Timo Daums Buch “Das Auto im digitalen Kapitalismus”
Berlin, 11. Oktober (ssl) Was wird in Zukunft aus dem Auto, und wer hat während und nach der Verkehrswende das Sagen? Diesen Fragen widmet sich der Physiker und Medienwissenschaftler Timo Daum in seinem Buch „Das Auto im digitalen Kapitalismus“. Es verschafft einen guten Überblick über die derzeitigen Entwicklungen und ihre Gefahren, ist aber nicht frei von Ideologie. Dennoch lohnt die Lektüre.
„Vom planetarischen Standpunkt aus betrachtet…“ beginnt ein Satz in Timo Daums Buch. Oh je, dachte ich, muss das so hoch gehängt werden? Das Buch legte ich dennoch nicht weg, denn der Satz steht erst auf Seite 110, und wenn ich schon mal so weit bin und es sich bis jetzt gelohnt hat …
Es geht darum, so das Ende des Satzes, wie ein „Überleben der Menschheit unter weiterhin kapitalistischen Vorzeichen … langfristig zu ermöglichen“ sei. Und zwar im „digitalem Kapitalismus“, denn die unausgesprochene Erkenntnis lautet, dass wir genau jetzt nicht in einem Stadium sind, wo wir diesen überwinden könnten. Noch ist ein mögliches „Danach“ ja nicht überzeugend erprobt, ja nicht einmal bestimmt worden.
Der Autor meint die zunehmende Herrschaft der großen multinationalen Tech-Konzerne über die menschlichen Aktivitäten. Unter diesen nimmt die Auto-Nutzung zum Ärger vieler, auch zum Ärger Daums, einen (noch) unverzichtbaren, hohen Stellenwert ein. Mit seinem Buch will er Wege aufzeigen, das zu ändern, und nennt drohende Gefahren. Er beginnt dafür mit einem sehr hilfreichen Überblick über die verschiedenen mehr oder weniger disruptiven Innovationen der Mobilität. Das reicht vom Hybridauto bis zum autonomen Fahren und den verschiedenen Sharing- oder Pooling-Modellen, die gerade in vielen Städten realisiert werden.
Die internationalen, teils erfolgreichen Versuche, auto-gene Verstopfung und Verschmutzung der Städte zu ändern, schildert er ebenfalls. Der Überblick ist besonders nützlich für jene, die sich häufig in Diskussionen über Fahrverbote oder andere Einschränkungen wiederfinden. Mit den Informationen lässt sich dem falschen Argument standhalten, wenn Deutschland alleine den „Vorreiter“ mache, helfe das dem Klima überhaupt nicht. Daums Aufzählung deutscher und ausländischer Maßnahmen, das Leben in den Metropolen gesünder zu gestalten, mündet in der Wertung: „Im internationalen Vergleich befinden sich deutsche Städte mobilitätspolitisch noch in den 1950-er Jahren.“
Vorsicht vor neuen Monopolen
Zugleich warnt Daum davor, dass die stets nachschüssige Gesetzgebung die Gefahr des Verlusts der Kontrolle über die Konzerne birgt. Wenn die angeblich alternativlosen Angebote und Bedürfnisse der alten (wie Volkswagen) und neuen Unternehmen (wie Uber) nicht durch demokratisch legitimierte Instanzen wie Städte, Länder, Bund oder EU reguliert werden können, besteht unter anderem das Risiko, dass immense Datenmengen unter Hinweis auf die Wettbewerbsfähigkeit der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben. Damit können die Unternehmen unkontrolliert Monopolstellungen erreichen, „too big to fail“ werden und ihrerseits die Kontrolle zum Beispiel über den öffentlichen Verkehr in der Stadt übernehmen. Die Möglichkeit, dass die Elektromobilität nur eine Elektroautomobilität wird, ist nicht ausgeschlossen, und damit wäre den Städten kaum geholfen. Das kann noch weniger gewollt sein als amtliche Kontrolle durch Menschen, die einen Eid auf das Grundgesetz geschworen haben.
Daum belässt es nicht nur bei Warnungen, er gibt – ebenso wie einige von ihm angeführte Wissenschaftler – auch Ratschläge. Etwa diesen: Die öffentlichen Verwaltungen könnten die Datenfreigabe zur Bedingung für Konzessionen machen. Je größer die Stadt, umso niveaugleicher die Augenhöhe.
Noch funktioniert das, wenn überhaupt, nur über den Rechtsweg, wie er am Beispiel eines Rasers mit einem Tesla beschreibt. Er wurde mit 197 km/h (erlaubt sind 80) auf dem Berliner Stadtring geblitzt, und die Strafverfolgungsbehörde erreichte per Gerichtsbeschluss die Freigabe der gespeicherten Fahrdaten. Danach war er sogar 207 gefahren. Zwei Quellen, keine Ausrede.
