Pandemie 2021-3: Von Urmel über Leuchttürme zum deutschen Wald

Meine Lektüre im dritten und vierten Quartal 2021

Berlin, 29. Oktober (ssl) Der vierte Teil meiner gesammelten pandemischen Leseerfahrungen beginnt mit einem Buch über eine prägende Fernseh- und Theatererfahrung meiner Kindheit und Jugend: „Herzfaden“ von Thomas Hettche, einem „Roman der Augsburger Puppenkiste“. Mal sehen, wie lange es diesmal dauert, elf Bücher zu lesen. Die Pandemie ist noch nicht zu Ende, mehr Arbeit als im zweiten Quartal gibt es auch nicht, sodass Zeit zur Verfügung steht. Wie immer, ist die Auswahl der Bücher mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Natürlich lese ich weder Bücher über Sachen, die mich überhaupt nicht interessieren, noch Romane, die mir schon vom Klappentext her nichts zu bringen scheinen. Aber das Bedürfnis, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Oder Neugier. Oder eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen in die Hände fällt. Oder ich greife mir eins, das ich schon immer mal lesen wollte. Die ersten drei Teile mit jeweils elf Buchbesprechungen mit Empfehlungen – oder eben auch nicht – finden die Leser hier und hier und hier. Und in diesem Beitrag stehen die nächsten.

(34) Hettche, Thomas: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste

Gelesen, heute lieferbar: Mit 27 Zeichnungen von Matthias Beckmann. 4. Auflage. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2020. 282 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-462-05256-5, 24 €

Inhaltsangabe: Ein zwölfjähriges Mädchen entdeckt nach einer Vorstellung in der „Augsburger Puppenkiste“ einen verborgenen Dachboden, auf dem sich viele der legendären Marionetten des Theaters eingefunden haben. In diesen rot gedruckten Rahmen bettet Hettche blau gedruckt – damit es auch ungeübte Leser unterscheiden können? – die Geschichte des Theaters ein, das während des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde. Während die Eckdaten und -namen den Tatsachen entsprechen, hat er die Details fiktiv gestaltet. Es ist ein Roman über die Familie Oehmichen, ähnlich zwischen Historie und Fiktion, wenn auch nicht so monumental angelegt, wie der vor kurzem gelesene Roman „Blond“ von Joyce Carol Oates über Marilyn Monroe.

Über den Autor: Thomas Hettche, 1964 in Treis am Rand des Vogelsbergs geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Filmwissenschaft in Frankfurt am Main und lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin und in der Schweiz. Er debütierte 1989 mit dem Roman »Ludwig muß sterben«. Ein von der Kritik recht ambivalent aufgenommener Roman, den ich noch lesen werde, ist „Woraus wir gemacht sind“ (2006). Hettche wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet und unterrichtete unter anderem 2018 – 2020 als Honorarprofessor am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin. Er ist Mitglied des Deutschen PEN, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Berliner Akademie der Künste. (Quelle für das Biographische: hettche.de)

Anlass der Lektüre: Geburtstagsgeschenk.

Bewertung: Wer (wie ich) Urmel, Kalle Wirsch oder Jim Knopf mag, freut sich über dieses Buch, mit dem der Autor die doch eher in der „Kinder und Jugend“-Schublade liegenden Charaktere der Augsburger Puppenkiste mit dem wechselvollen Schicksal des Marionettentheaters durch NS-, Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit verbindet. Wer dafür nichts übrig hat, für den ist Hettches Buch wahrscheinlich kein großer Erkenntnisgewinn. Die Charaktere der Theatermacher werden weitgehend realistisch in ihrer Gebrochenheit dargestellt, wie sie zwischen Schuld und Sühne schwanken. Die Geschichte endet allerdings weitgehend zu dem Zeitpunkt, da das Fernsehen sich mit den bekannten Serien der Puppenkiste annahm. Die vollständige Story mit den Inszenierungen für Erwachsene muss der Leser anderswo recherchieren, anfangend z.B. hier . Und über meine Lieblingsserie „Der kleine dicke Ritter“ (1963) verliert Hettche kein Wort.

