Anekdoten und ein Nachruf zum Tod des Kanzlers der Einheit
Berlin, 17. Juni (ssl) Helmut Kohl hat mein Selbstverständnis als politischer Journalist nachhaltig geprägt. Ehrlich gesagt, habe ich niemals das klassische Interview mit ihm geführt, anders als mit Gerhard Schröder oder Angela Merkel. Aber ich habe von 1995 bis zu seiner Abwahl 1998 zahlreiche Auslandsreisen und Parteitage mit ihm erleben dürfen, darunter auch solche mit sehr wenigen anderen Journalisten. Ich habe von ihm gelernt, wie ein professionelles zoon politicon tickt. Aber ich habe von ihm auch gelernt, dass Lust und Freude ein wesentlicher Bestandteil des Lebens ist. Nicht gelernt habe ich von ihm, wie man seine Familie behandelt. Da war er eher das abschreckende Beispiel. Der sachliche Teil des folgenden Nachrufs, im folgenden kursiv geschrieben, erschien in der heutigen Ausgabe der „Nürnberger Zeitung“. Der 17. Juni ist wahrlich ein passender Tag, um an Helmut Kohl zu denken.
Es ist nicht übertrieben, Helmut Kohl als einen der größten Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg zu bezeichnen. Er passt ohne Abstriche in die Reihe von Konrad Adenauer, Willy Brandt, Charles de Gaulle oder Jean-Claude Juncker. Kohl hat Deutschland und Europa geprägt wie kaum ein Zweiter, und die Bürger haben ihm viel zu verdanken, nicht zuletzt Frieden und Freiheit auf dem Kontinent.
Wenn ich an Helmut Kohl denke, fallen mir zuerst Reisen in alle Welt, aber auch in Deutschland ein, bei denen ich das Vergnügen – meist war es wirklich eins – hatte, dabei sein zu dürfen. Meine erste direkte Begegnung mit ihm fand im Mai 1989 auf einem Rheindampfer zwischen Oberwesel und Koblenz statt. Da durfte ich mitfahren, weil ich für die Nachrichtenagentur Associated Press in Frankfurt als Reporter arbeitete. Ich hatte den damaligen Bonner Kollegen den Termin quasi abgeschwatzt.
Außer Kohl waren noch der amerikanische Präsident George Bush (der mit H.W.), beider Ehefrauen und zahlreiche Prominente aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anwesend. Beide Uferstraßen waren an diesem glücklicherweise sonnigen Tag für den allgemeinen Verkehr gesperrt, über den Bergen des Rheintals begleiteten Hubschrauber den Dampfer, und zahlreiche Wasserpolizeiboote mit massiv bewaffneten Beamten flankierten ihn auf dem Strom.
Auf dem Schiff selbst gab es keinerlei Sicherheitsrestriktionen, nur „private Bereiche“. Trotzdem traute ich mich nicht, den Kanzler irgendetwas zu fragen. Ich hörte nur zu, wie er Bush den Rhein erklärte. In der eigentlich eher weinseligen Gegend nahm der Hinweis auf die Königsbacher Brauerei am linken Ufer einen wesentlichen Teil der Kanzlererläuterungen ein. Und sie stießen auch mit Bier an.
Kravag! Wo denn sonst?
Wesentlich weniger romantisch ging es auf einer Wahlkampftour mit Kohl irgendwo im niedersächsischen Norden zu. Ich erinnere mich nicht mehr an den Ort, war es nun Emden, Norden oder Leer, geschweige denn an die Rede Kohls. Nur daran, dass er die im hinteren Teil des Publikums vertretenen Störer beschimpfte. Eine Handvoll Bonner Journalisten wurden mit einem Full-Size-Reisebus hin und zurück gefahren, und auf der Rückfahrt war ich fast allein mit einem der Parteisprecher. (Wenn ich kann, setze ich mich immer entweder ganz vorne oder ganz hinten in Busse.) Gute Gelegenheit, mal all die Fragen zu klären, die einen schon immer umtrieben. Aber was sich mir eingegraben hat in die Erinnerung, ist der Umstand, dass wir stundenlang hinter einem Lastzug herfuhren. Links unendliche Acker- und Weideflächen, rechts unendliche Acker- und Weideflächen, und vor uns eine Lasterrückseite, auf der stand: „Versichert? Kravag, wo denn sonst?“ (Fast) jedes Mal, wenn ich heute an so einem Laster vorbeifahre, fällt es mir wieder ein, und ich bedauere den nachfolgenden Lkw-Fahrer.
