Viel Abenteuer und ein Klassiker aus Weimar

Meine Lektüre im dritten Quartal 2022 – Thomas Mann, Michael Palin, Hans Leister und andere

Berlin, 30. September 2022 (ssl) Dreizehn Bücher waren die Summe meiner Leseerfahrung im dritten Quartal. Die hohe Zahl erklärt sich daraus, dass es etliche Geschenke gab, aber auch daraus, dass Corona-umständehalber mehr Zeit zum Lesen da war. Das Spektrum reichte vom spannenden Thriller, der aus der Gegenwart in die Zukunft führt, über Eisenbahnbücher aller Art, einen Thomas-Mann-Klassiker zwischen historischen Deckeln bis hin zu den für mich unentbehrlichen Schilderungen echter oder fiktiver Abenteuer bei der Weltentdeckung. Auch ein Buch aus der NS-Zeit ist dabei. Und schon wieder ist einer der Autoren, Michael Palin, ein ehemaliger Präsident der Royal Geographic Society und in Personalunion Mitglied der Monty-Python-Truppe. Ein anderer war Francis Younghusband, #56, siehe hier.

Zur Systematik, oder besser gesagt: Anarchie, der Buchauswahl finden Sie etwas ganz am Ende der Aufstellung.

(71) Leister, Hans: Das U-Boot. Thriller

Gelesen als: 1. Auflage. München: Benevento Verlag 2022. Gebunden mit Lesebändchen, 408 Seiten. ISBN 978-3-7109-0123-2, 22,– €

Über den Autor: Leister (*1952) studierte Wirtschaftsingenieurwesen. Lange arbeitete er als Sprecher verschiedener Bahnunternehmen, seit 2014 arbeitet er eigenen Angaben zufolge als Berater. Sein erster Thriller „Der Tunnel“ erschien 2018. Leister lebt am Stadtrand von Berlin. (Klappentext)

Inhaltsangabe: Apokalyptische Katastrophe, die unter wenigen anderen die Insassinnen eines israelischen U-Bootes überleben. (Ausführliche Besprechung siehe hier.

Anlass der Lektüre: Der Autor bot es mir als Rezensionsexemplar an.

Bewertung: Ein Thriller, sehr spannend, der von dem ohnehin spannenden realitätsnahen Plot in dystopische Handlungen übergeht. Klaustrophob*innen sollten es nur mit griffbereiten Tabletten lesen. Alle anderen können sich nach der Lektüre freuen, dass es (noch?) Fiktion ist.

© Benevento Verlag

(72) Rudis, Jaroslaw: Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen

Vorderer Vorsatz von “Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen” (Ausschnitt). ©Piper Verlag GmbH München, Karte: Peter Palm, Berlin

Gelesen als: 2. Auflage 2021 (1. Auflage auch 2021), München: Piper Verlag, Gebunden, Softcover, 256 Seiten, zwei Karten im Vorsatz, ISBN 978-3-492-27749-5

Über den Autor: Jaroslaw Rudis, * 8. Juni 1972 in Turnov (Tschechoslowakei), schreibt in deutscher und tschechischer Sprache. Er studierte in Prag Germanistik, Geschichte und Journalistik und lebt laut Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Jaroslav_Rudi%C5%A1) in Prag, laut Klappentext des Buches in Berlin. Neben Romanen („Grandhotel“ 2006) schreibt er Theaterstücke und Graphic Novels, darin gibt es eine inzwischen bekannte Hauptperson und Titelfigur Alois Nebel. Er erhielt bereits zahlreiche Literaturpreise, aber auch den Verdienstorden der Bundesrepublik für die deutsch-tschechische Verständigung.