(35) Barrie, David: Unglaubliche Reisen

Gelesen, heute lieferbar: Vom inneren Kompass der Tiere. Gebunden, 368 Seiten, einige Abbildungen, Hamburg: mare Verlag 2020, ISBN 978-3-86648-282-1, 26,– €

Inhaltsangabe: Die navigatorischen Möglichkeiten der Lebewesen. Der Autor schildert die Reisen von kleinen Insekten über den in dieser Hinsicht weithin bekannten Monarch-Falter, den Menschen bis hin zum Wal über viele tausend Kilometer und erläutert, wie sie sich orientierne, soweit das bisher erforscht ist.

Über den Autor: David Barrie, geboren 1953, aufgewachsen in Lymington, Hampshire, war nach seinem Studium der Psychologie und Philosophie in Oxford lange im diplomatischen Dienst und anschließend im Cabinet Office tätig. Er ist Schmetterlingsforscher, im Vorsitz verschiedener Stiftungen, passionierter Segler und lebt in London. (https://www.mare.de/david-barrie-urheber-89)

Anlass der Lektüre: Geschenk meiner Frau, nach einer Fernsehdokumentation, in der geschildert wurde, wie eine bestimmte Falkenart, der Eleonorenfalke (https://de.wikipedia.org/wiki/Eleonorenfalke) von Madagaskar auf die Kanaren „wandert“, um sich dort fortzupflanzen.

Bewertung: Sehr aufschlussreich und spannend zu lesen. Die oben genannte Falkenwanderung wird allerdings nicht geschildert. Deshalb bleibt auch die Frage unbeantwortet, warum diese Vögel wandern, angesichts grosso modo gleicher klimatischer und topografischer Bedingungen an Start und Ziel. Ich hätte mir darüber hinaus Abbildungen der geschilderten Tiere gewünscht, möglichst mit ihrer Reiseumgebung. Aber wozu haben wir das Internet? Was das Buch allerdings leistet, ist eine Steigerung des Respekts gegenüber der Schöpfung, wenn man darüber nachdenkt, in welch minimalistischen Strukturen Prozesse wie Navigieren dort verwirklicht sind. Schon deshalb ist es lesenswert. (siehe auch #40)

(36) Mallmann, Klaus-Michael/Paul, Gerhard: Das zersplitterte Nein

Gelesen: Saarländer gegen Hitler. Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945, Band 1. Hrsg.: Hans-Walter Herrmann. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 1989. ISBN 3-8012-5010-5.

Heute lieferbar: Als Taschenbuch, 2001 erschienen, ISBN 978-3801250102, 15,32

Inhaltsangabe: Das Buch ist Teilergebnis eines umfangreichen Forschungsprojekts zur Geschichte des saarländischen Widerstands. Das Projekt hat sich in mehreren Büchern manifestiert; die anderen habe ich nicht gelesen. Dieses enthält neben einem Überblick über die spezielle Geschichte des Saarlandes während des Dritten Reiches (es kam erst 1935 nach einer Volksabstimmung wieder zum Deutschen Reich, nachdem es seit dem Ersten Weltkrieg unter französischer Verwaltung gestanden hatte) 50 Kurzbiografien von Widerstand Leistenden im Saarland.

Über die Autoren: Mallmann (*1948) ist ein anerkannter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Erforschung des Nationalsozialismus. Er hat zahlreiche Arbeiten über die Zeit veröffentlicht , darunter „Die Gestapo 1933-1945“ und lehrte an den Universitäten Essen und Stuttgart. (http://www.uni-stuttgart.de/hing/mitarbeiter/mallmann/vita.html). Paul (*1951) ist ebenfalls Historiker und lehrte am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und der Universität Flensburg. Seine Veröffentlichungen beschäftigen sich unter anderem mit der Visualisierung von Geschichte, im besonderen des Nationalsozialismus und des Krieges, auch des modernen Krieges, z.B. im Irak. (https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Paul_(Historiker))