Mit ihm ist am Freitag ein Mann gestorben, dessen Machtinstinkt seinesgleichen sucht. Diese Fähigkeit unterschätzten alle seine Gegner. Sie nannten ihn „Birne“ oder „den Dicken“. Sie versuchten ihn vor und nach seiner Wahl als provinziell hinzustellen, als einen, der den Aufgaben eines Kanzlers weder im Inland noch auf der diplomatischen Weltbühne gewachsen wäre. Sie irrten sich gründlich.
A propos Full-Size-Reisebus. Kohl bevorzugte es auf seinen Auslandsreisen, in solchen Bussen gefahren zu werden, weil er von dort aus einen besseren Blick auf das fremde Land hatte als aus einer Limousine. In der Regel sorgte das Protokoll dafür, dass die allererste Reihe auf der rechten (in Linksverkehr-Staaten auf der linken) Seite ausgebaut wurde, damit der große Staatslenker in der zweiten Reihe Platz genug hatte. „Ich will nicht immer nur Bürgersteige oder bestenfalls Beine von Fußgängern sehen“, rechtfertigte er sich. Heute wäre so etwas vermutlich nicht mehr möglich, weil der Mann auf dem „Beifahrersitz“ am großen Panoramafenster eine ideale Zielscheibe wäre.
Natürlich saßen auf den restlichen Plätzen auch Mitglieder der Delegation wie Minister, Botschafter, Referenten usw., die vielleicht lieber in einer repräsentativen Limousine gefahren wären, so mit Stander dran und Motorrad-Eskorte drumrum. Wenn die Delegation klein genug war und der Kanzler gut drauf war, ließ er sogar Journalisten mit in diesen Bus. Da saß man dann schon mal neben Wirtschaftsminister Günter Rexrodt oder dem Abgeordneten Volker Kauder. Die Limousinen fuhren dann natürlich trotzdem im Konvoi mit durch die Hauptstädte, nur eben leer.
Kurz vor seiner Abwahl flog Kohl im Sommer 1998 nach Boston, um an der jüdisch-amerikanischen Brandeis-Universität seinen ich-weiß-nicht-wievielten Ehrendoktortitel entgegen zu nehmen. Die Rede, die er hielt, ist überliefert: http://www.helmut-kohl.de/index.php?msg=1779. Für mich war das Interessanteste, dass auf dem Podium auch Arthur Miller saß. Mit ihm wurde ein Dramatiker ausgezeichnet, den ich schätzte, der aber auch einmal mit Marilyn Monroe verheiratet war. Solche Menschen der Zeitgeschichte wie Miller waren damals wesentlich „unerreichbarer“ für mich als Kohl. In der Liste der Ehrendoktoren der Brandeis-University finden sich so prominente Namen aus Vergangenheit und Gegenwart wie Harry Belafonte oder Marc Chagall.
Bei dieser Reise war ich mit meinem dpa-Kollegen und Freund Gerd Reuter ziemlich exklusiv dabei. (Wir wiesen bei solchen Gelegenheiten unsere Gesprächspartner gerne darauf hin, dass alles, was sie uns sagen würden, bei 99 Prozent der deutschen Medien ankommen würde und sie deshalb andere Journalisten gar nicht erst zu bemühen brauchten.) Trotz beginnenden Wahlkampfes im Mai 1998 war es eine Zeit, wo das Interesse an Kohl schon so weit zurückgegangen war, dass die meisten Verlage die Kosten für diese Reise scheuten. Überdies waren keine politischen Gespräche vorgesehen, jedenfalls keine, von denen wir wussten.
In kleiner Besetzung
Die kleine Besetzung hatte zur Folge, dass „wir“ – der Kanzler, sein Referent Neuer, sein Medienchef Fritzenkötter und die Journalisten – im Anschluss an die Doktorwürden-Verleihung noch zu einem Italiener zum Essen gingen. Kohl war aufgeräumt wie selten und hörte selbst uns Journalisten lange und aufmerksam zu. Er bedauerte Agenturjournalisten, weil die im Verhältnis zu ihrem Arbeitspensum und ihrer Verantwortung zu schlecht bezahlt würden. Gerd und ich pflichteten ihm heftig bei und ermunterten ihn, diese Ansicht bei passenden Gelegenheiten mit unseren Chefs doch weiter zu besprechen.
