Von der Straße der Ölsardinen zur Via Triumphalis

Meine Lektüre im zweiten Halbjahr 2023 – Folge 13 des Lesetagebuchs

© Deutscher Taschenbuch Verlag

Berlin, 22. Dezember 2023 (ssl) Rechtzeitig bevor sich neue Bücher zum Lesen aufdrängen, will ich die Lektüre des zweiten Halbjahres abarbeiten. Es beginnt schön leicht zum Einlesen mit Axel Hackes Eichelhecht, schraubt sich über Bestseller-Romane zu Münklers sehr lesenswertem und nachdenklich machenden Monumentalwerk über den Dreißigjährigen Krieg hinauf und endet mit einem Roman, der zur Zeit der Olympischen Spiele 1936 in Deutschland spielt.

Liebe Verlage, die das lesen: Wenn Sie hier auch erscheinen wollen – nur zu. Senden Sie mir Ihr Programm: thomas.rietig@rsv-presse.de Ich bestelle garantiert nur Rezensionsexemplare, von denen ich mir Lesegenuss verspreche. Jedes Buch bekommt eine eigene Besprechung von ca. 3.000 bis 5.000 Zeichen plus Buchdeckelbild und eine Kurzrezension in der vierteljährlichen Buchliste. Zur Systematik (oder besser gesagt: Anarchie) der Buchauswahl finden Sie etwas am Ende des Posts.

(111) Hacke, Axel: Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus Sprachland

Gelesen als: München: Wilhelm Goldmann Verlag 2023. Taschenbuch, 264 Seiten, zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen. ISBN 978-3-442-49265-7. 12,– €

Über den Autor: Axel Hacke (*1956 Braunschweig) lebt in München und arbeitet als Kolumnist des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“. Nach einem Politikstudium begann er bei der „Süddeutschen“ als Sportjournalist und wurde später Politikredakteur, bevor er seine Berufung im Kolumnenschreiben („Streiflicht“) fand. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter „Der kleine Erziehungsberater“, eine Sammlung von Kolumnen des SZ-Magazins.

Inhaltsangabe: Das Buch beschreibt „Sprachland“ und bedient sich dazu einer Sammlung von missverständlichen Äußerungen („Toter Ziehhund“ statt „Tochter Zion“), Tippfehlern, kindlichen Verständnisfehlern.

Anlass der Lektüre: Spontan gekauft, weil ich mal wieder was Leichtes lesen wollte.

Bewertung: Genau dieser Wunsch wird darin erfüllt. Bei der Lektüre fallen dem Leser zusätzlich viele Verballhornungen wieder ein, über die er selbst in der Vergangenheit herzlich gelacht hat, auch wenn vieles doch ein wenig albern ist.

© Klaus Wagenbach Verlag Berlin

(112) Ineichen, Stefan: Principessa Mafalda – Biografie eines Transatlantikdampfers

Heute lieferbar: Berlin: Wagenbach Verlag 2022. 256 Seiten, zahlreiche historische Schwarzweß-Abbildungen. ISBN 978-3-8031-3720-3. 34,– €

Über den Autor: Stefan Ineichen (*1958 Luzern) lebt als Ökologe und Schriftsteller in Luzern. Er ist Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und hat schon Bücher über andere berühmte Passagierdampfer geschrieben, die Titanic und die Cap Arcona. (Q: Klappentext)

Inhaltsangabe: Entstehung und Ende eines bekannten italienischen Luxusdampfers der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Ineichen beschreibt nicht nur die Biografie des Schiffes, sondern auch, teils anekdotisch, teils wissenschaftlich, viele der Prominenten rund um dieses Schiff, das abgesehen vom Ersten Weltkrieg, die Route Genua-Barcelona-Dakar-Rio de Janeiro-Buenos Aires befuhr.

Anlass der Lektüre: Gekauft wegen des Titels und des farbigen Schutzumschlags.

Bewertung: Passt in mein literarisches Beuteschema und erfüllt meine Erwartungen vollständig. Der Autor entwirft ein Panorama der italienischen und deutschen Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Tod der namensgebenden italienischen Prinzessin im August 1944.

(113) Steinbeck, John: Die Straße der Ölsardinen – Roman. Übersetzt von Rudolf Frank.