Inhaltsangabe: Das Buch versammelt verschiedene Erzählungen, teils persönlich gefärbt, über die Liebe des Autors zur Eisenbahn und zu Eisenbahnern, insbesondere zur Eisenbahn alten Stils, wie es sie in Mittel- und vor allem in Mittelosteuropa noch vielfach gibt. Erinnert sei an die immer noch wie ein richtiges Restaurant bewirtschafteten EuroCity-Züge zwischen Hamburg und Prag sowie zwischen Prag und Wien. Was manche jetzt erst dank des Neun-Euro-Tickets entdecken, praktiziert Rudis, teils allein, teils mit Freunden seit Jahren: mit der Eisenbahn zwischen Sizilien und Finnland nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ verreisen und dabei mit Menschen in Kontakt kommen. Sehr angetan haben es ihm dabei Bahnhofsgaststätten von der einfachen Imbissbude bis zum „Train Bleu“ im Pariser Gare de Lyon. Nach allem, was er so schreibt, scheint er auch ein großer Bierkenner zu sein.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Eisenbahnfans (wie ich) haben ihre wahre Freude an dem Buch. Sie müssen endlich einmal 250 Seiten lang nicht ständig über Verspätungen, unzureichenden Service und andere Defizite der Bahn lesen, sondern können so tun, als gebe es noch die gute alte Eisenbahn. Wenn man nicht von Terminplänen getrieben ist und sich die richtigen Strecken aussucht, stimmt das ja auch. Völlig unaufgeregt sind seine Erzählungen auch eine Darstellung der wechselhaften und sehr gewalttätigen Auseinandersetzungen in Mitteluropa, an denen die Eisenbahn ihren Anteil hat und unter denen sie teilweise sehr gelitten hat. Lesenswerte Darstellung des „Mitgefangen, mitgehangen“ in unserer Erdregion, das zurzeit wieder im Mittelpunkt der politischen Diskussionen steht, von denen auch Rudis schon erste Andeutungen wahrnimmt.

(73) Palin, Michael: Erebus – Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See. Aus dem Englischen von Rudolf Mast.

©Goldmann Verlag

Gelesen als: 1. Auflage des Taschenbuchs. München: Wilhelm Goldmann Verlag 2021. 460 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe und S/W, mehrere Karten. ISBN 978-3-442-14267-5, 14,– €. (1. Auflage des englischen Originals:Erebus. The Story of a Ship. Hutchinson, Penguin Random House, London 2018)

Über den Autor: Sir Michael Palin (*1943 in Sheffield) ist Historiker, Reisejournalist und ehemaliger Präsident der Royal Geographic Society. Einer größeren Öffentlichkeit in Deutschland ist er jedoch bekannt als Mitglied der legendären Comedygruppe von Monty Python. Er wurde Ende 2018 von der Queen zum Ritter geschlagen. Palin lebt in London.

Inhaltsangabe: Darstellung der Antarktis- und Arktis-Expeditionen des britischen Forschungsschiffs „Erebus“ Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Schiff samt dem Schwesterschiff „Terror“ galt rund 150 Jahre als verschollen, nachdem es bei dem Versuch, die Nordwestpassage zu durchschiffen, an massiven Eisbarrieren scheiterte. Die Besatzungen nahmen nach drei ungewöhnlich kalten Wintern im Norden Kanadas ein tragisches Ende. Die genauen Umstände des Todes vieler Besatzungsmitglieder wurden bisher noch nicht im letzten Detail geklärt. Die Suche nach ihnen und den Schiffen endete nie ganz; 2014 wurde die „Erebus“ und 2016 die „Terror“ entdeckt, was Palin eigenen Angaben zufolge zu dem Buch motivierte.

Anlass der Lektüre: Geschenk

Bewertung: Der Auslöser meiner Polarexpeditions-Philie war das Schicksal von Ernest Shackletons Antarktis-Reise. Den einschlägigen Büchern darüber folgten Werke über die Reise der „Belgica“(#65) und das Schicksal des wohl berühmtesten Polarforschers Roald Amundsen (#70). So lag zwangsläufig dieses Buch auf meinem Gabentisch. Es enttäuschte nicht. Der Autor überrascht hin und wieder damit, dass er auf Ross’ bzw. Franklins Spuren unterwegs ist bis hin ins Polarmeer, und seinen Schilderungen dadurch noch mehr Farbe verleiht. Da ich die Reisen gerne auch mit dem Finger auf der Landkarte verfolge, kann ich das Kartenmaterial nur loben. Für eine Taschenbuchausgabe ist „Erebus“ darüber hinaus großzügig illustriert. Es ist eigentlich keine Monographie über das Schiff, sondern ein Genrebild der (besseren) viktorianischen Gesellschaft samt ihrer imperial-kolonialen Vorstellungen, die der Autor durchaus kritisch reflektiert. Leseempfehlung. Im kommenden Winter dürfte solche Lektüre eine geringere Zimmertemperatur wegen möglicherweise heruntergedrehter Heizungen deutlich leichter aushalten lassen.