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Die Schicksale, überwiegend geprägt von kommunistischen und sozialdemokratischen Milieus und deren internen Auseinandersetzungen, beleuchten aber trotz der regionalen Beschränktheit das gesellschaftliche Klima in den 1920-er und 1930-er Jahren – und hinterlassen den Leser betroffen. Zugleich offenbaren sie, welch hemmenden Effekt die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen „linken“ Strömungen auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatten. Es ist gewissermaßen der proletarische „Spiegel“ der linken intellektuellen Landschaft im Saarland, aber auch in Rest-Deutschland, wie sie beispielsweise der dem Romanautor und Spanienkämpfer Gustav Regler in seiner Autobiographie „Das Ohr des Malchus“ schildert, der erst in der Sowjetunion Stalins von dem humanitären Traum des diktatorischen Kommunismus geheilt wurde. Soweit es um Kirchenleute geht, die Widerstand leisteten, erfährt der Leser, wie die Kirchenhierarchie dem entgegenwirkte. Obwohl die Lektüre allein nicht den vollständigen Stand der Forschung darstellt, lohnt sie sich. Wer wirklich alles wissen will, sei auf die Folgebücher verwiesen. Für Nicht-Saarländer wäre eine Karte mit den Lokalitäten hilfreich gewesen.

(37) Bathurst, Bella: Leuchtfeuer

Gelesen: Die außergewöhnliche Geschichte von der Erbauung sagenumwobener Leuchttürme durch die Vorfahren von Robert Louis Stevenson. Übersetzt von Jobst-Christian Rojahn. München: Schneekluth 2001. Gebunden, zahlreiche SW-Abbildungen, 1 Karte, 352 Seiten. ISBN 3-7951-1768-2. Heute lieferbar: Antiquarisch ab 1,– €.

Inhaltsangabe: Die Autorin verknüpft die Geschichte des Baus von Leuchttürmen an der schottischen Küste seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit der der für diesen Bau maßegeblich verantwortlichen Familie Stevenson, den Ahnen des weltberühmten „Schatzinsel“-Autors, und der Beschreibung der topografischen Verhältnisse der abwechslungsreichen und gefährlichen schottischen Küstenlandschaft.

Über die Autorin: Bella Bathurst (*1959) ist Journalistin, Autorin, Fotografin und Möbeltischlerin. Für „The Lighthouse Stevensons“ erhielt sie 1969 den Somerset Maugham Award.

Anlass der Lektüre: Aus dem Bücherregal, nachdem ich mich aus familiären Gründen daran erinnert hatte.

Bewertung: Wer Schottland und seine Küsten mag und verklärt, findet hier einen Katalysator in Zeiten, da Schottland verhältnismäßig unerreichbar scheint. Dazu merkt man der Autorin an, dass es sie mindestens literarisch eine enge Verbindung zur Seefahrt und allem hat, was damit einhergeht. Schließlich verewigt sie das weitgehend abgeschlossene, aber hochinteressante Kapitel „Leuchtfeuer“ der Technikgeschichte, nachdem die Bedeutung von Leuchttürmen in Zeiten satellitengestützter Navigation scheinbar gesunken ist. Sie leuchten zwar noch, heute durchweg automatisiert, teilen aber ihre lebensrettende Funktion als Hinweis auf Schifffahrtshindernisse, die bei alleiniger Navigation nach Himmelskörpern und Küstenlinien nicht bemerkt werden konnten, jetzt mit zahlreichen elektronischen Hilfsmitteln. Das Sachbuch hebt zwar unterhaltsam die hohe Bedeutung der vier Stevenson-Generationen für die Entwicklung dieser Seezeichen hervor. Obwohl sie teils ausführlich die immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen zwischen Vätern und Söhnen über die Frage beschreibt, ob der Sohn nun Ingenieur werden soll oder seinen subjaktiven Neigungen zum Beispiel als Schriftsteller nachgehen darf, würde ich das Buch nicht als „Familiensaga“ beschreiben, wie es der Klappentext tut. Das konnten andere besser und emotionaler. Ich würde es aber nicht als Manko sehen. Der Lesegenuss für Möchtegern-Schotten, Sofa-Seefahrer und Freaks der Technik des 19. Jahrhunderts tut es keinen Abbruch.

(38) Schöffler, Heinz: Der Jüngste Tag

Gelesen: Die Bücherei einer Epoche. Frankfurt: Societäts-Verlag 1981. Sieben Bände. Faksimiles der Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen Broschüren.

