Bahn-Vorstandschef Lutz will Kernstrecken in groß angelegter Generalsanierung nachhaltig verbessern
Berlin, 30. Mai (ssl) Genau einen Monat nach dem Ausscheiden seines Infrastrukturvorstands Ronald Pofalla, hat Deutsche-Bahn-Chef Richard Lutz den maroden Zustand des Schienennetzes als Hauptursache von Verspätungen und Zugausfällen ausgemacht und eine umfassende „Generalsanierung“ der meistfrequentierten Strecken angekündigt. Bis Ende des Jahrzehnts wolle die DB AG zusammen mit den anderen Unternehmen der Branche und dem Eigentümer Bundesregierung ein „Hochleistungsnetz mit Premium-Standard“ schaffen, kündigte Lutz am Montag (30. Mai) in Berlin an.
Es klang streckenweise wie ein Offenbarungseid, als Lutz bei der Pressekonferenz die „aktuelle betriebliche Lage“ im Schienenverkehr umriss. Eine Pünktlichkeitsrate im Fernverkehr, die unter 70 Prozent liegt, Güterzüge, die seit dem Sturmtief „Emmelinde“, also seit zehn Tagen, nicht vorankommen, sondern irgendwo zwischen Start und Ziel auf die Freigabe zur Weiterfahrt warten, Zugausfälle und andere Kalamitäten verursachten „massive Benachteiligungen für alle“, wie er sagte. Mit normalen Reparaturen kommen man nicht zu einem wünschenswerten Qualitätsniveau.
Die Bahn selbst habe im vierten Quartal 2021 bemerkt, dass die große Zahl der Baustellen am Ende keine Verbesserung bringe, sondern bestenfalls einen Zustand wieder herstelle, wie er vor der Sanierungsnotwendigkeit geherrscht habe. Dieser werde aber den derzeitigen und vor allem den zu erwartenden Belastungen nicht gerecht. Als Beispiel nannte er die Riedbahn zwischen Frankfurt (Main) und Mannheim, auf der sich wegen Bauarbeiten zurzeit die Verspätungen häufen. Wegen Zügen, die hier nicht planmäßig durchkommen, pflanzen sich Verspätungen ins gesamte Netz fort.
Deshalb will die DB AG mit einem laut Lutz neuen Sanierungskonzept vor allem die Kernstrecken angehen. „25 Prozent aller Züge nutzen zehn Prozent des Schienennetzes.“ Dennoch hake es dort am meisten.
Das „Generalsanierungs“-Konzept erfordere allerdings längere Sperrphasen auch für hochbelastete Strecken im Güterverkehr, für den zuvor allerdings Ausweichstrecken geschaffen werden sollen. Auch hier kann die Bahnstrecke durch das Oberrheintal als Beispiel dienen. Vermieden werden sollen damit Ausfälle wie 2017, als bei Rastatt die Röhre eines Neubautunnels einbrach und die darüber führenden Gleise unbefahrbar wurden. Die Bahn schaffte es damals nur unzureichend, Umleitungsstrecken für die Züge auf dieser wichtigen europäischen Güter-Transversale zwischen Rotterdam und Genua bereitzustellen. Zu den ins Auge gefassten Umleitungshilfen sollen auch Vorspänne von Dieselloks auf nicht elektrifizierten Ausweichstrecken oder gar die Verlagerung von Verkehr auf die Straße gehören. „Alle Baumaßnahmen sollen ab sofort auf ihre Korridorwirkung überprüft werden“, sagte Lutz.
Beginnen will die Bahn etwa 2024. Von da an sollen pro Jahr etwa zwei bis drei Korridore auf den Premium-Standard gebracht werden, der auch eine Digitalisierung nach aktuellen Standards und zum Beispiel Gleiswechselbetriebe umfasst, also die Befahrbarkeit aller Gleise in jede Richtung, was signaltechnisch derzeit nicht überall möglich ist. Zurzeit identifiziert die DB AG acht besonders diffizile Stellen im Netz (siehe Grafik), die jedem, der sich schon länger mit dem Unternehmen befasst, allerdings sehr bekannt vorkommen: die Bahnknoten Hamburg, Köln, Frankfurt, Stuttgart und München, das Mittel- und Oberrheintal und die Strecke Würzburg-Nürnberg. „Ende des Jahrzehnts“, so Lutz, sollen die Arbeiten dann so weit abgeschlossen sein, dass Betreiber und Fahrgäste von einer Baustellenfreiheit für jeweils mehrere Jahre ausgehen könnten. Eine finanzielle Bewertung könne es erst „in den nächsten Wochen“ geben, sagte Lutz, wenn der Plan konkreter und mit den übrigen Beteiligten, darunter die Baubranche, abgestimmt sei. Es könne sein, dass es am Anfang teuer wird, dafür werde aber wegen der ganzheitlichen Bearbeitung am Schluss der Baumaßnahmen weniger ausgegeben werden müssen.
Die nichtstaatlichen Güterbahnen, die einen Marktanteil von 55 Prozent am Schienengüterverkehr in Deutschland haben, mahnten umgehend eine Beteiligung bei der Planung der Sanierungsmaßnahmen an. „Wir stehen gerne für Diskussionen über die weitere Vorgehensweise zu Verfügung“, sagte der Vorstandsvorsitzende des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen (NEE), Ludolf Kerkeling, zu den Plänen. Die notfalls geplante Verlagerung von Verkehr auf die Straße kritisierte er allerdings scharf: Das NEE werde „um jeden Verkehr kämpfen, damit er auf der Schiene bleibt. Die DB sollte nicht schon vor den Diskussionen mit weißen Fahnen wedeln.“