Buch „Leben unter dem Hakenkreuz“ dokumentiert ein Familienschicksal
Berlin, 23. Dezember (ssl) Mit einem Bildband „Leben unter dem Hakenkreuz“ hat Dagmar Stange die Reihe der Veröffentlichungen aus ihrem Familiennachlass fortgesetzt. Wir sehen darin die NS-Normalität: In dem reichlich mit dokumentarischem Material ausgestatteten Buch versucht Stange eine Gratwanderung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit des NS-Alltags und hilft teilweise bei der Beantwortung von Fragen, die viele unmittelbar danach Geborene ihren Eltern nicht zu stellen wagten. Einige bleiben nach wie vor offen.
Das Buch ist das dritte einer Reihe, mit der Dagmar Stange die dokumentarische Hinterlassenschaft ihrer Familie aus dem 20. Jahrhundert öffentlich aufarbeitet. Es erreichte uns unaufgefordert, aber wir haben einen Bezug dazu: Vor einiger Zeit haben wir das Vorgängerbuch „Faszination Fliegen“ besprochen und daran kritisiert, dass es die Faszination im wesentlichen an biografischen Gegebenheiten ihres Onkels Hermann Benkowitz im Dritten Reich fest macht, aber kaum die Schrecken des NS-Regimes dagegen stellt, die uns Nachgeborenen diese Faszination verleiden.
Diese Kritik trifft auf das neue Buch über weite Strecken nicht zu. Hier hat Stange Stichwörter hinzugefügt, die die geschilderten Lebensabschnitte der Familie Benkowitz in den nationalsozialistischen Alltag einordnen. Das Buch ist überreich ausgestattet mit Dokumenten aus dem Nachlass ihres Onkels, die diesen Alltag in seiner oft beklemmenden Banalität belegen, vor allem aber auch mit Briefen und Karten aus der „Etappe“. Kriegsereignisse bis hin zum Tod eines Verwandten, Trennung und Vertreibung der Familie, Rationierung von Lebensmitteln, Bombenangriffe und Zerstörung weiter Teile der Heimat schildern die Beteiligten aus sehr subjektivem Blickwinkel. Ein großer Abschnitt widmet sich dem Ariernachweis, den künftige Eheleute führen mussten, bevor sie standesamtlich getraut werden und als Geschenk des NS-Staates „Mein Kampf“ in Empfang nehmen „durften“.
Auszüge aus dem Beamtenkalender
Wer sich selbst mit Vorfahren auseinandersetzen konnte, wollte oder musste, die das NS-Regime als Akteure, Mitläufer, Verfolgte oder im Widerstand miterlebt bzw. überlebt haben, findet in diesem Buch zahlreiche Dokumente, aus denen sich die damaligen Argumente untermauern lassen. Mit dem Wissen der Nachgeborenen lässt sich etwa aus dem Beamtenkalender 1939, der teilweise faksimiliert vorliegt, der ganze Schrecken dieses Regimes für jene herauslesen, die nicht ins rassistische Schema passten. Hinterher ist man immer klüger.
Daher kommt der Holocaust in dem Buch eigentlich nur in den von Stange eingefügten historischen Zeitleisten vor. Es dokumentiert auch nichts, was auf pro-aktive Unterstützung der NS-Ideologie durch Benkowitz hindeutet.
Diese Dokumentenlage passt zum Narrativ zumindest zahlreicher unserer Vorfahren („Wir wussten ja nichts“). Im Fall Benkowitz dürfte es daran gelegen haben, dass ein Zollbeamter am Frankfurter Flughafen oder in Aachen wenig mit den daraus resultierenden Aktivitäten in Berührung gekommen ist und schon gar keinen Anlass sah, den alltäglichen Faschismus und Rassismus auch noch zu archivieren. Oder einfach daran, dass eine nichtverfolgte Beamtenfamilie sich mit Fragen der Judenverfolgung und -vernichtung in der Annahme nicht auseinandergesetzt hat: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Vorhanden sind, passend dazu, allerdings die „Persilscheine“ der Alliierten, mit denen Benkowitz von einem eventuellen Vorwurf der Beteiligung an NS-Verbrechen entlastet wurde: „Auf Grund der Angaben in Ihrem Meldebogen sind Sie von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 nicht betroffen.“
Manches bleibt unerklärt
Einige sehr private Ereignisse, etwa die Unterhaltsklage von Benkowitz‘ Frau gegen ihren Mann, bleiben weitgehend unerklärt und undokumentiert. Von Scheidung ist jedenfalls nicht die Rede; die Gattin steht auch als erste unter seiner Todesanzeige, mit der das Buch endet. Was ebenfalls auch nach dem dritten Buch mit Hinterlassenschaften dieser Familie offen bleibt, ist der Zweck einiger Flugreisen des Zollbetriebsassistenten Benkowitz nach Italien, von denen zwar Einträge in Reisedokumenten erhalten sind, aber nicht der Reiseanlass. Es liest sich auch nicht so, als würde Stange das noch herausfinden können. Sie äußert aber die Vermutung, es könnten geheimdienstliche Gründe gewesen sein. So spannend das klingt, es würde den Persilschein relativieren, der als „Nationalsozialist oder Militarist“ definiert, wer „seit 30. Januar 1933… im Ausland beim Deutschen Geheimdienst … tätig war“.
Wie auch immer, das Buch dokumentiert tatsächlich „Leben unter dem Hakenkreuz“, und je weniger Überlebende aus dieser Zeit es gibt, um so wichtiger ist es, mit Büchern wie diesem die Möglichkeit der Auseinandersetzung zu erhalten. Es fördert auch das Verständnis der Tatsache, dass so viele in der gesellschaftlichen Mitte während der NS-Zeit einfach nur geschwiegen haben, weil sie ohnehin genug damit zu tun hatten, sich irgendwie durchs Leben zu kämpfen, ohne zu bedenken, welche Entwicklungen sie damit zuließen. Es heute zu verurteilen, hilft nichts; daraus zu lernen, hilft dagegen viel.
Stange selbst gibt in ihrem Vorwort ein Versäumnis zu, bei dem bestimmt viele aus ihrer (und meiner) Generation zustimmend nicken: „Ich habe nicht gefragt“, solange es noch möglich war, den Überlebenden genau das zu entlocken, was in ihren freiwilligen Erzählungen ausgespart geblieben war. Die Hemmschwelle war nicht, dass man es nicht wissen wollte, sondern dass man sich scheute, „vernarbte Wunden“ aufzureißen.
Stange, Dagmar: Leben unter dem Hakenkreuz. Familienschicksale zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich – Eine Dokumentation in Bildern und Texten. Berlin: be.bra Verlag 2019. 224 Seiten, zahlreiche Abbildungen. ISBN 978-3-89809-169-5, 34 Euro, E-Book 26,99 Euro. https://www.bebraverlag.de/verzeichnis/titel/882-leben-unter-dem-hakenkreuz.html