Alexa ist schon im Auto
So wohltuend dieses Ermittlungsergebnis für anständige Verkehrsteilnehmer auch sein mag, offenbart es doch, wie transparent der Mensch in seiner Eigenschaft als Autofahrer doch ist. Vergleichbares kann im Wohn- oder Schlafzimmer passieren, wenn man sich auf Alexa und Co einlässt. Im Auto sind sie schon.
Nicht im strafrechtlichen Bereich bewegt sich eine andere Mobilitäts-Begleiterscheinung der Shared Community: der zügellose Wettbewerb. Die häufig zu hörende Ansicht, vermehrtes Car-Sharing, Hail-Riding oder wie die Modelle alle heißen, würde quasi automatisch zu einer Verringerung der Autos in der Stadt führen, hat bisher zwar eine rechnerische Wahrscheinlichkeit. Aber ob wir bis zur Umsetzung einer Mobilitätswende nicht ein Zwischenstadium erleben, in dem die Betreiber in einem harten Wettbewerb die Städte mit autonom fahrenden Fahrzeugen überfluten, um einander auszubooten, das ist offen. Die derzeitige Situation mit Leihfahrrädern oder E-Scootern sollte den Stadtvätern und -müttern doch zu denken geben.
“Katastrophalste” Innovation?
All diese Aspekte diskutiert Daum in seinem Buch, und es wäre uneingeschränkt zu loben, wenn er nicht im Schlusskapitel besonders bei der Bewertung historischer Fakten manchmal fragwürdige Schlüsse zöge. So schreibt er: „Die lokale Verbrennung fossiler Brennstoffe in beweglichen Blechkisten gehört zu den katastrophalsten Entwicklungen, die die Menschheit hervorgebracht hat.“ Es ist eine sinnlose Bewertung, denn diese Innovation hatte und hat so einschneidende globale Folgen, dass niemand beschreiben kann, wie die Weltgeschichte ohne sie verlaufen wäre. Und beileibe nicht alles, was sie bewirkt hat, war „katastrophal“. Mindestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Auto unter anderem ein globaler Wohlstandstreiber, von den fliegenden und schwimmenden Blechkisten ganz abgesehen. Nebenbei wirkt der Superlativ von „katastrophal“ unfreiwillig komisch, zumal mir gerade im 19. und 20. Jahrhundert einige Innovationen einfallen, die durchaus schlimmere Folgen zeitigten.
Daum blendet außerdem einen wichtigen Zeitfaktor aus. Man muss gar nicht auf die Merkelsche Ausrede rekurrieren: „Die Leute müssen bei der Verkehrswende mitgenommen werden“, um zu prognostizieren, dass eine Umstellung auf eine vernünftige, aufgeklärte Mobilität Jahrzehnte dauert. Selbst wenn man wollte, könnte man weder die Autoproduktion ab sofort umstellen, die Zahl der Fahrzeuge in Millionen-Größenordnungen reduzieren oder die Verbrennungsmotoren vollständig aus der Wirtschaft verbannen.
Nicht ohne den ländlichen Raum
Zum dritten kommt in Daums Text höchst selten der ländliche Raum vor. Dabei liegen hier zahlreiche Ressourcen der Zukunft, und gerade hier müssen einige Voraussetzungen und Schlussfolgerungen anders bewertet und gedacht werden als im urbanen Raum. Der digitale Kapitalismus öffnet gerade eine Reihe von Chancen für eine Renaissance der Regionen. Die Details dazu sind ein anderes Thema, aber für die nahe und mittlere Zukunft wird hier das Auto unverzichtbar sein, selbst wenn wir heute mit besserem ÖPNV und zuverlässiger digitaler Vernetzung anfangen.
All das bedeutet nicht, dass man das im Individualbesitz befindliche Auto, nur weil es eine Weile lang segensreich gewirkt hat, auf ewig heilig sprechen sollte. Vielleicht können wir uns mit Daum darauf einigen, dass man es auf mittlere Sicht nur mehr dort einsetzen sollte, wo es nach vernünftigen Regeln noch geboten erscheint. Innenstädte gehören sicherlich nicht dazu. Deren demokratisch legitimierte Verwaltungen sollten großes Augenmerk darauf legen, dass die Macht der Konzerne eingehegt wird, und sich der Notwendigkeit zur Regulierung bewusst sein.
Dennoch gilt insgesamt: Auch wenn ein papiernes Werk über digitale Transformation zurzeit immer riskiert, schon vor der Veröffentlichung von der aktuellen Entwicklung abgehängt zu werden, muss man diesem Buch zugute halten, dass es den Status quo übersichtlich und verständlich zusammenfasst. Wer bis zum Schlusskapitel gelesen hat, hat von dem Überblick profitiert und wird sich über die leicht ideologisch geprägten Bewertungen sein eigenes Bild machen können.
Daum, Timo: Das Auto im digitalen Kapitalismus – Wenn Algorithmen und Daten den Verkehr bestimmten. München: oekom Verlag 2019. 190 Seiten, Paperback. ISBN 978-3-96238-141-7, www.oekom.de , 18 Euro.