(74) Bonnett, Alastair: Die allerseltsamsten Orte der Welt

Lieferbar als: München: C.H.Beck 2019, gelesen als Paperback, 1. Auflage 2022. 268 Seiten, zahlreiche Zeichnungen von Rachel Holland, ISBN 978-3-406-78255-8, 14,95 €

Über den Autor: Alastair Bonnett (*1964) lebt und unterrichtet als Hochschullehrer der Sozialgeografie in Newcastle (UK). Er blickt auf zahlreiche Veröffentlichungen zurück, die nicht nur tatsächliche geographische Gegebenheiten, sondern auch ideologische Voraussetzungen und aktuelle ethnologische und politische Diskussionen und Entwicklungen in den Fokus nehmen.

Inhaltsangabe: Der Titel lebt von einem leichten Understatement und geht manchmal auch ein bisschen an den Themen vorbei; so ist beispielsweise ein Kapitel dem Islamischen Staat gewidmet.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Abwechslungsreich, unterhaltsam und lehrreich. Wir lernen sowohl etwas über eher harmlose Phänomene wie aufsteigende Inseln im Bottnischen Meerbusen als auch über den Islamischen Staat, Neurussland (der Begriff, auf dem Putin seine Argumentation zum Angriffskrieg auf die Ukraine aufbaut), aber auch über die Arktis und die dort schwelenden Auseinandersetzungen unter den Anrainern um Hoheits- und Verkehrsrechte.

(75) Franzke, Glaser u.a.: Marx meets Wilson. Der Philosoph und der Lokomotivführer der ersten deutschen Eisenbahn

© Schrenk Verlag Röttenbach

Lieferbar als: Röttenbach: Schrenk Verlag 2018. Nummer 20 der Reihe „Buchfranken – Bücher über und aus Franken“. Paperback, 134 Seiten, zahlreiche SW-Fotos. ISBNM 978-3-924-270292. 14,90€

Über den Autor: Unter den Autoren sind besonders hervorzuheben: Jürgen Franzke (*1946), von 1996 bis 2011 Direktor des DB Museums in Nürnberg, und Hermann Glaser (*1928 Nürnberg – 2018), von 1964-1990 Kulturdezernent in Nürnberg. Zusammen mit Hilmar Hoffman einer der einflussreichsten SPD-Kulturpolitiker der Nachkriegszeit. Autor zahlreicher kulturhistorischer und -politischer Standardwerke, darunter „Spießer-Ideologie“ und „Weshalb heißt das Bett nicht Bild?“

Inhaltsangabe: Darstellung der Geschichte der ersten Eisenbahn auf deutschem Boden, ergänzt um die Geschichte der einschlägigen Fahrzeuge. Diskussion der Frage, ob der Lokführer William Wilson und Karl Marx, die Zeitgenossen waren, sich getroffen bzw. voneinander gewusst haben könnten, und wenn ja, wie man sich das vorzustellen hätte.

Anlass der Lektüre: Geschenk

Bewertung: Unterhaltsame Darstellung. Frischt marxistische Grundbegriffe wieder auf, ebenso wie die historischen Bedingungen der ersten deutschen Eisenbahn und die Entwicklung der urbanen Region zwischen Nürnberg und Fürth von 1835 bis heute. Wenn schon „Facts & Fakes“ auf dem Umschlag steht, hätten die Fakes (also das Spekulieren über ein mögliches Treffen der beiden Zeitgenossen) etwas umfangreicher ausfallen können. Mir jedenfalls fielen bei der Lektüre etliche Ausbaumöglichkeiten ein.

(76) Rajesh, Monisha: Zugvögel – Reisen mit der Eisenbahn auf den schönsten Strecken der Welt

Lieferbar als: Berlin: Die Gestalten Verlag GmbH 2022. 290 Seiten, Großformat, gebunden, zahlreiche farbige Abbildungen und Karten. ISBN 978-3-967-040340. 39,– €

Über den Autor: Rajesh (*1982) ist eine indischstämmige Reisejournalistin, die neben Zeitschriftenbeiträgen sich mit ihrem ersten Buch „Around India in 80 Trains“ als Eisenbahnfan outete. Das Buch war so erfolgreich, dass sie weitermachte.

Inhaltsangabe: Der vorliegende Band versammelt Reisebeschreibungen aus Zügen auf allen Kontinenten, auf denen Schienen liegen. Meist handelt es sich dabei um Luxus- oder nostalgische Züge (im krassen Gegensatz zu #72). Es lebt von seinen großformatigen Abbildungen von meist hoher Qualität.

