Der Neuaufbau der Bahnstrecke im Süden und Osten Usedoms ist wieder im Gespräch
Berlin, 9. Juni (ssl) Schon von weitem prägt ein Stahlkoloss die Landschaft im Süden der Insel Usedom. Die 51 Meter hohe Karniner Brücke ist ein Denkmal der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Die Hubbrücke ist das Mittelstück einer einst zweigleisigen, 360 Meter langen Eisenbahnverbindung vom Festland auf die Insel und nach Swinemünde. Hier wurde militärische Ausrüstung in großen Mengen zur Heeres-Versuchsanstalt Peenemünde mit ihren Raketentestanlagen transportiert. Daneben beförderte die Bahn Touristen zu den florierenden drei “Kaiserbädern” Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin. Auch Güterzüge fuhren ins damals deutsche Swinemünde.
Die landseitigen Teile der Brücke sprengte die Wehrmacht 1945, um der Sowjetarmee den Vormarsch zu erschweren. Die eigentliche Hubbrücke schwebt seitdem in 38 Meter Höhe über der ehemaligen Fahrrinne. Obwohl hohe Schiffe drunter durch kämen, fahren sie nun gleichwohl „außen herum“. Ein Parkplatz und Aussichtsplattformen ermöglichen Touristen auf der Usedomer Seite den Blick auf die Hubbrücke.
Die Schienen der einstigen Bahn von Ducherow in Vorpommern nach Swinemünde sind zwar weitgehend abgebaut, aber die gesamte Trasse ist noch im Besitz der DB Netz AG, fast völlig von Bebauung freigehalten und niemals entwidmet worden. Nur deshalb, so erklärt der Geschäftsführer der Usedomer Bäderbahn (UBB), Jörgen Boße, ist ein Wiederaufbau samt Inbetriebnahme heute realistisch. Die Usedomer Eisenbahnfreunde und andere wollen sie ebenso wieder in Betrieb nehmen wie die UBB und ihr Geschäftsführer Boße. Gegen das Projekt wendet sich eine Bürgerinitiativ namens Karnin 21, deren Logo hauptsächlich in dem gleichnamigen kleinen Dorf auf der Inselseite der Trasse zu sehen ist.
Die Befürworter stellen sich Fern- und Güterverkehr von Berlin in die polnische Hafenstadt Swinemünde und touristischen Verkehr zu den Seebädern als Nutzung vor und argumentieren mit drastischen Fahrzeitverkürzungen im Vergleich mit den heutigen Bahnverbindungen über die Wolgaster Brücke. Außerdem drohen sie gewissermaßen damit, dass Polen eine EU-Zusage zur Finanzierung eines Tunnels unter der Swine erhalten habe, aus dem sich Tausende von Lastzügen in die schmalen Straßen Usedoms zu ergießen drohten. Die Swine, die Wasserstraße zwischen dem Stettiner Haff und der Ostsee, praktisch die Verlängerung der Oder ins Meer, teilt Swinemünde.
Die bessere Erreichbarkeit der deutschen Ostseebäder per Bahn und der derzeitige Boom in Swinemünde, wo innerhalb von wenigen Jahren ganze Kurviertel am langen Sandstrand entstanden sind, sollen für ordentlich Zuwachs an Verkehr und letztlich für die Wirtschaftlichkeit der Strecke bürgen, die als internationale Verbindung im Bundesverkehrswegeplan 2015 steht.
Die Gegner finden, dass die derzeitige Verbindung ausreicht und eine Wiederbelebung die dortige Naturlandschaft beeinträchtigen könnte. Sie halten den Neubau der Verbindung Ducherow – Swinemünde für Geldverschwendung und schlagen vor, stattdessen die bestehende Verbindung Berlin-Stettin-Swinemünde bis zum Anschluss an die Endstation der Usedomer Bäderbahn zu verlängern.
Die Modelle zur Wiederbelebung der Karniner Bahn sehen eine eingleisige Verbindung mit zwei Ausweichbahnhöfen vor. Für die Querung des „Stroms“ zwischen Usedom und dem Festland an Stelle der Hubbrücke gibt es laut Boße mehrere Varianten, deren Kosten er mit 120 bis 140 Millionen Euro beziffert. Eine Wiederinbetriebnahme der alten Hubbrücke sei zwar möglich, aber nicht wirtschaftlich, meint er. Realistisch nennt er einmal den totalen Abriss der Hubbrücke, zum zweiten die Versetzung des Denkmals nach Osten, um auf der eigentlichen Trasse Platz für eine neue Klappbrücke zu schaffen, und schließlich die interessanteste Lösung: die Führung des Gleises „auf der unteren Etage“ mitten durch die Hubbrücken-Konstruktion.
Wer nicht nur den Protagonisten der beiden Seiten zuhört, sondern auch Fahrpläne und Karten studiert, der erkennt, dass sie schon am Anfang der Auseinandersetzung nach dem Motto „tarnen, täuschen, tricksen“ vorgehen. Während die Befürworter der Südstrecke von einer aktuellen Fahrzeit von viereinhalb Stunden zwischen Berlin und Usedom sprechen, sind es tatsächlich nur knapp vier Stunden. Künftig sollen es dann knapp drei sein, während auch gerne mal behauptet wird, es ginge auch in zwei Stunden. Die geringfügig erscheinenden drei Kilometer, um die die Strecke Berlin-Stettin-Swinemünde bis nach Swinemünde-West zur UBB verlängert werden müsste, beinhalten eine Querung der Hochseewasserstraße Swine und eine Führung durch die Innenstadt von Swinemünde. Und selbst wenn das Projekt jetzt im Bundesverkehrswegeplan Priorität erlangen würde, gingen noch Jahrzehnte ins Land, bis der erste Zug wieder über den Strom an der Stelle fahren würde, wo einst die Wehrmacht ihre eigenen Anlagen in die Luft jagte.
Ein Taxifahrer auf Usedom antwortet auf die Frage, was er vom Wiederaufbau der Karniner Bahn halte: „Darüber reden sie schon seit 20 Jahren hier, und darüber werden sie noch in den nächsten 20 Jahren reden.“ Recht hat er: Selbst der Befürworter Boße gibt 2035 als mögliches Jahr der Realisierung an.