb besonders im Focus, weil einmal gewonnene Daten anders als etwa bei Kreditkarten nicht vom Betroffenen gelöscht und verändert werden könnten. Wesentliche Patientendaten veränderten sich nicht. René Salamon vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik warnte: „Sie können nicht verhindern, dass es Sie erwischt!“

Aber das Unternehmen müsse vorbereitet sein. Die Meldepflicht von IT-Störungen sollten die Betroffenen nicht durch falsche oder unzureichende Angaben unterlaufen. Nur Ehrlichkeit helfe, die Nachhaltigkeit zu gewährleisten. „Wir sind die Guten“, sagte er und plädierte für restriktive Handhabung der Vernetzung im Krankenhaus, etwa durch Bereitstellung von WLANs für Patienten. „Sie sind nicht Starbucks“, meinte Salamon. „Wir müssen die Leute gesund machen, nicht per se permanent glücklich.“ Andererseits wird auch er über kurz oder lang akzeptieren müssen, dass der Patient ununterbrochen kommunizieren will. Auch im Bett, wenn er kann. Auch in der Reha. Dazu muss dann eben spezieller Schutz entwickelt werden.