Gelesen als: München:Deutscher Taschenbuch Verlag 1986, 8. Auflage 1993. dtv Taschenbuch Nr. 10625. Broschiert, 150 Seiten. ISBN 978-3-423-106252, 8,90 DM. Amerikanischer Originaltitel: Cannery Row. © 1945 John Steinbeck

Heute erhältlich: Unter derselben ISBN für 11,– €

Über den Autor: Steinbeck (1902 Salinas/Kalifornien/USA – 1968 New York), „amerikanischer Erzähler deutsch-irischer Abstammung, … wuchs in Kalifornien auf, Studium der Naturwissenschaften, Gelegenheitsarbeiter, danach freier Schriftsteller in Los Gatos bei Monterey [Kalifornien]. Im Zweiten Weltkrieg Kriegsberichterstatter, 1962 Nobelpreis für Literatur“ (Quelle: Klappentext dtv).

Inhaltsangabe: Steinbeck schildert das tägliche Leben der Fischerstadt an der Westküste, insbesondere den Alltag einer Gruppe von Gelegenheitsarbeitern und Kleinkriminellen unter den mehr oder weniger harten Bedingungen der USA Mitte des 20. Jahrhunderts.

Anlass der Lektüre: Stand im Bücherregal und fiel mir ins Auge, als ich mich nach einem „Nicht-Sachbuch zwischendurch“ umsah. Inhalt und insbesondere Stil hatte ich vergessen, da die Erstlektüre Jahrzehnte zurücklag.

Bewertung: Starkes Stück. In Sachen Schilderung der Leichtigkeit des Seins hat Steinbeck den Literaturnobelpreis mehr als verdient. Kritiker haben ihm im Zusammenhang mit dem Buch vorgeworfen, die soziologischen Probleme der kalifornischen Unterschicht nicht genügend in den Vordergrund gestellt zu haben. Sie verkennen aber, dass es dem Autor, der zahlreiche Werke verfasst hat, in denen er den vielfach misslungenen amerikanischen Traum sehr deutlich und tragisch thematisiert, hier darum geht zu schildern, wie sich diese Schicht ein lebenswertes Leben „hinbiegt“, indem sie sich an der Grenzlinie zur Kriminalität einrichtet und doch Spaß und Lebensfreude hat.

(114) Roth, Philip: Amerikanisches Idyll. Roman.Übersetzt von Werner Schmitz.

Gelesen als: München: Carl Hanser Verlag 1998. ISBN 3-446-19501-7. 1. Auflage. Gebunden, Schutzumschlag, 463 Seiten. Amerikanischer Originaltitel: American Pastoral. Boston/New York: Houghton Mifflin © Philip Roth 1997.

Heute lieferbar: Rowohlt Taschenbuch. 978-3499224331, 14 €. Die oben angegebene gebundene Ausgabe war zum Zeitpunkt, als ich dies schrieb, in neuwertigem Zustand antiquarisch für 118,–€ erhältlich.

Über den Autor: Roth (1933 Newark/New Jersey/USA – 2018 New York) gilt als einer der bedeutendsten Romanciers der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Viele seiner Romane tragen autobiografische Züge. Er stammte aus einer jüdischen Einwandererfamilie, studierte nach einer „behüteten“ (Wikipedia) Kindheit nacheinander Jura, Philosophie und englische Literatur. Nach einer freiwilligen Meldung zur Armee verletzte er sich im Dienst, kehrte ins Zivilleben zurück und begann zu schreiben, zunächst für Zeitschriften wie „The New Yorker“. Der Kurzroman „Goodbye, Columbus“ (1958) begründete seinen Ruhm. In der Folgezeit setzte Roth sich immer wieder mit der jüdisch-amerikanischen Identität der Ostküste auseinander, was ihm oft den Platz zwischen den Stühlen des Antisemitismus und des jüdischen Selbstverständnisses einbrachte. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, für „American Pastoral“ erhielt er den Pulitzer-Preis.

Inhaltsangabe: Bittere Sezierung der amerikanischen Vorstadtidylle, die durch ein zum Terrorismus abgeglittenes Mädchen durcheinandergebracht wird. Ihr Vater ist ein Handschuhfabrikant und war in seiner Jugend ein gefeierter Sportler. Obwohl er dem formalen Code of Conduct des US-amerikanischen Mittelständlers zufolge nichts falsch, sondern alles richtig gemacht hat, aber viele Lebenslügen in sich vereint, zerbricht er daran ebenso wie die gesamte Familie.

Anlass der Lektüre: Stand im Bücherregal, passt im Sinne der Vervollständigung des Spektrums zu Steinbeck (#113) und Boyle (#105).