Anlass der Lektüre: Geburtstagsgeschenk

Bewertung: Durchwachsen. Manchen Beiträgen ist anzumerken, dass die Autorin wahrscheinlich nicht selbst mit dem beschriebenen Zug gefahren ist. Wenn doch, hat sie die Eindrücke nicht umfangreich verarbeitet. In den Quellenangaben ist das indirekt ersichtlich durch die Danksagungen an die jeweiligen Veranstalter. Andere wiederum glänzen durch die Empathie, aber auch mit teils kritischer Beschreibung der Fahrtumstände und der politischen Historie der Landschaften, durch die der Zug fährt. Den Satz „Den ‚originalen Orient-Express‘ gab es entgegen aller an Bord kursierender Gerüchte nie“ würde ich allerdings so nicht unterschreiben. Die Übersetzung ist bei vielen Beiträgen (besonders bei den kurzen) ziemlich einfallslos und lässt wenig Einfühlungsvermögen in die Materie erkennen. Unter dem Strich dennoch ein schönes Buch für den Couchtisch, um Lust auf Kreuzfahrten auf der Schiene zu bekommen oder einfach nur einmal die Erlebnisse eigener entsprechender Reisen Revue passieren zu lassen und mit den Bildern in die Eisenbahnwelten nah und fern einzutauchen.

(77) Johann, A.E.: Die Wildnis aber schweigt

© Herbig Verlag München, Berlin

Gelesen als: München/Berlin: F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung 1986. Gebunden, Scbutzumschlag, 492 Seiten. ISBN 3-7766-1420-X

Heute lieferbar: Derzeit nur antiquarisch.

Über den Autor: Alfred Ernst Johann Wollschläger (*1901 Bromberg [heute Bydgoszcz, Polen] – 1996 Oerrel/Lüneburger Heide) gilt als einer der erfolgreichsten deutschen Reiseschriftsteller des 20. Jahrhunderts. Sein bevorzugtes Reisegebiet und das Land, in dem er selbst eine Zeitlang lebte, ist Kanada. Die Bücher darüber („Traumland British Columbia“) haben mich in den 70-er Jahren zum Kanada-Fan gemacht, und es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre dorthin ausgewandert. Erst spät kümmerte ich mich um die Vita Johanns und seine Philosophie, die auch ein paar nicht ganz so weiße Flecken in den 1930-er und 1940-er Jahren aufwies. Und er war natürlich ein echter Konservativer, der aber, wie das Buch zeigt, zumindest im Alter durchaus aufnahmefähig für alternative Ansichten war.

Inhaltsangabe: Erfolgreicher, aber genervter Manager steigt im Alter von 50 Jahren nach dem Tod seiner Frau aus der Hektik des urbanen (deutschen) Alltags aus und siedelt sich in extremer Einsamkeit im Westen Kanadas an. Dort lernt er, dass es wirkliche autarke Einsamkeit nicht gibt und der Mensch des 20. Jahrhunderts auch dort, will er nicht elend verrecken oder zum absoluten Sonderling werden (denn der Wildnis ist es egal, ob er sie entzückt betrachtet oder darin umkommt. Sie schweigt.), in soziale Zusammenhänge eingebunden ist. Am Ende bleibt er in der Gegend, zieht aber mit Nachbarn ein Touristen-Resort auf.

Anlass der Lektüre: Stand im Bücherregal. Ich konnte mich nicht mehr an den Inhalt erinnern, hatte aber Sehnsucht nach B.C.)

