Kannibalistische Paradiese

Neu gelesen: Georg Forsters „Reise um die Welt“ – Aufgeklärt durch Pazifik und Atlantik

©Suhrkamp/Insel Verlag

Berlin, 4. Mail (ssl) „Menschenliebe und die politischen Systeme von Europa harmonieren nicht miteinander.“ Das ist eine der Erkenntnisse des Buches, das ich gerade gelesen habe. Auch wenn knapp ein Vierteljahrtausend zwischen der Niederschrift und meiner Lektüre liegt, hat es mich in den vergangenen Wochen sehr in seinen Bann gezogen: „Eine Reise um die Welt“ von Georg Forster aus den Jahren 1778-1780. Der Autor, vor 270 Jahren geboren, ist ein wenig unterbewertet in einer Zeit, in der Aufklärung und reine wie praktische Vernunft bei vielen auf dem Prüfstand stehen.

Dem zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung 28-jährigen Forster kommt mit diesem Werk das historische Verdienst zu, die Gattung des Reiseberichts auf eine neue Stufe gehoben zu haben. Es repräsentiert die Epoche der Aufklärung, obwohl der in kritischer Distanz etwa zu Rousseau steht.

Georg Forster (1754-1794) hatte das Glück, als Assistent seines Vaters Johann Reinhold (1729-1798), einem Botaniker, im Auftrag der britischen Krone an der zweiten Weltreise von James Cook von 1774 bis 1776 teilnehmen zu dürfen. Letztlich blieb es Georg überlassen, den umfassenden Reisebericht dieser Weltreise zu schreiben und zu veröffentlichen, zunächst in englischer, dann in deutscher Sprache.

Eines der Ziele der Reise war, der Frage nachzugehen, ob es südlich des Südpolarkreises einen festen Kontinent gebe. Die historische Bedeutung der Reise für die Forschung in Natur- wie Geisteswissenschaften wird nicht dadurch geschmälert, dass Cooks Expedition und somit auch Forsters Reisebericht die Frage wahrheitswidrig mit Nein beantworten mussten, weil sie einfach nicht weit genug nach Süden fahren konnten, ohne das Leben der gesamten Mannschaft aufs Spiel zu setzen. Damit sahen sie den Kontinent schlicht nicht.

Georg Forster. Gemälde von J.H.W. Tischbein 1785

Nicht nur für Wissenschaftler, auch für Leser, die Abenteuer- und Entdeckergeschichten mögen, hält Forsters tausendseitiger Reisebericht eine Menge ergiebigen Wissens bereit. Er wechselt zwischen sachlicher Beschreibung der Topografie, von Flora und Fauna einerseits und Betrachtungen über die Zustände der dortigen Gesellschaften andererseits. Die Inselwelten dienten wegen ihr großen Distanz bis hin zur Isolation von der europäischen Zivilisation als Schaufenster früherer Entwicklungsstufen.

Forster ist zwar nicht so revolutionär, dass er die Südsee-Insulaner auf gleicher Höhe mit europäischen Gesellschaften sehen würde. Selbst am Beispiel des Kannibalismus, den er auf mehreren Inseln mitbekommt und nüchtern dokumentiert, wirft er aber sehr wohl die Frage auf, ob sich die Europäer arrogant und anmaßend über diese Gesellschaften stellen dürften, weil das quasi gottgewollt sei.

Angesichts der drohenden Klimakatastrophe ist diese Frage heute durchaus aktuell. Denn wer, wenn nicht die entwickelten Gesellschaften dieser Welt, könnten sie lindern, nachdem sie Jahrzehnte lang nicht darüber nachgedacht haben, zumindest nichts zur Verhinderung getan haben, während sie die Umwelt plünderten? Forster zweifelt sogar – etwa angesichts des Eifers der Matrosen seines eigenen Schiffes – sich mit den Frauen sexuell bis zum Exzess zu vergnügen.

Pökelfleisch und Sauerkraut

Von London über Kapstadt segelten Cook und seine Mannschaft im Sinne des Generalauftrags im wesentlichen im Süden der südlichen Hemisphäre und hielten sich sehr lange in der dortigen Inselwelt auf. Dazwischen lagen oft monatelange Aufenthalte auf hoher See, wo sie auf im Schiff gebunkertes Pökelfleisch und Sauerkraut zurückgreifen mussten und hin und wieder dicht an Meutereien vorbeigesegelt sind. Als sein Schiff „Discovery“ wieder in Kapstadt ankam, war die Besatzung einen Tag jünger geworden: Sie hatte die Datumsgrenze in West-Ost-Richtung überquert. Jahrzehnte später sollte das einer der entscheidenden Höhepunkte von Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ werden. Dass der Planet im großen und ganzen die Gestalt einer Kugel hat, bezweifelte damals übrigens niemand öffentlich.

Bei all dem Abenteuerlichen und Dramatischen, das Forster präsentiert, steigt während der Lektüre dennoch die Lust des Reisenden im 21. Jahrhundert auf die Südsee. Die Inselparadiese wurden im Anschluss an die Veröffentlichungen fürs breite Publikum zum absoluten Sehnsuchtsort, und mit wachsender Erreichbarkeit blieben sie das auch. Ob man es heute tun sollte und mit welchem Verkehrsmittel, sollte jeder in eigener Verantwortung entscheiden. Dem persönlichen Erkenntnishorizont hilft es aber schon viel weiter, Forsters Buch unter dem Blickwinkel der Relativierung aufklärerischer Überheblichkeit über die „Dritte Welt“ zu lesen.

Forster, ein glühender Befürworter der Französischen Revolution, starb mit 40 Jahren in Paris. Zuvor hatte er eine bemerkenswerte Kontroverse mit Immanuel Kant über den Rassenbegriff beim Menschen. Hier stand Forster der heutigen wissenschaftlichen Haltung deutlich näher als der große Philosoph Kant, auf den unter anderem die Ausdehnung der Diskriminierungs-Schemata von soziologischen auf geographische Dimensionen zurückgeführt werden kann. Forster hätte den Kolonialismus, wie er sich im Anschluss an die Aufklärung und mit Hilfe ihrer Philosophie entwickelte, sicher nicht gutgeheißen. Das soll die unschätzbaren Fortschritte der Aufklärung im Vergleich zu Feudalismus und Absolutismus oder Theokratie nicht leugnen, aber Fehlentwicklungen auch nicht unter den Tisch kehren.

Alexander von Humboldt jedenfalls, der selbst für mehrere Klassiker der Reiseliteratur verantwortlich ist, bezeichnete Forster in seinem Hauptwerk „Kosmos“ sogar als einen seiner Lehrer.

Forster, Georg: Reise um die Welt. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Steiner. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1967. Insel Taschenbuch 757, 1030 Seiten, mehrere Abbildungen im Text. 1. Auflage 1983, 12. Auflage 2021. ISBN 978-3-458-32457-7. 20,– €.