Drei Lohnschreiber und ein Landesfürst

Märchenhaftes zur Frage der „Genehmigung“, „Abstimmung“ oder „Autorisierung“ von Interviews

Berlin, 09. Februar (ssl) Es waren einmal drei Lohnschreiber, die machten sich vor Jahren kurz vor dem Weihnachtsfest in ein Land im Südwesten auf, das für seine Weine und seine bodenständige Politik bekannt war. Sie wollten den Landesfürsten interviewen, der auch in der fernen Reichshauptstadt eine bedeutende Rolle spielte. Er war zu jenem Zeitpunkt gleichzeitig Vorsitzender der zweitgrößten Partei im Reich. Was ihnen dabei widerfuhr, schildert das nachfolgende Märchen. Es hat einen wahren Kern.

Die Lohnschreiber – nennen wir sie Kaspar, Melchior und Balthasar – kamen aus verschiedenen Orten des Reichs. Sie dienten einer weltweit agierenden Agentur, die für ihre Unbestechlichkeit, ihre Unabhängigkeit und Präzision bekannt war. Jeder der drei hatte eine spezielle Erfahrung: Kaspar kannte sich in der Landespolitik aus, Melchior in der Reichspolitik, und Balthasar war der Vorgesetzte der beiden anderen und hatte den Überblick über die Mediensituation im Reich.

Der Fürst residierte nahe dem Kurfürstlichen Schloss, hielt aber recht bescheiden Hof. Überhaupt galt er als volksverbunden, aber auch leicht erregbar und manchmal ein bisschen unbeholfen. Das Interview fand in seinem Amtszimmer statt. Alle drei Lohnschreiber hatten je ein Aufzeichnungsgerät in Betrieb, sodass neben den schriftlichen Aufzeichnungen alles Gesagte lückenlos dokumentiert werden konnte.

Das Interview sollte kurz nach dem Weihnachtsfest, aber vor dem Neujahrsfest erscheinen. Das ist ein Zeitraum, den böse Zungen „Saure-Gurken-Zeit“ nennen. Politiker haben ihn besonders im Blick, weil er ihnen Gelegenheit zu einem Rückblick auf das vergangene und einem Ausblick auf das vor ihnen liegende Jahr gibt.

Weihnachtszeit = Saure-Gurken-Zeit

Für eine Nachrichtenagentur ist dieser Zeitraum gekennzeichnet durch die relative Armut an extern generierten Nachrichten: Parlamente und Börsen waren in der Feiertagspause, viele Betriebe ebenfalls. Die Medien, die die Agentur belieferte, mussten aber trotzdem ihre Seiten beziehungsweise Sendezeiten füllen, und erwarteten daher entsprechendes Material von den Agenturen, die sich ihrerseits einen Wettbewerb um die interessantesten Nachrichten lieferten.

Rückblick und Ausblick – Spektakuläres war von dem Interview nicht zu erwarten, und so fand das Gespräch in relativ entspannter Atmosphäre statt.

Auch als es zur letzten Frage kam, hatten alle Beteiligten gute Laune. Die fürstliche Adlata, die an dem Gespräch teilnahm, hatte schon einmal ostentativ auf die Uhr geschaut, wovon sich Seine Hoheit nur geringfügig beeindrucken zu lassen schien, aber auch Kaspar und Melchior wollten zu Ende kommen, denn sie mussten ja das Interview noch aufschreiben und vor Weihnachten genehmigen lassen. Balthasar als Chef hatte es da leichter.

Manche nennen es Zensur

Genehmigen lassen: das war einer der gängigen Ausdrücke dafür, dass die ausgeschriebene Version des Interviews dem Interviewten vor der Veröffentlichung zur Kenntnis gegeben wird, damit er sicher ist, dass das, was er gesagt hat, auch richtig wiedergegeben wurde. Weitere Begriffe dafür: Autorisierung, Abstimmung, usw.