Heute lieferbar: Antiquarisch, es gibt auch eine zweibändige Ausgabe von 1970. Beide sind im Netz derzeit für ca. 40 € in gutem Zustand zu erwerben. Wer mit einer ausländischen IP-Adresse ins Netz geht, kann sie auch im Projekt Gutenberg lesen: .

Inhaltsangabe: „Der Jüngste Tag“ war eine Broschürenreihe des Kurt Wolff Verlags, die von 1913 bis 1921 zunächst in Leipzig, später in München erschien und heute als repräsentative Darstellung expressionistischer Prosa und Poesie gilt. Als Lektoren arbeiteten neben Wolff selbst Franz Werfel und Max Brod. Hier finden sich berühmte Namen der Epoche wie Carl Sternheim oder Franz Jung, Franz Kafka, Eugen Roth und andere, aber auch Dichter und Autoren, die im Laufe der Zeit der Vergessenheit anheimfielen. Im siebenten Band der Ausgabe von 1981 finden sich bio- und bibliografische Daten.

Anlass der Lektüre: Steht weitgehend ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Ein Genuss, wenn man Spaß daran hat, wie innovativ und stilistisch wie grammatisch facettenreich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Literatur mit der deutschen Sprache umgegangen wurde. Beispielhaft für einen sehr elitären Sprachgebrauch etwa Carl Sternheim: Ulrike (Band 4, Seite 1991 ff.). Besonders zu empfehlen in diesen Vorwahlzeiten (September 2021): Oskar Baum: Unwahrscheinliches Gerücht vom Ende eines Volksmanns (Band 4, S.2065ff.). Der praktische Aspekt: Es handelt sich durchweg nicht um Romane, sondern um Erzählungen und Versstücke unterschiedlicher Länge (Letztere habe ich nur flüchtig rezipiert; als Gedicht-Vernachlässiger enthalte ich mich einer Bewertung.), sodass mit Stücken, die nicht der persönlichen Vorliebe entsprechen, nicht allzu viel Zeit verschwendet wird.

39) Weibel, Benedikt: Wir Mobilitätsmenschen

Gelesen, Heute lieferbar: Basel: NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG 2021. ISBN 978-3-907291-56-6 . 200 S., Hardcover,, 34 Euro (D).

Inhaltsangabe: Siehe ausführliche Besprechung hier.

Über den Autor: Weibel (*1946) ist ein Schweizer Manager im Mobilitätssektor. Er war 13 Jahre lang Chef der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB)

Anlass der Lektüre: Wurde mir als Besprechungsexemplar empfohlen.

Bewertung: Lohnt sich sehr für Leute, die wissen wollen, wie die Mobilität der Zukunft aussieht, und sich dabei nicht auf Lobbyisten und Politiker verlassen wollen.

(40) Eulberg, Dominik: Mikroorgasmen überall – Von der Raffinesse und Mannigfaltigkeit der Natur vor unserer Haustür

Gelesen, Heute lieferbar: 1. Auflage: Köln: Eichborn Verklag in der Bastei Lübbe AG 2021. ISBN 978-3-8479-0065-8. Hardcover, gebunden, 350 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen, 25,– €

Inhaltsangabe: Zahlreiche Beispiele unbekannter Reproduktionsverfahren unter Pflanzen, Tieren und Wesen, die dazwischen anzusiedeln sind (Pilze) nicht nur „vor unserer Haustür“, sondern auch in durchaus exotischen Umgebungen. Dazu viele schöne Abbildungen aus der Cramers Gallery of Nature, die freundlicherweise die kostenlose Wiedergabe des Buchtitels in diesem Beitrag gestattet hat.

Über den Autor: Eulberg hat Ökologie studiert und ist bekennender Naturlobbyist und mehrfach preisgekrönter DJ. Mehr in der Einleitung des Buches oder hier.

Anlass der Lektüre: Das Buch war ein Geburtstagsgeschenk.