Der Bundeskanzler nahm sich auf dem Rückflug recht lange Zeit für das berühmte Hintergrundgespräch mit den Journalisten. Gerd und ich überlegten vorher, was wir ihn fragen sollten und beschlossen folgenden Gesprächseinstieg: „Was tun Sie, wenn Sie die Bundestagswahl gewinnen?“ Und wider Erwarten fing er an zu reden: Er falle ihm sehr schwer, einen Nachfolger zu benennen. (Bisher hatte er sich immer geweigert, dazu irgendetwas zu sagen.) Wolfgang Schäuble wolle er es nicht zumuten, weil der ja im Rollstuhl säße. Der wäre physisch mit der Arbeit eines Bundeskanzlers überfordert. Tatsächlich hatte er früher Schäuble als quasi natürlichen Nachfolger genannt, und der hatte sich auch nicht gerade gesträubt. Wir glaubten, das Argument mit dem Rollstuhl war vorgeschoben, weil das Verhältnis Kohls zu Schäuble zu diesem Zeitpunkt schon schlecht war. Der etwa gleich alte Volker Rühe war damals ebenfalls ein hoch gehandelter Kandidat. Der, fuhr Kohl fort, komme eigentlich auch nicht in Frage, weil er in der CDU keine Hausmacht habe. Rühe kommt aus Hamburg, und da hat die CDU selten ein glückliches Händchen in der Landespolitik. Ganz anders Schäuble, der aus dem starken Baden-Württemberg kommt.
Kohl erzählte noch mehr, zum Schrecken des ebenfalls anwesenden Andreas Fritzenkötter. Vieles mag damals wohl wichtig gewesen sein, ist aber inzwischen der Vergessenheit anheim gefallen, zumal es ja die Übereinkunft gab, es nicht zu veröffentlichen. So trennten wir uns am nächsten Morgen am Flughafen Köln/Bonn in der Gewissheit, eine höchst informative Nacht hinter uns gebracht zu haben, und legten uns erst einmal aufs Ohr.
Schon am frühen Vormittag wurde unser Schlaf aber jäh unterbrochen: Die Redaktionen riefen an und teilten uns mit, dass Kohl sich von seinem Sprecher Peter Hausmann getrennt habe. „Wofür schicken wir euch denn auf so eine teure Reise“, wüteten wohl beide Chefredakteure, „wenn ihr nicht mal das mitkriegt!“ Tja, soviel zu der informativen Nacht mit Helmut Kohl. Hausmann zählte in der öffentlichen Wahrnehmung übrigens nicht zu den besten Kräften Kohls, und ihm als CSU-Mann wurde wenig Zugang zum Kanzler nachgesagt. Das ist ebenso eine Fehleinschätzung gewesen wie die lang anhaltende Meinung, Kohl selbst sei für das Kanzleramt unterqualifiziert.
Der Mann aus Oggersheim scharte hervorragende Fachleute um sich. Er wusste, wie er alle diese Leute, die ihm einmal nützlich werden könnten oder es schon waren, an sich binden konnte. Zugleich schaffte er sich ein Netzwerk von Menschen, auf deren Dienste er bei Gelegenheit immer wieder zurückkommen konnte. Manche sagen, er kannte in seinen besten Zeiten jeden in der CDU persönlich. Nicht alle dankten es ihm. Manche scheiterten bei Revolten gegen ihn, wie Heiner Geißler, Lothar Späth oder Kurt Biedenkopf, andere wie Wolfgang Schäuble mussten hinnehmen, wie er sich von ihnen abwandte. Wieder andere trickste er macht- und parteipolitisch genial aus, wie Franz-Josef Strauß. Und schließlich gab es Leute, die ihn intellektuell verachteten, dies aber mit Stil taten, wie Richard von Weizsäcker.
„Ihr Chefredakteur will Sie wecken!“
Kohl konnte beißend fies zu Leuten sein, die er auf dem Kieker hatte, und er nutzte etwa gegenüber Journalisten viele Gelegenheiten, sie runterzuputzen. Klingelte während einer Pressekonferenz ein Journalistenhandy, konnte dessen Besitzer einer Bemerkung wie „Ihr Chefredakteur will Sie wecken!“ gewiss sein. Die Abneigung war gegenseitig. Dem „Spiegel“ verweigerte er konsequent Interviews, und einen ansonsten hochprofessionellen „Bild“-Mitarbeiter ließ er lange Zeit nicht mit ins Flugzeug, weil der nach der Verwandlung der alten Interflug-Airbusse in Kanzlermaschinen die Toilettenbrillen vermessen und Vergleiche mit Kohls Sitzfleisch angestellt hatte.
Zu diesem Instinkt kam hohe politische Sensibilität des Historikers Kohl und die Fähigkeit, Entwicklungen und Gefahren vorherzusehen und sein politisches Handeln darauf abzustellen. 1995 wagte er nach einigen vergleichsweise unbedeutenden politischen Anschlägen im Nahen Osten eine Prognose: „Wenn aus diesem Strohfeuer ein Flächenbrand wird, müssen wir in Europa uns warm anziehen!“ Wie so oft war ihm die Metapher misslungen, aber in der Grundaussage sollte er Recht behalten.