Bewertung: Nur wenig entwickelt Johann die Frustration des Managers, die zur Auswanderung führt, anhand üblicher (Vor-?) Urteile über das stressige Managerleben und anhand des Schicksalsschlags. Das macht die Lektüre am Anfang des Buches etwas mühsam. Die Entwicklung des Charakters anhand der Herausforderungen der Wildnis ebenso wie der Community im Chilcotin Country ist allerdings gelungen. Mit Dialogen hat Johann es nicht so. Die Menschen im Buch, wenn sie überhaupt zu mehr als „Guten Tag und Guten Weg“ willens und fähig sind, äußern sich in langen Monologen, die wenig sprachliche Varianz aufweisen, ob sie nun von Hippies, ehemaligen Models oder Ranchern und Trappern vorgetragen werden. Die inneren Monologe der Hauptfigur wirken dagegen glaubhaft und sind für mich nachvollziehbar. Sollte die Sieben-Jahre-Bewährungs-Konstruktion gegen Ende des Buches an Plots deutscher Hausmärchen erinnern, würde ich sie für fehl am Platze halten. Und ob er den Cherokee Chief, also den Geländewagen, nun wirklich so sehr feiern musste, frage ich mich auch. Die Problematik des Verdrängens der Ureinwohner kommt nicht zur Sprache. Für Fans des nicht mehr so wilden Westens bleibt es dennoch eine schöne Lektüre, in deren Welt sich gut eintauchen lässt.

(78) Ambrose, Stephen E.: Nothing Like It in the World – The Men Who Built the Transcontinental Railroad 1863-1869

©Simon&Schuster. Umschalgdesign Jackie Seow, Illustration Courtesy of Union Pacific Historical Collection

Gelesen als: New York u.a.: Simon & Schuster 2000. Gebunden mit Schutzumschlag, 432 Seiten, zahlreiche Karten und Abbildungen, ISBN 0-684-84609-8.

Heute lieferbar: Antiquarisch, aber vereinzelt auch noch neu, ca. 19,–€

Über den Autor: Ambrose (1936 Decatur, Ill./USA – 2002 Bay St. Louis, Miss./USA) war ein angesehener Geschichtswissenschaftler, Professor u.a. an der Universität von New Orleans und Berater der Präsidenten Dwight D. Eisenhower und Richard Nixon. Er wurde als Redner gefeiert und hat sich mit zahlreichen umwälzenden historischen Ereignissen der Vereinigten Staaten beschäftigt. Aber (Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Stephen_E._Ambrose ): Kurz vor seinem (Lungenkrebs-) Tod wurde bekannt, „dass er in vielen seiner Werke Passagen von anderen Autoren kopiert und als eigenes Werk ausgegeben (Plagiat) hatte. Ambrose – er starb im Oktober 2002 an Lungenkrebs – konnte seinen Ruf als seriöser Wissenschaftler nicht wiederherstellen. Er sagte den Urhebern Überarbeitungen seiner Werke zu; dazu kam es vor seinem Tod nicht mehr.

Inhaltsangabe: Geschichte des Baus der transkontinentalen Eisenbahn von Omaha nach Kalifornien samt der wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen und Folgen.

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Plagiat hin, Plagiat her – ein fantastisches Buch, das sehr tief in die Geschichte dieser Großtat geht, ohne die die Vereinigten Staaten kaum hätten ein stabiles Staatsgebilde zwischen Atlantik und Pazifik hätten werden können. Heutigen Ansprüchen an die Berücksichtigung der First Nations wird es allerdings nicht ohne weiteres gerecht. Wohl aber der Rolle der unzähligen Arbeiter, die oft um den Preis ihre Lebens Terrain geglättet, Tunnel aus den Rocky Mountains gesprengt, Brücken gebaut und Schienen verlegt. Mit eventuell vorhandenen positiven Vorurteilen über die honorige Rolle von Investoren und Railroad Tycoons räumt er auf. Der überreichliche Apparat des Buches, der zum Weiterforschen animiert, lässt keinen Plagiatsverdacht aufkommen.

(79) Atlantis Verlag (Hg.): Die deutsche Nordsee – Mit einer Einleitung von Manfred Hausmann

Gelesen als: Berlin: Atlantis Verlag 1940. Ganzleinen, 285 Seiten, zahlreiche Schwarzweiß-Fotos.

Heute lieferbar: Nur noch antiquarisch.

Über den Autor: Hausmann (1898-1966) gehörte zeitweise zur Künstlerkolonie Worpswede und sein Wirken als Schriftsteller war oft stark christlich geprägt. Vor der Nazizeit ein vielgelesener Autor, veröffentlichte er auch während der Nazizeit reichlich, z.B. eben vorliegende Einleitung, was ihm später nicht zu Unrecht den Vorwurf des Mitläufertums einbrachte. Er gestand allerdings seine Rolle freimütig und wohl auch reumütig ein. In der Nachkriegszeit profilierte er sich als Gegner der schriftstellerischen Moderne um die Gruppe 47. Die Einleitung zu vorliegendem Buch ist weder von übermäßig predigerhaftem Stil noch von völkischer Ideologie geprägt.

