DB Cargo implantiert Güterwagen Sensorik und Intelligenz
Berlin, 01. Juli 2017 (ssl) „Mehr Güter auf die Schiene“ ist eine seit Jahrzehnten wiederholte Forderung, deren Erfüllung immer noch auf sich warten lässt. In absoluten Zahlen steigt zwar mit einer „Delle“ während der Krise 2008 das Güteraufkommen auf der Schiene, aber das auf der Straße wächst in ganz anderen Dimensionen. Um dieses Missverhältnis zu verbessern, bedarf es eines großen Maßes an Intelligenz nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei den Maschinen. Daher baut die Deutsche Bahn am intelligenten Güterwagen. Ein Werkstattbesuch.
Graffiti und Rost, Beulen und Flachstellen: Die Güterwagen auf den Gleisen direkt neben der Werkstatt des Rangierbahnhofs München-Nord sind durchweg „Schadwagen“. Man sieht es ihnen an. Sie werden hierher gebracht, um gewartet und repariert zu werden. Umso greller wirkt das frische Verkehrsrot des vierachsigen Güterwagens der Gattung „Shimmns“, der hier neben all den ramponierten Waggons auf einem Behandlungsgleis steht. Er ist zwar auch schon Jahrzehnte alt, aber gerade neu gestrichen, und sein Aufbau wurde modernen Erfordernissen angepasst. Er soll ganz offiziell „intelligent gemacht“ werden. Es wird nur eine kurze Operation, aber sie stellt einen großen Schritt in der Geschichte des europäischen Schienengüterverkehrs dar.
Der Fortschritt in diesem Bereich der Logistik ist nämlich eine Schnecke. Güterwagen werden noch wie vor 180 Jahren von Hand ge- und entkuppelt. Sie verfügen nicht über elektrischen Strom, auch nicht im Zugverbund. Elektronik ist auf dem Waggon kaum zu finden, dafür reichlich robuste Mechanik, Ganzmetall ist allgegenwärtig. Die Waggons danken es mit einem Lebenszyklus von 40 Jahren. Die tatsächliche Lebensdauer ist oft noch viel höher. Das hört sich zwar extrem wirtschaftlich an, bedeutet aber auch, dass es außerordentlich schwer ist, sie den immer schneller drehenden Innovationszyklen anzupassen.
So ist der Begriff „Industrie 4.0“ hier kaum anzuwenden. Wenn doch, handelt es sich bei der Operation, die Shimmns bevorsteht, um einen Sprung von 1.0 auf 4.0. In diesen Wagen werden Coils transportiert, nässeempfindliche Rollen gewalzten Stahls, aus denen zum Beispiel Autokarosserien geformt werden.
Aus Transportgut und Bestimmungsorten wird deutlich, dass es einen hohen Qualitätssprung für die Logistikkette bedeutet, wenn die Wagen mit Sensoren und Funkverbindungen ausgestattet sind. Hierher kommt der Begriff „just in time“, von dem böse Zungen behaupten, er bedeutet die Auslagerung der Materiallager auf Schiene und Straße. Wie auch immer, die Coils müssen pünktlich am Fließband sein, damit die Autos wie vorgesehen gebaut werden können.
Die Daten ermöglichen es, jederzeit nicht nur den Standort des Waggons, der Fracht und eventuelle Abweichungen vom Fahrplan an DB Cargo und den Kunden zu übermitteln, sondern auch Informationen über den Zustand der Fracht zu geben. „Wir sind kurz vor der Serienreife“, sagt Gerrit Koch to Krax, der in einem IT-Labor für digitale Innovation und Strategie der Deutschen Bahn in einem Team arbeitet, das für „Freight Wagon Intelligence“, also intelligente Güterwaggons, zuständig ist. In einem ersten Schritt sollen den 9.000 Shimmns-Waggons und Autotransportwagen von DB Cargo Sensoren implantiert werden. „Bis Ende 2020 sollen alle 69.000 Güterwagen der DB Cargo intelligent werden.“ Dafür rechnet der Konzern mit einem zweistelligen Millionenbetrag.