In jener Zeit war Kohl schon am Zenit seiner Macht angelangt. Europa war weitgehend vereinigt und ein weltweit respektiertes Wirtschafts- und Politikmodell. In den neuen Bundesländern begannen die ersten Landschaften zu blühen – auch so ein Wort, das seine Gegner nicht nur verfälschten, sondern auch immer wieder gegen ihn zu verwenden versuchten, wenn es mal knirschte im innerdeutschen Ost-West-Verhältnis.
Keine medientechnisch riskanten Ausflüge
Bundeskanzler Kohl vermied es während Auslandsreisen, fragwürdige touristische Ausflüge zu unternehmen, deren Auslegung er nicht unter Kontrolle hatte. Gab es solche Punkte („Kohl reitet auf einem Kamel“) auf der Agenda, ließ er das Protokoll Journalistenprogramme in diametral entfernte Regionen organisieren. Nur der Fotograf des Bundespresseamtes durfte ihn begleiten. Während Kohl ein Kloster auf der Sinai-Halbinsel besuchte, kamen wir in den exklusiven Genuss einer Besichtigung der Pyramiden von Gizeh. Die richtigen Touristen mussten für drei Stunden draußen bleiben, überall standen weiße Peugeots mit je vier Security Guys, und kompetente Führer übersetzten uns die Hieroglyphen.
Einmal misslang ihm dieser Versuch, und zwar ausgerechnet auf einer seiner längsten Auslandsreisen mit nur wenigen Journalisten seines Vertrauens. Sie führte über die arabische Halbinsel und Brunei nach Australien und Neuseeland während der ersten Maitage 1997. Wir kamen am Samstag in Australien an, und bis die politischen Gespräche am Montag begannen, logierten wir in der Nähe von Cairns an der Ostküste in einem hinreißend gelegenen und ausgestatteten 5-Sterne-Resort. Auf dem Programm standen Dinge wie die Besichtigung des Regenwaldes und einer Krokodilfarm, eine Fahrt mit Tauchgang (mit Kohl!) zum Great Barrier Reef und „Zeit zur freien Verfügung“. Hausmann warnte vorher die Journalisten, davon Fotos zu machen geschweige denn sie zu veröffentlichen. Samstagabend bekam ich exklusiv die neuesten Arbeitslosenzahlen aus Deutschland und lieferte sie an meine Frankfurter Redaktion, die sich nur sehr schwer davon überzeugen ließ, dass sie echt waren. Während Kohl es sich nicht nehmen ließ, am Morgen in der Lagune baden zu gehen, gönnte ich mir einen Mountainbike-Ausflug am Strand entlang. Im Meer durfte damals wegen gefährlicher Quallen nicht gebadet werden. Und kaum waren wir auf dem Weg von Cairns nach Canberra, veröffentlichte Reuters zwei Fotos von Kohl in der Badehose in der Lagune des Hotels. Die Stimmung war im Keller.
Größe unter den Scheffel stellen
Helmut Kohl hatte früh gelernt, dass ein Mann, der groß und breit daherkommt und schon eine Führungsposition innehat, nicht auch noch laut und herrschsüchtig auftreten muss, wenn er sich Respekt verschaffen will. Entsprechend gestaltete er die Rolle des ziemlich großen und starken Deutschlands in der Weltpolitik. Kohl war klar, dass Deutschland in Europa nur dann Erfolg und Einfluss haben würde, wenn es seine Größe unter den Scheffel stellte. Dies auch in Zeiten der deutschen Vereinigung beachtet zu haben, macht Kohl dann doch zum „Kanzler der Einheit“, auch wenn nicht er es war, der den Mauerfall herbeiführte. Aber er erkannte, dass es dafür nur ein kleines Zeitfenster gab, und warf sich beherzt den „Mantel der Geschichte“ um, als er ihm entgegenwehte.
Kohl konnte – selbst zu Journalisten – väterlich und hilfsbereit sein. Er hatte ein Ohr für die Nöte der Bevölkerung: „Ich bin ja auch nur ein einfacher Bundeskanzler“, kokettierte er mit dem Amt. Er hat die Öffnung der Führungsebene der CDU für Frauen energisch vorangetrieben.
Allerdings hat Kohls Leben auch dunkle Seiten. Sie wurden glücklicherweise erst nach seiner Abwahl ausgeleuchtet. Zu nennen ist die Spendenaffäre, in der er sein Ehrenwort über die Erfordernisse des Rechtsstaates stellte. Sie stürzte die CDU in eine tiefe Krise, von der sie sich nur unter Schmerzen erholte. Seine Nach-Nachfolgerin Angela Merkel brach öffentlich mit ihm und eröffnete eine neue Phase in der Parteigeschichte. Aber da war das politische Wirken Helmut Kohls für Deutschland und Europa schon denkmalwürdig.