Inhaltsangabe: Die Regionen der deutschen Nordseeküste werden im Stil eines „Heimatbuches“ vorgestellt, wie der Verlag das Werk selbst nennt. Wer danach googelt, sieht, dass das hier besprochene Buch wohl 1937 zuerst erschienen ist. Die Mehrzahl der Beiträge ist frei von NS-Tendenzen, vielmehr wirkt es, als seien die anderen – etwa der Artikel über den 1935 eingeweihten Adolf-Hitler-Koog, den heutigen Dieksanderkoog – nachträglich eingefügt worden.

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Trotz der braunen Flecken ein interessantes „Heimatbuch“. Sehr eindrucksvoll sind aber die oft ganzseitigen Schwarzweiß-Fotos, darunter einige die Ideologie entlarvende Porträts von „Ureinwohnern“ mit entsprechenden Unterschriften: „Friesen-Junge auf einer Hallig“, Blond, blauäugig, ohne Hintergrund.

(80) Knauth, Percy: Die Wälder Kanadas

Gelesen als: Time-Life International Inc. (Netherlands) 1975. Hardcover mit Schutzumschlag, 185 Seiten, viele großformatige Fotos, mehrere Karten. ISBN 90-6182076-6

Heute lieferbar: Nur noch antiquarisch.

Über den Autor: Knauth (1915-1995) war ein renommierter Journalist und Autor, der in mehreren überregionalen US-Zeitungen als Korrespondent wirkte und zahlreiche Sachbücher schrieb. (Quelle) „Er hat, seit er als Junge zum ersten Mal diese Region durchstreifte, eine besonders enge Beziehung zu den Wäldern Nordamerikas.“ (Klappentext)

Inhaltsangabe: Es geht hier um die Wälder des kanadischen Schildes zwischen den großen Seen und Alberta, also nicht um die borealen Regenwälder der Westküste. Ihre Geschichte, ihre biologische Befindlichkeit (der 1970-er Jahre) und ihre Faszination werden mit opulenten Bildern ausgebreitet. Es gibt auch einen heute aktuellen Beitrag über die Frage, ob Waldbrände zum Leben des Waldes gehören, weil er sich dadurch regenerieren kann.

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Schöner (wegen der Texte, aber vor allem wegen der Bilder) Beitrag zum Waldbild, der aber die Zersiedelung und teilweise Zerstörung dieses wichtigen Elements für das Klima der Nordhalbkugel nur ansatzweise streift.

(81) Mann, Thomas: Lotte in Weimar

Gelesen als: Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag 1946. Gebunden, 510 Seiten, Reg.-Nr. ICB 1046. Der Autor veröffentlichte bis dahin bei Bermann Fischer in Stockholm, wo 1939 auch die Erstauflage von „Lotte in Weimar“ erschien. Die gelesene Edition ist die erste Auflage des Romans, die in Deutschland erscheinen und vertrieben werden durfte. Das ist wohl auf Manns Initiative zurückzuführen, der sein deutsches Publikum wieder gewinnen wollte. Der Nichtjude Suhrkamp war quasi der Statthalter des emigrierten/ausgebürgerten jüdischen Verlegers Gottfried Bermann Fischer, der während der NS-Zeit mit dem gleichnamigen Verlag in Stockholm deutsche Exilautoren verlegte.

Ich finde das Buch relativ sehr anständig ausgestattet“, schrieb Mann aus seinem kalifornischen Exil am 11. Januar 1947 an Bermann Fischer in Stockholm, der ihm zuvor mitgeteilt hatte, es noch nicht erhalten zu haben. Bei Suhrkamp sind nur sehr wenige Werke von Thomas Mann erschienen, der sich, als es zum Streit und zur Trennung von Suhrkamp und Bermann Fischer kam, entschied, weiterhin bei Letzterem zu publizieren. Der Roman war nach Ansicht Manns in Westdeutschland „durchaus kein Erfolg“. Er hatte bis 1949 in der gelesenen Edition erst eine Auflage von 26.000 Exemplare erreicht. In der der damaligen Sowjetzone wurde er nicht aufgelegt, weil Bermann Fischer dem anfragenden Aufbau-Verlag gegen den Willen Manns aus Furcht vor nach Westen geschmuggelten Raubkopien eine Lizenz verweigerte. Nach wie vor gehört „Lotte in Weimar“ zu den am wenigsten populären Romanen des Literaturnobelpreisträgers.

