Nicholas Cranes „Breitengrad“ beschreibt eine chaotische Forschungsreise in den Anden
Berlin, 02. November (ssl) Vor fast 300 Jahren, im Mai 1735, brach eine französisch-spanische Forschergruppe aus dem damals bedeutenden französischen Atlantikhafen Rochefort auf, um in den Anden am Äquator der Frage nachzugehen, ob die Erde eine an den Polen abgeflachte oder eine am Äquator „zusammengedrückte“ Kugel ist. Dazu war es nötig, die Länge eines Breitengrades am Äquator mit der Länge möglichst weit im Norden oder Süden zu vergleichen. Es dauerte rund zehn Jahre, bis sie die Frage beantworten konnten, und das nur unter großen Opfern und Entbehrungen. Der Ablauf dieser Reise ist Thema des Buches „Breitengrad“ des britischen Geografen und Autors Nicholas Crane.
Die Teilnehmer der geodätischen Expedition waren ohne klare Befehlsstrukturen im Hochland von Quito und dem umliegenden Hochgebirge unterwegs, weil sich hier die Topografie unter dem Äquator am besten für die nötigen Vermessungsarbeiten zu eignen schien. Das heutige Ecuador war damals Teil des spanischen Vizekönigreichs Peru, und die spanischen Teilnehmer hatten unter anderem die Aufgabe, den Franzosen, die obengenannte Frage klären wollten, bei nötigen Verwaltungskontakten zu unterstützen. Das klappte weitgehend, und zur Verblüffung des Lesers schien auch die Herkunft aus unterschiedlichen Reichen der Verständigung nicht weiter entgegenzustehen.
Kritisch wurde es immer, wenn die Egos der Forscher aufeinander prallten und jeder seine eigenen Interessen weiterverfolgen wollte. Mehrfach trennten sie sich deswegen. Zum Zerwürfnis kam es, als der auch heute noch berühmte eigensinnige Universalgelehrte Charles-Marie de La Condamine (1701-1774), ein Freund Voltaires, auf einem Gedenkstein „vergaß“, die Namen der Spanier mit einmeißeln zu lassen. Die Nebeninteressen der Forscher hatten aber auch unerwartete Kollateralerfolge, etwa die Entdeckung des Platins.
Manchmal etwas flüchtig
Crane schildert nüchtern, oft mit unterkühltem britischen Humor die Komplexität der Reise sowohl aus geografischer, aber auch aus politischer und gruppendynamischer Sicht anschaulich zu schildern. Der Autor versäumt es dankenswerterweise auch nicht, kritisch mit den Forschern und ihrer kolonialistischen Arroganz umzugehen, indem er mehrfach darauf hinweist, dass den Abenteurern einiges an Qualen erspart geblieben wäre, wenn sie auf die Erfahrungen der Einwohner gehört hätten.
Die Übersetzung (oder das Lektorat) erscheint manchmal etwas flüchtig, wenn wir zum Beispiel etwa von „sich schlängelnden Mäandern“ lesen. Statt Fußnoten und einer schlichten Bibliografie stellt Crane ans Ende seiner Erzählung eine kommentierte Auswahl fürs tiefere Eindringen in die Materie wichtiger Bücher. Darin begründet er auch, warum er die Maße in Toisen (1,949 Meter) angibt: weil das Meter damals noch nicht als Einheit festgelegt worden war. Manchmal fügt er die Umrechnung in Fuß hinzu. Schön für seine Leser im anglo-amerikanischen Raum; in der deutschen Ausgabe hätte die Ergänzung um die Umrechnung in Meter deutlich zur Anschaulichkeit der Lektüre beigetragen. Ebenfalls am Ende des Buches findet sich eine Reihe von Bildtafeln. Sie waren mir oft zu klein. Soweit es sich um Porträts der Teilnehmer handelt, ist es noch in Ordnung, drei Bilder auf einer Buchseite unterzubringen, bei Federzeichnungen von Landschaften oder gar von Landkarten macht es aber keinen Sinn mehr.
Alles in allem eine spannende Lektüre, die viel über die Persönlichkeiten der Beteiligten aussagt. Daraus lernen wir wiederum, wie auch aus organisatorischem Chaos wichtige Erkenntnisse für die Naturwissenschaft entstehen können.
Crane, Nicholas: Breitengrad – Die wahre Geschichte der Abenteurer, die unsere Welt formten.Zürich: Midas Verlag AG 2022. Gebunden mit Schutzumschlag, zwei Karten, zahlreiche farbige Abbildungen. ISBN 978-3-038-765554. 24,– €