Alle, die sich über dieses Problem unterhalten, sollten sich darüber klar sein, dass es in deutschen Printmedien kaum ein Interview mit hochrangigen Politiker/innen oder gar Wirtschaftsführern geben dürfte, das nicht vor dem Druck „genehmigt“ wurde. Es ist gängige Praxis. Wer einen Interviewtermin mit solchen Personen beantragt, wird darauf hingewiesen, dass der Termin nur unter dieser Bedingung zustande kommt. Umgekehrt – also wenn die Person pro-aktiv mit einem Interview-Wunsch auf ein Medium zukommt – ist es schon einmal möglich, es un-„abgestimmt“ zu veröffentlichen.

Im Prinzip also gilt: Wer diesen Personenkreis mit „unabgestimmten“ Äußerungen erleben will, muss sich auf Live-Interviews in elektronischen Medien oder auf Pressekonferenzen beschränken, wenn er nicht das große Privileg hat, zu Hintergrundgesprächen eingeladen zu werden. Daraus darf dann in der Regel aber entweder gar nicht berichtet werden, oder aber es dürfen keine wörtlichen Zitate veröffentlicht werden.

Eine deutsche Besonderheit

Die Medien sollen als gesellschaftliche Kraft Politiker und Wirtschaftsführer eher kontrollieren denn ihnen als mediale Reichweitenvergrößerung dienen. Da drängt sich schon die Frage auf, warum sie sich nicht darauf einigen können, nur „ungenehmigte“ Interviews zu führen und alles andere als unethisch abzulehnen. Das liegt im Wesentlichen im Wettbewerb begründet. Wer da strikt ist, bekommt eben kein Interview. Wer hinterher rumzickt, bekommt eben kein Interview mehr. Wer geschmeidig ist, darf weiter interviewen. Ob das am Ende so kommt oder ob es nur vorauseilende Befürchtungen sind, muss hier offen bleiben. Es hängt von der (Markt-)Macht des Mediums ab. Und davon, wie sehr das Medium auf die Verbreitung von Interviews angewiesen ist. „Abstimmen“ ist im übrigen eine deutsche Besonderheit, in den Vereinigten Staaten und Großbritannien ist es durchaus unüblich, und auch die internationale Agentur, für die Kaspar, Melchior und Balthasar arbeiteten, verfolgt international die Praxis „Gesagt ist gesagt“.

Dennoch hat die Praxis auch Vorteile: Oft ist es ja unmöglich, das gesprochene Wort ungefiltert „abzuschreiben“, sondern es bedarf der grammatischen, aber auch stilistischen Glättung. Dabei können falsche Akzente entstehen. Auf der anderen Seite steht ein Misstrauen der Interviewten und – besonders – ihrer Entourage über die Authentizität der Wiedergabe. Es gibt auch Situationen, da legt der Text eines geschriebenen Interviews andere Interpretationen nahe als der gesprochene Text, der normalerweise noch mit Gesichtsausdrücken und Gesten unterlegt ist.

Melchior hatte einige Jahre später ein Interview mit der Herrscherin des gesamten Reiches, die bei der Genehmigung eine Passage änderte. Hätte man die Passage so gelassen wie gesprochen und aufgeschrieben, hätte dies zu nicht beabsichtigten außenpolitischen Verwerfungen führen können.

Deutliche Missbrauchsdimensionen

Allerdings hat die „Genehmigungspraxis“ in den letzten Jahren eine deutliche Missbrauchsdimension – und zwar durch die subalternen Referenten, Pressesprecher/innen und ähnliche Berater/innen – erfahren, bei der sich manchmal die Interviewer fragten, warum sie die Fragen nicht gleich schriftlich gestellt und auf schriftliche Antworten gewartet haben. (Auch das ist eine gängige Praxis.) Texte werden nicht nur in ihrer Diktion, sondern auch in ihrem Gehalt modifiziert, oft bis zur Unkenntlichkeit verändert oder verfälscht. Den Interviewern wird nicht immer transparent gemacht, welche Überlegungen auf der anderen Seite dafür maßgebend waren.