Heute lieferbar: In verschiedenen Ausgaben vom Taschenbuch für 13,– € bis zur großen, kommentierten Ausgabe in zwei Bänden (Teil der Frankfurter Gesamtausgabe) für 175,– €.

Über den Autor: Thomas Mann (1875-1955) ist wohl der berühmteste deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Für seinen populärsten Roman „Buddenbrooks“ (1901) erhielt er 1929 den Literaturnobelpreis. Zeitlebens engagierte sich Mann politisch und wurde nach anfänglich eher konservativer Haltung zu einer Führungsfigur des literarischen Exils während der NS-Zeit. Noch heute gehören seine Werke zum Basiskanon deutscher Literatur. Mann gilt als Meister der Ironie und der sprachlichen Textgestaltung.

Inhaltsangabe: Der „heitere“ Roman basiert auf einer wahren Begebenheit: Eine Jugendliebe Goethes, die dieser in „Die Leiden des jungen Werthers“ als weibliche Hauptperson verewigt hat, reist 1816 als 63-Jährige, 44 Jahre nach der Begegnung mit dem nachmaligen Dichterfürsten, nach Weimar, vorgeblich um ihre dort wohnende Schwester zu besuchen, aber in Wirklichkeit, um Goethe wieder zu treffen. Da in der Stadt bekannt ist, wer sie ist, muss sie sich nicht nur der versammelten Gaffer-Menge vor dem Hotel erwehren, sondern auch zahlreiche Besuche aus dem Umkreis des Dichters und einer zeitgenössischen Paparazza erdulden, bis es zu einem eher steifen, von dem Geheimen Rat Goethe ausgerichteten Essen in seinem Haus kommt.

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Ein Hochamt deutscher Literatur, wenn man Thomas Manns Sprache mag. Schwer zu glauben, dass Mann und Ernest Hemingway Zeitgenossen waren, beide den Literaturnobelpreis bekamen, und beide denselben Leser gleichermaßen faszinieren können. Stark der fast 100 Seiten lange, nur von kurzen Interventionen der Dienerschaft unterbrochene innere Monolog Goethes im siebten Kapitel. Das Buch wurde 1939 fertig, wenige Wochen nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste. Mann legt Goethe einige Zitate über das deutsche Wesen in den Mund, die dieser so nicht gesagt hat, aber (nach Manns Meinung) durchaus gesagt haben könnte, und die klingen, als habe der Weimarer Geheime Rat schreckliche Vorahnungen gehabt, die sich mit Krieg und Holocaust schließlich erfüllt haben. Daraus wurde 1947 eine Plagiatsdebatte, die sich allerdings schnell erledigte. Mehr dazu hier

(82) Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre

Gelesen als: Fischer Taschen Bibliothek. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch 2020. Hardcover, 640 Seiten. ISBN 978-3-596-52281-1. 15,50 €. Erstausgabe: Carl Hanser Verlag München 2007.

Über den Autor: Rüdiger Safranski (*1. Januar 1945 Rottweil) ist Literaturwissenschaftler und Philosoph und hat sich sehr ausführlich mit der literarischen deutschen Romantik beschäftigt.

Inhaltsangabe: In zwei „Büchern“ beschreibt der Autor zunächst Aufstieg und Verblassen der Ideen in der Epoche der deutschen Romantik anhand ihrer Protagonisten, die er mehr (Fichte, E.T.A. Hoffmann) oder weniger (Schelling) ausführlich würdigt. Im zweiten Buch folgt die Wirkungsgeschichte dieser Ideen, die nach Safranskis Lesart sowohl Richard Wagners als auch Thomas Manns Werk ebenso wie das Entstehen des Nationalsozialismus als auch die 68-er Bewegung beeinflusst haben, ob sie es wollten oder nicht.

Anlass der Lektüre: Buch lachte mich in der Buchhandlung an.

Bewertung: Subjektiver Erkenntnisfortschritt über eine Epoche, um die ich während meines Studiums , auch wenn manche Thesen ein wenig steil sind. Es hängt halt immer davon ab, wie weit man den Romantik-Begriff fasst. Die Lektüre des nächsten Buches (#83) bestätigte aber die These hinsichtlich Thomas Mann. Ausländische Entwicklungen, etwa in Frankreich und England, streift Safranski nur kurz.

