Ein Blog aus dem 18. Jahrhundert

Christoph Martin Wielands Aufsätze über die französische Revolution

Christoph Martin Wieland. @ Weimar Anna Amalia Bibliothek

Die Französische Revolution als historischen Wendepunkt zu einer auch in den Regierungsformen aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft zu begreifen, ist nichts Besonderes, insbesondere nicht aus dem Abstand von mehr als zwei Jahrhunderten. Sie reiht sich in unser Verständnis historischer Entwicklungen als mehr oder weniger zwangsläufig in der unmittelbaren Folge der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der darauf folgenden Verfassung von 1787 mit ihrem berühmten Beginn „We the people“ ein. Die Entwicklung, die die Ereignisse anschließend in jenen Ländern genommen haben, die wir als „westlich aufgeklärt“ bezeichnen, lässt die Revolution bei allen Spänen, die dabei gefallen sind, für heutige Bürgerliche in durchaus positivem Licht erscheinen.

Für Zeitgenossen war dies dagegen nicht selbstverständlich, denn viele Details der Machtübernahme des „Volkes“ und der anschließenden Auseinandersetzungen zwischen Jakobinern und Girondisten sind alles andere als rühmlich. Der Erklärung der Menschenrechte, die sich immerhin heute in der Charta der Vereinten Nationen wiederfinden, stehen die willkürlichen Todesurteile des Wohlfahrtsausschusses gegenüber. Während Mittel- und Westeuropa philosophisch und politisch die Aufklärung ausarbeiteten, standen im aus vielen Kleinstaaten bestehenden Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts literarisch gerade die Sturm-und-Drang-Zeit und die darauf folgende Klassik in voller Blüte.

Der Freieheitsbaum. Aquarell auf Bleistiftzeichnung von Johann Wiolfgang von Goethe 1792. Im Hinterrgrund der Ort Schengen.

Forster, Schiller, Goethe

Die zeitgenössische Literatur diesseits des Rheins spiegelt denn auch ein breites Spektrum der Revolutions-Rezeption wider, das sehr vielfältig ist. Bekannt sind etwa die pro-revolutionären Standpunkte des „deutschen Jakobiners“ Georg Forster, oder von Friedrich Schiller, der sich aber angesichts der mit ihr verbundenen Gräueltaten abwandte. Im Gegensatz dazu positioniert sich etwa Forsters Freund Johann Wolfgang Goethe ablehnend zu den Ereignissen, was sich während und nach der Besetzung des linksrheinischen Mainz durch Revolutionstruppen noch verstärkte und im Alter, mit Jahrzehnten Abstand, einer differenzierteren Haltung wich.1

Außerhalb der Wissenschaft weniger bekannt und populär ist dagegen die Haltung Christoph Martin Wielands. Der Aufklärer und „Klassiker“, der in vielem sprachbildend für Goethe wirkte und sowohl mit diesem als auch mit Forster freundschaftlich verbunden war, hat in den 1790-er Jahren mehrere Aufsätze zur Französischen Revolution veröffentlicht. Sie entsprechen, wenn wir die Zeitumstände und -möglichkeiten berücksichtigen, dem, was wir heute einen Blog nennen würden.

Erschienen sind sie im „Neuen Teutschen Merkur“, einer von Wieland selbst gegründeten Zeitschrift. Wieland ist ein Befürworter der Revolution, die er vor allem als historischen Sieg vernunftbetonter über angeblich gottgegebene, unveränderliche Herrschaftsstrukturen begreift. Dabei verurteilt er sehr wohl die gewalttätigen und konkret überhaupt nicht mit den von den Revolutionären theoretisch vertretenen allgemeinen Menschenrechten kompatiblen Auswüchse, die sich unter anderem in Repressalien, fragwürdigen Prozessen bis zu Todes-“Urteilen“ und ganz plastisch in „patriotischen Laternenpfählen“ äußerten, also jenen, an denen Konterrevolutionäre aufgehängt wurden.

Denn für Wieland ist die Umwälzung ein – wie wir heute sagen würden – nation building, indem die Macht, nachdem sie Jahrhunderte lang in Händen einer kleinen Gruppe des Adels und des Klerus, zuletzt mit Ludwig XVI. als Marionette, gelegen hatte, endlich an die Nation übergeht, die Wieland mit dem Volk mehr oder weniger gleichsetzt.

Im Jahre 2000“

In den Aufsätzen wägt er die Argumente sorgfältig gegeneinander ab und zeigt, wie sich eine tiefgreifende, schon im Ansatz als historisch zu erkennende Entwicklung diskursiv behandeln lässt, obwohl sie die Gefühlswelt aller mindestens so stark bewegt wie heute der Klimawandel dennoch. Er bestreitet zum Beispiel, dass es darauf ankomme, die privaten Umstände der prominent Handelnden zu kennen, um ihre Werke würdigen zu können: „“Was wird sich die Welt im Jahre 2000 (sic!) darum bekümmern, wer die Männer, denen Frankreich alsdann die seinige [demokratische Verfassung] verdanken wird, in ihrem Privatleben gewesen seien?“, fragt er rhetorisch.