Mit den Sensoren und Funkverbindungen allein ist es nicht getan. Vor den Entwicklern stehen eine Reihe von Herausforderungen, die sich erst beim zweiten Blick erschließen. Klar ist, dass DB Cargo wirtschaftliche Vorteile sieht: Einiges an Wartungsaufwand lässt sich im Vorhinein diagnostizieren. Schadwagen lassen sich jenen Werken zuführen, deren Kapazität schnelle Reparatur erlaubt. Weil die Disponenten jederzeit wissen, wo ihr Waggon steht, ob er etwas geladen hat und wenn ja, was, „lässt er sich schneller drehen“, sagt Koch to Krax, also neu beladen.
Wichtig sind Standards und Kompatibilität
Aber der Kunde soll ja auch etwas davon haben. Das bedeutet, die Betriebssysteme müssen Schnittstellen zu der Kundensoftware aufweisen. Transportiert ein Wagen beispielsweise einen Container des Logistikgiganten Maersk, so ist dieser Blechkasten ebenfalls „intelligent“ und liefert Daten. Die sollten mit denen des Waggons verknüpft werden können. Außerdem sollte der Waggon mit anderen Fahrzeugen anderer Eisenbahnunternehmen kommunizieren können. Da viele Güterwagen sehr frei in weiten Teilen Europas eingesetzt werden können, ist ein europäischer Standard vonnöten. „Die Hersteller von Hard- und Software haben inzwischen auch erkannt, dass das in ihrem Interesse ist, und bemühen sich um europaweit einheitliche Standards“, sagt Koch to Krax. Es eröffnet auch diesen Herstellern größere Absatzmöglichkeiten. Dabei geht es unter anderem um den Kommunikation des Sensors mit dem Funkkasten, aber auch um die des Kastens mit dem Eisenbahnverkehrsunternehmen.
Ein eigens zur Demonstration der Möglichkeiten der Sensorkästen gebauter elektronischer „Tresen“ ermöglicht, Temperaturschwankungen, Änderungen der Luftfeuchte oder einen Stoß zu simulieren. Koch to Krax probiert sie aus und zeigt auf Tablets, dass sich die Anzeige des Waggonzustands in einer Tabelle ändert. Auf den Rechnermonitoren „landside“, also fernab des Güterwagens, erscheinen die Züge in Listenform, deren Felder Auskunft über die gemessenen Zustände geben.
Waggonseitig sind es drei handliche Kästen, die ein Bahnmitarbeiter mit dem Akkuschrauber in fünf Minuten außen und innen am Shimmns montiert hat. Energieversorgung inklusive. Je nach Typ kann sie aus Batterie, Akku und Solarzellen bestehen; auf jeden Fall soll sie sechs Jahre halten. In der „Grundversorgung“ kann der rote Waggon jetzt per Funk Auskunft über Position, Laufleistung und eventuelle Stöße geben, als Zusatzoption sind in den beiden anderen Kästen Sensoren für die Anzeigen „Beladen/leer“, Temperatur, Taupunkt und Luftfeuchtigkeit verbaut. Dazu kommen noch RFID-und NFC-Chips, die von Sensoren entlang des Gleises, etwa in einer Zugbildungsanlage – das ist der neue Begriff für Rangierbahnhof – ausgelesen werden und die Rangiervorgänge automatisieren helfen können. Wird es etwa zu feucht im Innern des Shimmns, sollte der Waggon beim nächsten Halt „mal kurz durchgelüftet werden“, damit der kostbare Stahl nicht zu rosten beginnt, sagt Koch to Krax.
In München-Nord, wo Güterwagen mit den Sensoren ausgerüstet werden, wird es demnächst noch deutlich innovativer zugehen. Zum digitalen Eisenbahnverkehr gehört nämlich auch das automatisierte Zugzusammenstellung, und vor kurzem kündigte die Deutsche Bahn im Beisein von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt an, die Gleisanlagen bei Allach noch in diesem Jahr zum „digitalen Testfeld autonomes Fahren“ aufzuwerten. Dann geht es auch um selbstfahrende Lokomotiven und andere Hilfsmittel, die mittelfristig ermöglichen sollen, dank geringerer Betriebskosten den Schienengüterverkehr auf Augenhöhe mit dem Wettbewerber Straße zu bringen.