Bewertung: Der Titel ist etwas reißerisch; es geht auch um andere Dinge, und die Frage, ob Orgasmen (im Sinne von Befriedigung oder Lust) im nichtmenschlichen Bereich überhaupt stattfinden, geht der Autor nicht nach. Auch habe ich bei der Lektüre eine Gliederung vermisst, die beispielsweise die geschilderten Verhaltensmuster nach Arten oder Biotopen ordnet. Und am Ende wären Quellenangaben oder „Weiterlesen“-Hinweise nützlich gewesen. Das ändert aber nichts daran, dass es Eulberg gelingt, die Naturphänomene anschaulich zu machen und für abwechslungsreiche Lektüre zu sorgen, mit der erhebliche Lerneffekte verbunden sind. (siehe auch #35)

(41) Hanika, Josef: Die Volkssage im Fichtelgebirge und seinem Umland

Gelesen: Bayreuth, Reta Baumann Verlag o.J. (1959 lt. Stadtbibliothek Bayreuth)(1961 lt. Zeitschrift für Volkskunde, 57/58.1961/62 mit einer zeitgenössischen Buchbesprechung)- Ganzleinen mit Schutzumschlag, 210 Seiten, ohne ISBN. Heute nur noch antiquarisch erhältlich.

Inhaltsangabe: Der Autor hat Sagen und Mythen aus dem Fichtelgebirge mit einem ausführlichen Quellenapparat und fast ausschließlich unter Verwendung schriftlicher Quellen zusammengetragen. Die Gegend gilt unter anderem deshalb als „sagenreich“, weil sie vor Jahrhunderten bereits europaweit als reich an Bodenschätzen bekannt war und „Walen“, Glasverarbeiter aus Norditalien und Venedig, anlockte. Sie wurden von den Einheimischen kritisch beäugt und mit Mythen umgeben. Soweit die Sagen den Ochsenkopf, den zweithöchsten Berg des Fichtelgebirges, betreffen, findet sich eine Zusammenfassung hier.

Im Vorwort schildert Hanika die Kriterien für die Aufnahme in seine Sammlung. Im Nachwort beschreibt er, wie sich aus dem Mittelalter mit der Christianisierung die heidnischen Narrative geändert haben und schließlich, von der christlichen Vorstellungs- und Gebotewelt verformt, in eine Gut-oder-Böse-Ethik verwandelt haben.

Über den Autor: Josef Hanika (*1900 Mies (Stříbro) – 1963), laut Vorwort Gründer und Leiter des Museums für Volkskunde in Eger, dem heutigen Cheb, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg „ausgesiedelt“. Da er mit Kollegen im benachbarten Fichtelgebirge ohnehin in wissenschaftlichem Austausch stand, vermittelten sie ihm die Aufgabe, die Mythen der Mittelgebirgsregion zusammenzutragen und aufzuarbeiten. Er trat 1938 in die NSDAP ein (was ich erst nach Lektüre des Buches durch Recherche herausfand). „In dem volkskundlichen Periodikum ‚Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren‘ publizierte er eine ganze Reihe von Studien, in denen man den Einfluss zeitgenössischer Rassentheorien verfolgen kann, die Hanika auf sein volkskundliches Material zu applizieren versuchte.(…) Andererseits muss angefügt werden, dass er als einer von wenigen unter den gegebenen Bedingungen bemüht war, Volkskunde mit einem komparatistischen Ansatz zu betreiben“. Aus: Christian Brenner u.a. (Hg.): Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Hanika war Professor für Volkskunde an den Universitäten Prag und München.

Anlass der Lektüre: Gefunden im Nachlass meines Schwiegervaters vor Ort.

Bewertung: Umfassende, brauchbare Beschreibung der Sagenwelt des zumindest im Winter noch immer irgendwie dunklen Fichtelgebirges. Die oben erwähnte Buchbesprechung kritisiert zu Recht, dass eine Karte mit den zahlreichen im Buch erwähnten topografischen Namen hilfreich für die Lokalisierung der Sagen gewesen wäre.

(42) Woldt, Richard: Die Arbeitswelt der Technik

Gelesen: Berlin: Für den Bücherkreis Verlegt von J.H.W.Dietz Nachf. 1926. 191 Seiten, Ganzleinen mit eingeklebter Farbabbildung auf dem Buchdeckel und zahlreichen SW-Abbildungen von Helmut Krommer.