Eugene Delacroix: La Liberté guidant le peuple (1830)

Auch sein eigenes Gesamtbild revidiert er, ohne jedoch das Ziel aus den Augen zu verlieren. Eine Ansicht bleibt allerdings bestehen; sie hat sich auch erst Jahrzehnte später als Irrtum herausgestellt: Wieland meinte, Demokratie lasse sich nicht in einem zentralistischen Flächenstaat mit einer mächtigen, tonangebenden Metropole wie Frankreich mit Paris verwirklichen, sondern es bedürfe kleinerer Einheiten etwa wie im klassischen Griechenland, damit sie funktioniert.

Die Hauptschwierigkeit: „… Frankreich, ehemals die mächtigste Monarchie in Europa, eine Nation von wenigstens 24 Millionen Menschen, die sich … ohne übertriebenen Stolz für die erste in der Welt halten konnte, ein Reich, das aus einer Menge sehr ungleichartiger und sehr verschiednes Interesse habender Teile in zwölf Jahrhunderten nach und nach zusammengewachsen war, ohne jemals ein wohlorganisiertes Ganzes gewesen zu sein – ein solches Reich soll auf einmal in eine einzige reine Demokratie verwandelt werden.“

Schachtelsätze

An diesem Zitat wird schon ansatzweise ein zwar überwindbares, aber dennoch immer wieder auftretendes Hindernis der fruchtbaren Lektüre deutlich: Die Differenziertheit von Wielands Argumentation, das offensichtliche Bedürfnis, auch Seitenaspekte zu berücksichtigen, bewirkt einen stark hypotaktischen Satzbau. Dass viele Thomas Mann immer wieder als Ikone langer verschachtelter Sätze hinstellen, kann nur daran liegen, dass sie Wieland nicht gelesen haben.

Noch ein Manko hat die von mir gelesene Ausgabe, das aber viele Sachbücher oder klassische Literatur betrifft: Es hat nur Endnoten. Ich halte das für akzeptabel, solange die Noten nur Quellenangaben betreffen. Sollen aber Nichtfachleute an der Lektüre Spaß haben (und für solche war die „Bibliothek deutscher Klassiker“ in der DDR gedacht), dann ist es praktischer, wenn lexikalische Anmerkungen auch als Fußnoten, also am Fuß jeder Seite, aufgeführt werden. Ich gebe allerdings aus eigener Erfahrung zu, dass das zur Zeit dieser Publikation mit Layout-Schwierigkeiten verbunden war.

1 Zu Forster und Goethe, die beide auf verschiedenen Seiten direkt an den kriegerischen Ereignissen in der Folge der Revolution teilnahmen, gibt es ein schönes Buch aus der DDR, das beide Standpunkte gegenüberstellt: Jäckel, Günther (Hrsg.): Der Freiheitsbaum. Die französische Revolution in Schilderungen Goethes und Forsters 1792/93. Berlin (DDR): Verlag der Nation 1983.

Gelesen in: Christoph Martin Wieland. Werke in vier Bänden. Bibliothek deutscher Klassiker. Berlin (DDR) und Weimar: Aufbau Verlag 1969. (Ganzleinen!) Bd. 4

Zuerst erschienen: 1789-1794 im „Neuen Teutschen Merkur“, als Microfiche hier kostenlos zu lesen: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/viewer/toc/2238508/1/ Zum „Neuen Teutschen Merkur“: „Offenbar war es Wielands Ziel, die genannten Nachteile der deutschen Kulturlandschaft [nämlich das Fehlen eines bedeutenden, richtungsweisenden und stilbildenden kulturellen Zentrums wie Paris] durch Schaffung eines publizistischen Bindeglieds ausgleichen zu helfen und die Bildung eines literarischen (National-)Geschmacks durch Rezensionen zu fördern.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Teutsche_Merkur )

Über den Autor: Christoph Martin Wieland (1733 Oberbolzheim bei Biberach – 1813 Weimar) war ein deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber. Er gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Aufklärung im deutschen Sprachgebiet. Er war der älteste des klassischen Viergestirns von Weimar neben Johann Gottfried Herder, Goethe und Schiller. Nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Martin_Wieland

Heute lieferbar: Christoph Martin Wieland: Meine Antworten. Aufsätze über die französische Revolution. 1789–1793. Nach den Erstdrucken im ›Teutschen Merkur‹ hrsg. von Fritz Martini. Hrsg.: Deutsches Literaturarchiv Marbach 1983. 160 Seiten. Pappbd. ISBN 3-933679-02-8, Bestell-Nr.: 22, 11,50€. Bestellbar u.a. hier: https://www.dla-marbach.de/shop/shop-einzelansicht/?tt_products%5BbackPID%5D=370&tt_products%5Bproduct%5D=211&cHash=8437903605d4f06ceaa2950878f15d27