Es können durchaus auch wahltaktische Überlegungen eine Rolle spielen – ein Punkt, der nach Ansicht von Kaspar, Melchior und Balthasar den Rahmen des Erlaubten bei „Genehmigung“ überschreitet. In solchen Fällen ist es nicht übertrieben, von Zensur zu sprechen.

Was es definitiv nicht gibt, ist der immer wieder behauptete Konsens, dass solche nachträglichen Änderungen ohne Wenn und Aber von den Interviewern hingenommen werden. Ja nach deren Widerstandskraft kommt es durchaus vor, dass die ursprüngliche Wortlaut mit oder ohne einen entsprechenden redaktionellen Vermerk gedruckt/gesendet wird, dass die Passage ganz weggelassen wird. Aber, um ehrlich zu sein: die Regel ist, dass die Änderungen akzeptiert werden.

Es gibt auch positive Erlebnisse

Melchior erinnert sich an ein Interview mit einem Mitglied des Reichskabinetts ebenfalls aus dem Rückblick/Ausblick-Anlass. Die Frage lautete: „Sind Sie mit dem in diesem Jahre Erreichten zufrieden?“ Als Antwort folgte weder ein Ja noch ein Nein, sondern eine Aufzählung der Initiativen des Ministeriums, die erfolgreich in Gesetze mündeten. Wenig spektakulär, aber als Rückblick brauchbar. Als die Abschrift aus dem Ministerium zurückkam, hatte das Kabinettsmitglied der Antwort den Satz vorangestellt: „Nein, ich bin überhaupt nicht zufrieden“, und am Schluss eine Reihe auf die lange Bank geschobener Initiativen hinzugefügt. Das war dann schon ein bisschen spektakulär und wurde natürlich gerne akzeptiert.

Versprechen halten oder Pragmatismus?

Nun aber zurück zur letzten Frage des Interviews im Kurfürstlichen Schloss. Kaspar stellte sie. Sie lautete: „Stehen Sie noch zu ihrem Versprechen nach der letzten Landtagswahl, die volle Legislaturperiode Fürst zu bleiben?“ Einem der Lohnschreiber fiel dazu das alte rheinische Sprichwort ein: „Versprechen und halten – beides geht nicht.“ Aber er schwieg.

Hintergrund dieser Frage war zum einen die banale Notwendigkeit, jede als Thronfolger denkbare Persönlichkeit bei jedem Interview zu fragen, ob sie sich eine Thronfolge vorstellen kann. Das gehört bei einem politischen Interview einfach dazu, auch wenn bei den meist ausweichenden Antworten alle Beteiligten mit den Augen rollen. Aber es gibt zahlreiche Beispiele, in denen potenzielle Kandidaten Interviews genutzt haben, um genau bei dieser Frage den Hut in den Ring zu werfen.

Der zweite, triftigere Grund: Seit der letzten Landtagswahl hatte sich die Situation für den Fürsten geändert: Er war überraschend Vorsitzender der zweitgrößten und damit regierungsfähigen Partei geworden. Daher lag diese Frage sehr nahe, denn in diesem Amt hat man üblicherweise sehr gute Karten bei der Frage, ob er für die Thronfolge kandidieren will. Eine Kandidatur für die Thronfolge schließt aber die Bereitschaft ein, im Erfolgsfalle das Fürstenamt niederzulegen. Hätte also der Landesfürst seine Bereitschaft zur Kandidatur für die Thronfolge im Reich erkennen lassen, so hätte er im Zweifel das den Untertanen im Lande gegebene Versprechen brechen müssen.

Eine schöne Antwort

Diese Kalamität war dem Fürsten beim Interview durchaus vertraut, denn er war ja nicht dumm. Er antwortete daher sinngemäß, dass sich die Situation wie beschrieben geändert habe, und dass er für sich auf jeden Fall das Recht in Anspruch nehme, das entscheidende Wort bei der Auswahl der Thronfolge-Kandidaten-Persönlichkeit mitzureden. Die Untertanen im Lande würden das sicher verstehen, denn die Voraussetzungen, unter denen das Versprechen gegeben worden war, hätten sich ja grundlegend geändert. Eine schöne Antwort, die die Interviewer nachvollziehen konnten, und die auch Stoff für eine echte Nachricht barg. Zugleich schien sie Kaspar, Melchior und Balthasar nicht skandalträchtig, denn des Fürsten Analyse war ja sehr pragmatisch und realitätsbezogen – abgesehen davon, dass die zweitgrößte Partei damals schon nicht die allergrößten Chancen hatte, den König zu stellen.