(83) Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft

Gelesen als: Frankfurt am Main: Insel Verlag 1964. Insel-Bücherei Nr. 815. Hardcover, 115 Seiten. Lizenzausgabe mit Genehmigung des S. Fischer Verlags. Aus: Thomas Mann „Gesammelte Werke in zwölf Bänden“, Bd. XI, Reden und Aufsätze. Erstausgabe 1926

Heute lieferbar: Sehr häufig antiquarisch, aber meist teurer als das E-Book für 3,99 €, z.B. hier: https://play.google.com/store/books/details?pcampaignid=books_read_action&id=WLVqAgAAQBAJ

Über den Autor: Siehe bei #81.

Inhaltsangabe: Tagebuch einer Vortragsreise nach Paris im Januar 1926. Es geht in den Vorträgen hauptsächlich um die deutsch-französische Freundschaft, die nach dem Ersten Weltkrieg unter Intellektuellen entgegen heutiger Wahrnehmung sehr wohl auf der Tagesordnung stand – vorausgesetzt, die Handelnden agierten nach demokratischen Grundprinzipien. Thema sind ebenfalls die literarischen Szenen jener Zeit, etwa Manns 1924 vollendeter „Zauberberg“. Die in Paris damals sehr aktive amerikanische Exil-Szene um Hemingway (vgl. #59 und #61) bleibt unerwähnt, was die unterschiedlichen Rezeptionsschichten deutlich macht. Mann verkehrte auf der Reise ausschließlich in höheren bis höchsten Kreisen; er hätte Hemingway bestenfalls zufällig auf der Straße treffen können.

Anlass der Lektüre: Ich wollte versuchen, die fiktive These auszubauen, dass Hemingway und Mann sich irgendwann tatsächlich getroffen haben könnten und dass dieses Treffen Auswirkungen auf ihr Werk oder die Literatur ihrer Zeit gehabt haben könnte. „Pariser Rechenschaft“ macht deutlich, dass sie sich zumindest 1926 in Paris nicht getroffen haben, sonst hätte Mann es ja wohl erwähnt, wenn er schon 100 Seiten über eine gut einwöchige Reise schreibt. Meine Idee, ein solches Treffen zu erfinden und selbst „aufzuschreiben“, hat sich allerdings, wie ich inzwischen lernen musste, selbst erledigt, da mir ein anderer Autor zuvorgekommen ist: https://www.amazon.de/Schnee-auf-dem-Zauberberg-Hemingway/dp/9403613505 .

Bewertung: Lektüre hat sich trotzdem gelohnt, weil das Büchlein erstens die These Safranskis (#82) bestätigt und zweitens lehrreiche Einblicke in die deutsch-französische Befindlichkeit in den 20-er Jahren gibt.

Zur Auswahl der Bücher

Wie immer, ist die Auswahl der Bücher mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Dass ich hier Beschreibungen meiner Lektüre veröffentliche, hat folgenden Hintergrund: Oft sind mir Inhalte der Lektüre nach einiger Zeit nicht mehr präsent. Da habe ich mir gedacht, ich schreibe sie nach der Lektüre kurz auf. Und wenn ich das schon tue, dachte ich mir weiter, kann ich das Geschriebene auch gleich in das Blog stellen, um vielleicht andere Menschen zu Lektüre anzuregen.

Natürlich lese ich keine Bücher zu Themen, die mich überhaupt nicht interessieren, oder Romane, die mir schon vom Klappentext her nichts zu bringen scheinen. Meine Auswahl wird bestimmt durch das Bedürfnis, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Oder die Bücher werden mir als Besprechungsexemplare angeboten. Oder Neugier. Oder eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen auffällt. Oder ich greife mir aus meinen überfüllten Regalen eins, das ich schon immer mal lesen wollte. 

Die 70 Bücher, die seit Pandemiebeginn bereits über meinen Nachttisch gegangen und hier besprochen worden sind, finden Leserinnen und Leser hierhierhierhierhier, hier und hier.

Für Anregungen und konstruktive Kritik bin ich jederzeit dankbar. Falls jemand sich in irgendwelchen Rechten verletzt fühlen sollte, bitte ich vor der Einleitung rechtlicher Schritte um ein klärendes Gespräch. Probleme lassen sich bestimmt gütlich und ohne Aufwand lösen.