Bewertung: Spannend, gut lesbar, zeigt, dass die heutigen Konflikte weltweit und innerhalb der Gesellschaft nicht neu sind, sondern wiederkehren, und relativiert die Idylle gründlich, was nie schaden kann. Schon beim Erscheinen schrieb die „Sunday Times“: „Mit seiner kühnen und eindrucksvollen Fähigkeit, Gegensätze darstellen zu können, erinnert Roth uns daran, dass das Idyll niemals weit vom Trümmerfeld entfernt ist.“ (Zitiert nach dem Klappentext.)

© J.G.Cottasche Buchhandlung

(115) Poirier, Agnes: An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940-1950. Aus dem Englischen von Monika Köpfer.

Gelesen als: Stuttgart: J.G.Cotta’sche Buchhandlung 2020. ISBN 978-3-608-98381-4. 506 Seiten, Paperback, 12€. Englischsprachiger Originaltitel: „Left Bank. Art, Passion and Rebirth of Paris, 1940-1950“ bei Bloomsbury, Publishing, London, Oxford, New York. ©Agnès Poirier 2018

Über die Autorin (Q: Wikipedia): Poirier (*1975 Paris) ist eine französische Journalistin, die in London arbeitet. Sie studierte an der Sorbonne und am Sciences-Po in Paris und wurde 1995 an der London School of Economics (LSE) promoviert. Sie schreibt für Le Nouvel ObservateurLe Monde und in englischer Sprache für The GuardianThe TimesNew Statesman und The Independent on Sunday.

Inhaltsangabe: Zusammenfassung der Pariser Kulturszene in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren mit der Entwicklung wichtiger Strömungen wie Existenzialismus und Absurdes Theater.

Anlass der Lektüre: Wegen des Titels gekauft (und nicht enttäuscht worden).

Bewertung: Bezeichnend, dass am Buchanfang ein Stadtplan steht. Das Buch ist als Reiseführer nützlich. Aber auch als Niederschrift der nicht-realisierten, weil zu spät geborenen, Bohème-Träume eines Romanisten. Habe mich gerne nostalgisch in die Szene versenkt, wie vermutlich die Autorin auch, jedenfalls liest es sich so.

© S.Fischer Verlag

(116) Wilson, Ben: Metropolen. Die Weltgeschichte der Menschheit in den Städten. Aus dem Englischen von Irmengard Gabler.

Gelesen als: Frankfurt: S.Fischer Verlag GmbH 2022. ISBN: 978-3-10-397370-9. 576 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, zahlreiche Bilder 34€. Englischsprachiger Originaltitel „Metropolis. A History of Humankind’s Greatest Invention.“, London: Jonathan Cape /Penguin Random House 2020.

Über den Autor (Klappentext): Wilson (*1980 London) studierte Geschichte und lebt als freier Autor in Suffolk. Er schreibt regelmäßig für die „Times“ und den „Daily Telegraph“. … Für „Metropolen“ ist er einmal um die Welt gereist, um die Städte hautnah zu erleben.

Inhaltsangabe: Großangelegte populärwissenschaftliche Geschichte der menschlichen Haufenbildung mit Beispielen von den frühesten Anfängen in Uruk (Kleinasien) bis zum heutigen Moloch der (jedenfalls vom Menschen) ungeordneten Megacities wie Lagos. Für den Autor ist die Stadt als synergetisches Zentrum der Schwarmintelligenz die höchste Kulturstufe der menschlichen Entwicklung, allerdings nicht immer zum Guten.

Anlass der Lektüre: Aus Interesse gekauft.

Bewertung: Seine Auswahl ist hochinteressant. Bei den Ur-Städten, die tausende von Jahren vor unserer Zeitrechnung die Welt dominierten oder das, was wir heute dafür halten, war die Auswahl mangels Überlieferung noch nicht sehr groß. Aber später nimmt er etwa Lübeck (1226-1596) als Beispiel für eine „kriegerische Stadt“ und Warschau (1939-1945) für „Auslöschung“, worauf etwa ein asiatisch sozialisierter Kollege nicht sofort kommen würde. Überhaupt liegt das Schwergewicht seiner Darstellung in dem, was wir heute „den Westen“ nennen. Es zeigt, wie schwer das Phänomen Stadt in Zeiten der Globalisierung zu fassen ist. Wahrscheinlich verdient jede historische und gegenwärtige Megacity eine essayistische Monographie.