Heute lieferbar: Antiquarisch zu relativ niedrigem Preis

Inhaltsangabe: Politischer Essay über die Einflüsse der Technik auf die Arbeitswelt aus sozialistischer Sicht. Nach einer Schilderung der Wirkungsweise und des historischen Umbruchpotenzials bahnbrechender Technikentwicklungen wie Rad, Dampfmaschine, Fließbandfertigung beklagt der Autor die durch den rein kapitalistisch, also an Profit, orientierten Einsatz der technischen Errungenschaften bei den Arbeitern eingetretene Entfremdung. Er legt Wert darauf, dass er kein Technikfeind sei, sich aber einen Einsatz der fortschrittlichen Innovationen zum Wohle aller Menschen wünschen würde. Wenn das schon nicht möglich sei, müsse genügend Freizeit geschaffen werden, in der dem Menschen nicht nur zur Regeneration der Arbeitskraft, sondern auch zur Selbstverwirklichung Raum geschaffen werde.

Über den Autor: Woldt (1878 Berlin – 1952 Dresden) begann nach Lehre und Studium als technischer Angestellter bei Siemens und Halske, wurde Mitarbeiter von Gewerkschaftspublikationen, arbeitete in der Rüstungsindustrie sowie als Assistent an der TU Berlin, betätigte sich wissenschaftlich. Seit 1901 in der SPD, observierte ihn die Gestapo und nahm ihn mehrmals fest. 1945 war er kurzfristig Minister für Arbeit, Wirtschaft und Verkehr in Sachsen. Schließlich half er als Professor für Soziale Arbeitswissenschaft an der TH Dresden, die Technikgeschichte universitär zu verankern. ( https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Woldt)

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Bücherregal.

Bewertung: Interessant vor allem wegen der Beschreibung der zunehmenden Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit und dem Entfall der Möglichkeiten zu kreativer Entfaltung. Aus designerischen Gesichtspunkten fiel mir an dem Buch auf, dass Buchdeckel und Abbildungen Beispiele für Art déco sind, der Text aber in Fraktur gesetzt ist. Die Beschäftigung mit dem Buch als Ware ergab, dass der „Bücherkreis“ eine sozialistisch-sozialdemokratische Einrichtung der Weimarer Republik war, in der Struktur ähnlich den Buchklubs der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg oder der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft. Im Gegensatz zu diesen hatte der Bücherkreis aber eben eine sozialistische Konnotation. Eigene Beschreibung: „Der Bücherkreis ist eine Vereinigung des werktätigen Volks zur Pflege des guten und wertvollen Buches.“ Die Mitgliedschaft war mit einer Mark pro Monat, für die es pro Quartal ein Buch ohne weitere Kosten gab, sehr günstig. Die Bücher hatten hohe Auflagen. Das Angebot umfasste nicht nur Sachbücher wie das hier beschriebene, sondern auch Romane, darunter Weltliteratur wie „Das Dienstmädchen Germinie“ der Brüder Goncourt. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_B%C3%BCcherkreis

(43) Smith, Michael: Der stille Held Tom Crean

Gelesen, heute lieferbar: 1.Auflage 2021: mareverlag Hamburg. Gebunden, 464 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Karten, ISBN 978-3-86648-657-7, 26,– €

Inhaltsangabe: Tom Crean ist ein Antarktis-Entdecker, der sowohl mit mit Robert F. Scott als auch mit Ernest Shackleton wesentlichen Anteil an der Erst-Erforschung des Südpols hatte. Ohne ihn hätte es bei beiden Forschern geleiteten Expeditionen wohl noch mehr Todesopfer gegeben: Crean, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Ire, profilierte sich als stets ausgleichender, extrem robuster Mann, der mehrere todesmutige Alleingänge startete, um den Blutzoll bei der Eroberung des Südpols nicht noch größer werden zu lassen. Crean gilt als „unsung Hero“ (so der Englische Originaltitel des Buches) im Schatten der gefeierten Abenteurer. Er hatte nach dem abenteuerlichen Teil seines Lebens ein Pub namens „South Pole Inn“ in Anascaul (so die Schreibweise im Buch, auf heutigen Karten heißt es Annascaul) auf der Dingle-Halbinsel in Kerry County, das es heute noch gibt.