Die drei verabschiedeten sich also herzlich von Ihrem Interviewpartner und Kaspar und Melchior begannen mit der Verschriftlichung des Gesprächs. Als sie fertig waren, fügten sie es zusammen und schickten es an die Staatskanzlei am Fürstenhof zur „Autorisierung“.

Die Verhandlungsoption fiel aus

Am 22. Dezember jenes Jahres, gegen Abend, kam es „abgestimmt“ zurück. In weiten Teilen hatten der Fürst und/oder seine Beraterinnen nichts geändert. Nur die Antwort auf die letzte Frage. Sie lautete nun (sinngemäß): „Ich bin gerne Fürst in diesem schönen Land.“

Was tun? Die drei Lohnschreiber entschieden sich für die Verhandlungsoption. Da sollten sie aber Pech haben. Zwar verfügten sie über alle nötigen Telefonnummern, aber plötzlich, wenn auch nicht unerwartet, war niemand mehr erreichbar. Die entscheidenden Personen ließen sich unter Hinweis auf den angetretenen Weihnachtsurlaub verleugnen. Die Parteiführung des Landes war zu feige, eine Diskussion darüber zu führen. Es drängte sich der Verdacht auf, dass sie die Antwort nur manipuliert hatte, um in der Sauren-Gurken-Zeit einer öffentlichen Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Was jetzt tun? Kaspar, Melchior und Balthasar beratschlagten. Melchior hatte Wut über die Änderung des Textes in belangloses Gelaber und neigte dazu, den Ursprungstext mit einer redaktionellen Anmerkung zu veröffentlichen. Kaspar, der für die Berichterstattung aus dem Land des Fürsten zuständig war, gab zu bedenken, dass er dann mit Sicherheit nie wieder einen Interviewtermin mit dem Fürsten bekomme. Balthasar schlug vor, Frage und Antwort zu streichen und dem Fürsten einen Brief zu schreiben, dass er das als Brüskierung auffasse. So geschah es. Melchiors Ärger war aber groß genug, dass er sich vornahm, künftig so wenige Wortlautinterviews wie möglich zu führen, jedenfalls wenn sie mit der Bedingung der „Abstimmung“ gewährt würden.

Epilog #1

Ein Jahr später: Kaspar und Melchior hatten wieder einen Termin mit dem Landesfürsten, der immer noch Landesfürst war. Vor Gesprächsbeginn erinnerte Melchior den Landesfürsten an die aus seiner Sicht wenig stilvolle Art, das Interview des Vorjahres „abzustimmen“, und erklärte, dass er sich dieses Mal auf sinnverändernde Abstimmung nicht einlassen, sondern im Zweifel den Originaltext veröffentlichen werde. Der Fürst geriet in Rage, fragte hörbar ungehalten seine Adlata, was das denn zu bedeuten habe. Diese murmelte errötend eine Erklärung, bei der sie der Fürst unterbrach und sagte (sinngemäß): „Lassen wir das. Können wir jetzt mit dem Interview anfangen?“ Die Abschrift des Gesprächs, leider und erwartungsgemäß ohne spektakuläre Antworten, ging unverändert durch die „Abstimmung“.

Epilog #2

Ein weiteres Dreivierteljahr später. Ein Führungszirkel der Partei des Fürsten erklärt einen Parteifreund des Fürsten zum Kandidaten für die Thronfolge, offenbar ohne dessen Zustimmung. Damit wird der Fürst indirekt zum Rücktritt von dem Amt des Vorsitzenden genötigt. Kaspar, Melchior und Balthasar aber blieben noch eine Weile in ihren Ämtern.