Über den Autor: Smith (*1946 London) ist als preisgekrönter Journalist und Autor auf Polar-Themen spezialisiert. Er schrieb auch Biographien anderer Teilnehmer der berühmten Expeditionen vom Anfang des 20. Jahrhunderts. „An Unsung Hero“ erschien erstmals 2000. (Quelle: https://www.wikiwand.com/en/Michael_Smith_(author) )

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Spitzbergen ist ja der Punkt, an dem ich den Polen am nächsten war. Die Regionen haben mich aber fasziniert, seit ich als Jugendlicher Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“ über das tödlich gescheiterte Abenteuer Scotts gelesen habe. Auch in Smiths Buch kann man sich in das extrem harte Leben dieser Menschen einfühlen, der Autor spart auch Fragen nicht aus, die normalerweise in solchen Büchern nicht gestellt werden/wurden. „Der stille Held“ liest sich gut mit Shackletons Beschreibung seiner Polarexpedition, besprochen als #22 hier.

(44) Stern, Horst (Hg.) u.a.: Rettet den Wald

Gelesen: 1. Auflage. München, Kindler 1979. Gebunden, ca. DIN-A-4-Format, zahlreiche Abbildungen und Grafiken, 400 Seiten. ISBN 3-463-00767-3

Heute lieferbar: Nur noch antiquarisch, aber relativ günstig. Es ist später als Taschenbuch und 1989 in einer aktualisierten Version erschienen.

Inhaltsangabe: Das Buch bietet eine Bestandsaufnahme des (bundes-) deutschen Waldes und seiner Probleme in einer Zeit, als noch kaum vom sauren Regen die Rede war, geschweige denn das Wort „Waldsterben“ im allgemeinen Sprachgebrauch existierte. Seine Faktensammlung hat ebenso wie die Einschätzung der zukünftigen Probleme, etwa über den menschengemachten Klimawandel, nichts von seiner Aktualität verloren. Auch wenn die Bundesrepublik jetzt größer ist, hat sich an den Problemen wenig geändert. Schon gar nicht kann man den Autoren, durchweg bekannte und hochrenommierte Wissenschaftler, eine Kassandra-Haltung unterstellen. Wer die Grundlagen des Ökosystems Wald lernen und verstehen will, ist mit diesem Buch gut bedient.

Über den Autor: Horst Stern (1922 Stettin – 2019 Passau) war ein Journalist und Buchautor. Er hat den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mitgegründet, der ebenso wie die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald die Schirmherrschaft über das Buchprojekt hatten. Stern wurde in der Bundesrepublik berühmt (manche meinen: berüchtigt), indem er 1970-1979 in bewusster Opposition zu den damals im Fernsehen üblichen eher als Unterhaltung gedachten Tierfilm-Serien mit Bernhard Grzimek oder Heinz Sielmann die kritischen Seiten des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier im deutschen Alltag in seiner Serie „Sterns Stunde“ beleuchtete. Die Sendung, die das mythisch überladene Verhältnis zum Rothirsch und die damit verbundene unkritische Haltung zum Waidwerk kritisierte, sendete der Süddeutsche Rundfunk an Heiligabend 1971, was einem Skandal gleichkam. Obwohl er Industrie und Landwirtschaft teils heftig kritisierte, gelang es keinem Unternehmen oder Verband, ihn erfolgreich zu verklagen. Das festigte seinen Ruf als seriöser Journalist nachhaltig.

Anlass der Lektüre: Stand als Nachschlagewerk im Bücherregal. Da mein Verhältnis zum Wald wegen der zahlreichen Radwanderungen im südwestlichen Berliner Umland und im Fichtelgebirge in letzter Zahl intensiver geworden ist als ohnehin schon, las ich es durch, um Grundwissen zu akkumulieren.

Bewertung: Dieses Ziel habe ich erreicht, und es hat sich gelohnt. Ich kann das Buch nur jedem Waldliebhaber empfehlen, der dieses Ökosystem, das ein Drittel der deutschen Fläche bedeckt, und seine Interaktion mit dem Rest der Welt besser verstehen will. Dem Manko, dass die Daten mehr als 40 Jahre alt sind, lässt sich leicht durch Lektüre des Waldberichts der Bundesregierung abhelfen, der in jeder Legislaturperiode erscheint. Der jüngste ist jetzt (November 2021) erst vor wenigen Wochen erschienen, aktuellere Daten gibt es kaum: