Vom 13. bis zum 21. Jahrhundert


Meine Lektüre im zweiten Drittel 2024 – Folge 15 des Lesetagebuchs


Berlin, September 2024 (ssl) Meine erste Graphic Novel berichtet von einer deutschen Familie in der Nazizeit. Überhaupt kommt reichlich NS-Geschichte, fiktiv und dokumentarisch, in dieser Leseliste des zweiten Drittels 2024 vor. Aber auch die Reiseberichte von Marco Polo, Analysen von Zeichnungen der Stadt Rom aus der Renaissance und, wie eigentlich immer, wahre Abenteuergeschichten aus der Kolonialzeit, in denen sich, je jünger sie sind, zunehmende Distanz der Autoren zu ihrem Thema findet.

Liebe Verlage, wenn Sie hier auch erscheinen wollen – nur zu. Senden Sie mir Ihr Programm: thomas.rietig@rsv-presse.de Ich bestelle garantiert nur Rezensionsexemplare, von denen ich mir Lesegenuss verspreche. Jedes davon bekommt eine eigene Besprechung von ca. 3.000 bis 5.000 Zeichen plus Buchdeckelbild und eine Kurzrezension in der Zusammenfassung. Alle Fotos in diesem Beitrag sind die offiziellen Abbildungen der jeweiligen Verlage, mit Ausnahme des Fotos zu #138, das habe ich selbst fotografiert. Zur Systematik (oder besser gesagt: Anarchie) der Buchauswahl finden Sie etwas am Ende des Posts.

(128) Polo, Marco: Il Milione – Die Wunder der Welt.

Gelesen als: München: Manesse 2023. Jubiläumsausgabe zum 700. Todestag des Autors. In Leinen gebunden mit Lesezeichen, in den inneren Umschlagseiten Karte von Osteuropa und Asien, 16 Farbtafeln, 434 Seiten, ISBN 978-3-7175-2566-0, 45 €

Über den Autor: Marco Polo (1254 Venedig -1324 ebd.), venezianischer Kaufmann, reiste als 17-Jähriger mit Vater und Onkel in den Nahen und Fernen Osten und verfasste Reiseberichte darüber. In Shangdu ernannte ihn der Kaiser von China, Kublai Khan, zum Präfekten. In dieser Eigenschaft bereiste er mehrere Jahre China.

Inhaltsangabe: Reiseberichte, die im Laufe der Jahrhunderte weltweit zur Grundlage der Geschichtsschreibung, aber auch der Politik zwischen China und Europa wurden, auch wenn ihr Wahrheitsgehalt hin und wieder angezweifelt wurde. Marco Polo beschreibt die Verhältnisse im Fernen Osten sowohl aus kaufmännischer als auch aus militärisch-politischer Sicht und ergänzt sie um geographische Schilderungen und anekdotische Berichte.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Muss man einfach gelesen haben, wenn man sich für Reiseliteratur interessiert. Streckenweise kurzweilig und immer wieder zu Nach-“Recherchen“ über die heutigen Verhältnisse an den beschriebenen Orten anregend, wobei der ausführliche Apparat im Anhang sehr hilfreich ist. Als Komplettausgabe hat das Buch aber auch Längen und inhaltliche Wiederholungen, wenn er etwa von verschiedenen Städten nahezu tabellarisch die Grundvoraussetzungen für den Handel notiert.

(129) Köhlmeier, Michael: Zwei Herren am Strand. Roman.

Gelesen als: München: dtv Verlagsgesellschaft mbh 2016 (11.Auflage 2023). dtv Taschenbuch 14468. 272 Seiten. ISBN 978-3-423-14468-1. 12,– €

Über den Autor: Köhlmeier (*1949 Hard /Vorarlberg, Österreich) studierte Politik und Germanistik in Marburg und Mathematik und Philosophie in Gießen. Er schreibt und spricht seit Anfang der 1970-er Jahre Hörspiele und andere Prosa, trat mit Reinhold Bilgeri erfolgreich als Austropop-Duo auf. Einen ersten großen Erfolg hatte er mit der freien Nacherzählung der Sagen des klassischen Altertums und der Heldensagen für verschiedenste audiovisuelle Medien in den 1990-er Jahren. Es folgten Gedichte und Romane. Q: https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_K%C3%B6hlmeier

Inhaltsangabe: Fiktive Dialoge zwischen Charlie Chaplin und Winston Churchill. Beide eint neben der Zeitgenossenschaft, dass sie, als sie ihre Bestimmung gefunden hatten, genialische Züge entwickelten, und das nicht nur in engen Betätigungsfeldern. Chaplin als kreativer Schauspieler/Caster und Charakter-Erfinder sowie wirtschaftlich erfolgreicher Hollywood-Boss, Churchill als Staatsmann, Diplomat und Schriftsteller, der es bis zum Nobelpreis für Literatur brachte. Köhlmeier thematisiert aber auch prominent ihre depressiven Neigungen.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Lesenswert, weil es gerade in diesen Tagen die Persönlichkeit eines Mannes wieder ins Bewusstsein rückt, der als einer der Vordenker der Wende von der Appeasement-Politik gegenüber einem berechenbaren Aggressor zur Befriedung unseres Kontinents gelten darf. Und eines zweiten, dessen Umtriebigkeit die Filmlandschaft bis heute maßgeblich beeinflusst, obwohl er nur noch selten in der Öffentlichkeit erwähnt wird.

(130) Köhlmeier, Michael: Das Philosophenschiff. Roman

Gelesen als: München: Carl Hanser Verlag GmbH & CO. KG 2024. Gebunden mit Schutzumschlag, 222 Seiten. ISBN 978-3-446-27942-1, 24,– €

Über den Autor: Köhlmeier (*1949 Hard /Vorarlberg, Österreich) studierte Politik und Germanistik in Marburg und Mathematik und Philosophie in Gießen. Er schreibt und spricht seit Anfang der 1970-er Jahre Hörspiele und andere Prosa, trat mit Reinhold Bilgeri erfolgreich als Austropop-Duo auf. Einen ersten großen Erfolg hatte er mit der freien Nacherzählung der Sagen des klassischen Altertums und der Heldensagen für verschiedenste audiovisuelle Medien in den 1990-er Jahren. Es folgten Gedichte und Romane. Q: https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_K%C3%B6hlmeier

Inhaltsangabe: Die Rahmenerzählung spielt in Wien: Eine 100-jährige berühmte Architektin sucht seine Bekanntschaft, um ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Deren erzählerischer Höhepunkt besteht darin, wie sie als kleines Mädchen nach der russischen Revolution 1922 auf einem Schiff mit anderen Bürgerlichen und Intellektuellen aus St. Petersburg evakuiert wird und dort auf den ebenfalls ausreisenden, aber schon schwer kranken Revolutionär Lenin trifft.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Wie schon #129 ein freies Weiterdrehen der Wirklichkeit. Köhlmeier verbindet gekonnt historische Fakten mit Fiktion und erweitert so den Horizont auch der Lesenden. Einer der Kunstgriffe besteht eben darin, dass der gestresste und geschwächte Lenin sich einer verständlichen Sprache bedienen muss, um überhaupt mit dem Mädchen eine Kommunikationsebene zu finden.

(131) d’Aunet, Léonie: Reise einer Frau in der Arktis

Gelesen als: Hamburg: mare Verleg 2024. 1. Auflage. Leinen gebunden im Schuber, 352 Seiten, Karten in den Umschlaginnenseiten. ISBN 978-3-86648-687-4. 34,– €. Originalausgabe: Voyage d’une femme au Spitzberg. Paris: Hachette 1854

Über die Autorin: Die Schriftstellerin Léonie d’Aunet (1820 Paris – 1879 Paris) wurde als Lebensgefährtin des französischen Malers François-Auguste Biard gebeten, ihren Mann zur Teilnahme an einer Arktis-Expedition nach Spitzbergen zu überreden. Das versprach sie unter der Bedingung, dass sie ebenfalls daran teilnehmen dürfe, was in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus herausfordernd war, besonders für eine 19-jährige Frau. Später wurde sie die Geliebte von Victor Hugo und kam deshalb wegen Ehebruch ins Gefängnis. Abgesehen von dem Reisebericht sind ihre weiteren Werke aber in Vergessenheit geraten.

Inhaltsangabe: Die Reise führte mit Schiff und Kutsche über die Nordsee, das norwegische Festland nach Norwegen. Auf dem Rückweg durchquerte die Expedition Lappland und reiste über die schwedische Ostküste und durch Preußen zurück nach Paris.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Originell als Reisebericht. D’Aunet beschreibt die bereisten Landschaften und ihre Einwohner aus der von formellen Expeditionsaufgaben unbelasteten Perspektive, oft vorurteilslos, aber doch auch oft belastet von ethischen Vorstellungen, die wir heute nicht ohne weiteres akzeptieren würden. Erstaunlich locker geht sie mit den Herausforderungen um, die eine Dame der französischen Gesellschaft nicht ohne weiteres bewältigen und verarbeiten kann.

Der für mich schönste Satz: „Als reisender Frau wurde mir übrigens die Ehre zuteil, selbst Anschauungsobjekt [der Norweger] zu sein.“

(132) Millard, Candice: Der Fluss der Götter – Die abenteuerliche Expedition zu den Quellen des Nils. Ins Deutsche übertragen von Irmengard Gabler

Gelesen als: Frankfurt (Main): S. Fischer Verlag GmbH 2023. 418 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesezeichen, Zahlreiche Abbildungen, zwei Karten. ISBN 9-783-103-97533-8, 28,– €

Über die Autorin: Millard (*1967 in Ohio/USA laut Wikipedia, 1968 lt. Waschzettel), studierte Literatur, lebt und arbeitet in Leawood, Kansas/USA. Sie veröffentlichte bisher vier Non-fiction-Bestseller, als ersten „The River of Doubt“ über eine Reise von Theodore Roosevelt nach seiner Amtszeit als US-Präsident ins Amazonasgebiet. „Der Fluss der Götter“ ist der erste dieser Romane, der ins Deutsche übersetzt wurde. https://www.candicemillard.com/index.html#about

Inhaltsangabe: Die Reisen der britischen Forscher Richard Burton und John Speke durch Ostafrika, um die Quelle des Nils für Europa zu entdecken. Diese Reisen waren – abgesehen von der teilweisen Erfolglosigkeit – von persönlichen Auseinandersetzungen der Protagonisten gekennzeichnet. So wurde ein befreiter Sklave, der beide durch die Wildnis führte, zum eigentlichen Held dieser Entdeckungsreisen.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Ob es nun wirklich „die größte Abenteuergeschichte des 19. Jahrhunderts“ ist, wie der Schutzumschlag verheißt, wage ich nicht zu beurteilen, aber faktenreich und mitnehmend ist sie auf jeden Fall erzählt. Sie lässt im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen und auch späteren Darstellungen auch nicht die kritische Distanz zu Kolonialismus und Sklavenhandel und -haltung vermissen. Vor allem lohnt sich die Lektüre auch deshalb, weil der afrikanische Kontinent derzeit nicht so sehr im Fokus der westlichen Sicht steht, obwohl etliche Phasen der Geschichte durchaus eine Neubewertung nicht nur in den akademischen Blasen verdienten.

(133) Wittstock, Uwe: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur

Gelesen als: München: C.H.Beck oHG 2024. 3. Auflage. Gebunden mit Schutzumschlag, 351 Seiten, 28 Schwarzweiß-Abbildungen im Text, 3 Karten. ISBN 978-3-406-81490-7, 26,– €

Über den Autor: Der Schriftsteller und Journalist Wittstock (*1955 Leipzig) arbeitete als Literaturkritiker u.a. für „FAZ“ und „Welt“. Mit „Februar 1933. Der Winter der Literatur“ schaffte er es 2021/22 für mehrere Wochen in die „Spiegel“-Bestsellerliste, in der sich auch das vorliegende Werk schon länger hält.

Inhaltsangabe: Schicksale westeuropäischer jüdischer und nichtjüdischer Künstler, hauptsächlich Schriftsteller und Maler, während der Eroberung weiter Teile Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Dabei thematisiert Wittstock vor allem die Rolle von Varian Fry, einem amerikanischen Journalisten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, möglichst viele dieser Flüchtlinge vor dem Zugriff der Gestapo zu retten, und sich dabei Gegnern nicht nur in Gestalt nationalsozialistischer Fahnder, sondern auch in Form von Behörden des faschistischen Vichy-Regimes im unbesetzten Teil Frankreichs und sogar in der amerikanischen Gesellschaft ausgesetzt sah.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Sehr lesenswert, weil der Autor letztlich die Zerstörung eines großen Teils sowohl der deutschen als auch der französischen Kultur durch faschistische Populisten zum Thema macht. Dabei spannend, auch wenn der Leser die Schicksale der meisten beschriebenen Personen bereits kennt. Für mich war es wie ein Wiedersehen mit alten Bekannten wie etwa Heinrich und Golo Mann oder Anna Seghers und vielen anderen, mit denen ich mich im Studium immer wieder beschäftigt habe. Insgesamt macht die Historie der Exil-Wege so vieler Intellektueller Mut im Hinblick auf die Unsicherheiten im Jahr 2024, denn die Situation muss den Protagonisten damals noch wesentlich aussichtsloser – wenn dieses Wort überhaupt steigerbar ist – erschienen sein als heute.

(134) Grann, David: Der Untergang der Wager – Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei

Gelesen als: München: C.Bertelsmann 2024. Gebunden, Schutzumschlag, Lesezeichen. 432 Seiten, mehrere Karten in den Umschlaginnenseiten, zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Abbildungen. ISBN 978-3-570-10546-7. Originalausgabe: The Wager. New York: Doubleday 2023

Über den Autor: Grann (*1967 New York) ist Redakteur bei „The New Yorker“, schreibt aber auch für andere Publikationen und hat sich einen Namen als True-Crime-Sachbuchautor gemacht. Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/David_Grann) nennt als sein berühmtestes Buch „Killers of the Flower Moon“ (2017), das von Martin Scorsese verfilmt wurde.

Inhaltsangabe: Zusammenfassung der verschiedenen Berichte über das Kriegsschiff „Wager“, das 1740ff. mit einem kleinen Geschwader im Krieg um die Seehoheit gegen die Spanier unterwegs war, von Südengland aus Kap Hoorn umschiffen sollte und unter anderem eine spanische Galeone mit reichlich aus den Kolonien geraubten Edelmetallen kapern sollte. Die „Wager“ strandete in Patagonien, womit für die Besatzung eine Reise durch die Tiefen menschlicher Existenz begann. Von mehreren hundert Crewmitgliedern erreichten nach jahrelangen Fahrten rund 30 die Heimat wieder und mussten sich dann auch noch einem Kriegsgerichtsverfahren stellen.

Anlass der Lektüre: Geschenk.

Bewertung: Sehr spannend, die Tiefe der Recherche der zahlreichen Berichte über die Tragödie nimmt der Schilderung der Abenteuer nichts von ihrer Faszination. Der Autor betont mehrfach seine kritische Sicht des damals vorherrschenden (weiß-)suprematistischen Menschenbildes, des Kolonialismus der einstigen Großmächte und des Sklavenhandels und belegt den Standpunkt auch.

(135) Dahmen, Tobi: Columbusstraße – Eine Familiengeschichte – 1935-1945. Graphic Novel

Gelesen als: Hamburg: Carlsen Verlag GmbH 2024. Gebunden, 530 Seiten, Graphic Novel, ISBN 978-3-551-79663-9, 40.– €

Über den Autor: Dahmen (*1971 Frankfurt/Main) ist ein Comicautor und Illustrator. Er studierte in Düsseldorf Visuelle Kommunikation, schloss dort mit einer Diplomarbeit über Jack Kerouac ab. Für Fanzines und Comics erhielt er mehrere Auszeichnungen. Einer größeren Öffentlichkeit wurde er mit seiner Graphic Novel „Fahrradmod“ (2015) bekannt. Er lebt und arbeitet in Utrecht. https://www.carlsen.de/comics/columbusstrasse-comic/tobi-dahmen-ueber-columbusstrasse

Inhaltsangabe: Der Autor schildert anhand biographischer Dokumente und Gespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten die Ereignisse der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges und deren Einwirkungen auf das tägliche Leben im Deutschen Reich.

Anlass der Lektüre: Geschenk

Bewertung: Meine erste Graphic Novel. Ein wenig enttäuscht war ich, dass sie so schnell durchgelesen ist. Aber das liegt wohl eher an mir. Tatsächlich liefert Dahmen eine sensiuble Aufarbeitung der Vergangenheit seiner Familie. Diese hat nach meinen Erfahrungen weitgehend repräsentatives Verhalten von Klein- und Großbürgern in der Nazizeit an den Tag gelegt. Dahmen macht aus seiner Enttäuschung/Scham darüber keinen Hehl, dass seine Vorfahren eben auch Flecken auf der Weste hatten, und das, obwohl Teile der Familie von tiefem christlichem Glauben beeinflusst waren. Jüngeren LeserInnen dürfte nicht nur das Glossar im Anhang beim Verständnis helfen – am besten parallel zum Comic lesen, auch wenn zu Anfang nicht auf das Vorhandensein des Glossars hingewiesen wird –, sondern auch das „Making of“ der Novel auf der Website des Verlags: https://www.carlsen.de/comics/columbusstrasse-comic/tobi-dahmen-ueber-columbusstrasse

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(136) Ritzau, Hans-Joachim / Garrecht, Franz: Kursbücher – Spiegel der Zeit. Leben mit der Bahn. Zur Mythologie der Eisenbahngeschichte.

Gelesen als: Pürgen: Ritzau KG – Verlag Zeit und Eisenbahn 1994. Band 3 der Reihe „Die Eisenbahnszene gestern und heute). Gebunden, 154 Seiten, zahlreiche SW-Abbildungen und Karten. ISBN 978-3-921-304914.

Heute lieferbar: Nur noch antiquarisch.

Über den Autor: Ritzau ist ein Eisenbahnautor, dessen Bücher – wie dieses – im Selbstverlag veröffentlicht wurden.

Inhaltsangabe: Drei unterschiedliche Aufsätze, der erste zeichnet die Entstehungsgeschichte des Eisenbahnkursbuchs in Deutschland nach. Im zweiten berichtet Ritzau über seine Beziehung zu diesem Verkehrsmittel. Im dritten setzt sich Garrecht mit der „Eisenbahngeschichtsschreibung“ und den diversen, nicht immer objektiv richtigen (sondern vielfach interessengeleiteten) und schlüssigen Begründungen der Streckenführung von Bahntrassen auseinander.

Anlass der Lektüre: Stand ungelesen im Regal.

Bewertung: Zu Recht ungelesen. Als ich mir das Buch vor Jahrzehnten gekauft habe, hoffte ich darin etwas über die Geschichte des Kursbuchs zu erfahren. Diese Hoffnung wird im ersten Teil auch einigermaßen erfüllt. Aber schon dort fällt unangenehm die häufige Hervorhebung der Verkehrssituation in der Mitte Deutschlands, etwa begrenzt von Kassel, Hannover, Braunschweig, Magdeburg und Halle auf, die nun wirklich nicht immer repräsentativ für die deutsche Kursbuchgeschichte ist. Der zweite und der dritte Teil enthalten nicht nur „too much information“ für allgemein interessiertes Lesepublikum, sondern nerven sowohl durch egozentrierte Darstellung als auch mit überladen langen Sätze und vorurteilsbehaftetes Bashing anderer Autoren. Vielleicht finde ich irgendwann noch eine bessere Darstellung der Geschichte der deutschen, gern aber auch der internationalen Kursbücher.

(137) Cabré, Jaume: Das Schweigen des Sammlers. Roman. Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und Petra Zickmann.

Gelesen als: Berlin: Insel Verlag 2013. 5., revidierte Auflage 2023. Insel Taschenbuch 4226. 856 Seiten. ISBN 978-3-458-35926-5. 14 €. Originalausgabe: Jo confesso. Barcelona: Edicions Proa 2011.

Über den Autor: Cabré (*Barcelona 1947) ist ein spanischer Schriftsteller und Philologe. 1974 veröffentlichte er seinen ersten Erzählband neben seiner Lehrtätigkeit. Er schreibt auch Drehbücher. Einem größeren Publikum in Deutschland wurde er bekannt mit seinem Roman „Les veus del Pamano“ (“Die Stimmen des Flusses“) 2004. Er thematisiert sowohl die faschistische Ära in Deutschland und Spanien des 20. Jahrhunderts als auch den Einfluss der Musik auf die Literatur.

Inhaltsangabe: Der Sohn eines Antiquitätenhändlers arbeitet seine und die Vergangenheit seines Vaters auf, indem er dem Verbleib einer wertvollen Cremonenser Geige nachspürt, die der Vater sich mit fragwürdigen Methoden angeeignet hat.

Anlass der Lektüre: Empfehlung des langjährigen Kollegen Christoph S., dem hiermit herzlich gedankt sei.

Bewertung: Sehr lesenswert, auch wenn das Ende ältere LeserInnen nicht nur melancholisch stimmen dürfte, sondern mir auch etwas in die Länge gezogen scheint. Anfangs ist der schnelle und typografisch nicht „angekündigte“ Wechsel in den inneren Monolog etwas gewöhnungsbedürftig, aber dann versteht man, warum der Autor von der dritten in die erste Person und umgekehrt wechselt. Vieles ist nachdenkenswert, wenngleich die persönlichen Schuldgefühle und -zuweisungen, unter denen die Protagonisten leiden, obwohl sie nur die Nachfahren der eigentlich Schuldigen sind, mir etwas übertrieben scheinen. Das sie mit ihren Wiedergutmachungsversuchen alle irgendwie scheitern, passt dazu.

Der beste Satz: Manchmal verstehe ich nicht, warum die Menschen aufeinander einschlagen, wo es doch so viel anderes zu tun gibt.“ (S.634)

(138) Walter, Hans-Albert: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Band 1: Bedrohung und Verfolgung bis 1993.- Band 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa

Gelesen als: Darmstadt und Neuwied: Hermann Luchterhand Verlag 1972. Sammlung Luchterhand SL76 und SL 77. 318 bzw. 418 Seiten. Broschiert mit transparentem Schutzumschlag.

Heute lieferbar: In dieser Gliederung nur noch antiquarisch.

Über den Autor: Walter (1935 Hofheim/ts.- 2016 Frankfurt/M.) war ein deutscher Literaturwissenschaftler mit Schwerpunkt Literaturwissenschaft. Die Bände sind zwei von einer großangelegten Arbeit zur deutschen Exilliteratur, von der darüber hinaus noch ein weiterer mit dem Thema „Exilpresse“ erschienen ist, der vielleicht später hier noch gelesen und besprochen wird. Walter hat eine kaufmännische Ausbildung, begann aber von 1957 an als freier Schriftsteller zu arbeiten und widmete sich ab 1962 der Erforschung der deutschen Exilliteratur. 1988 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Köln zuerkannt.

Inhaltsangabe: Im ersten Band stellt Walter die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten dar, denen Schriftsteller, insbesondere solche mit politischem Anspruch in der Weimarer Zeit ausgesetzt waren, und räumt in für die damalige Zeit (1972) großer Offenheit und wissenschaftlich fundierter Weise mit den gepflegten Vorurteilen auf, dass die Zeit der Weimarer Republik liberal im heutigen Sinn mit politisch missliebigen Schriftstellern umgegangen wäre. Im zweiten Band schildert er die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Exilierten in europäischen Ländern von Frankreich über die Schweiz bis zur Sowjetunion. Teilweise lassen sich die Ergebnisse von Walters Arbeit mit Zuständen der heutigen Zeit vergleichen. Die Exilierten waren eigentlich nirgendwo willkommen, von Kommunisten in der Sowjetunion abgesehen, und wurden teils sogar von ihren Kollegen in den Gastländern ungnädig empfangen.

Anlass der Lektüre: Stand in Bücherregal. Im Studium nutzte ich es als Lexikon, es lässt sich aber auch als Dokumentation nutzen, wenngleich es teilweise überholt ist. Zum Beispiel lässt sich die wirtschaftliche Situation Thomas Manns im Exil besser in dessen Tagebüchern nachvollziehen, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass er nicht alles vollständig und wahrheitsgetreu beschrieben hat. Diese waren aber zum Zeitpunkt des Erscheinens von Hans-Walters Arbeit noch nicht veröffentlicht.

Bewertung: Nicht nur für an Exilliteratur Interessierte eine aufschlussreiche Lektüre. Sie erklärt eindringlich, wie schwer, entbehrungsreich und sogar gefährlich das Leben für Flüchtlinge ist, erst für solche, die von sprachbasierten Veröffentlichungen leben müssen. Es ist auch nützlich als Zusatzinformation über die historischen Voraussetzungen der Fluchtbedingungen in Frankreich, wie sie in Wittstocks „Marseille 1940“ (#133) geschildert werden.

(139) Melzer, Christien, und Bartsch, Tatjana (Hrsg.): Faszination Rom – Maarten van Heemskerck zeichnet die Stadt

Gelesen als: München: Hirmer Verlag GmbH 2024. Gebundene Ausgabe, Großformat: 24.1 x 3.5 x 28.2 cm, 352 Seiten, viele Abbildungen. ISBN: 978-3777443430. 49,90 €.

Inhaltsangabe: Katalog einer Ausstellung im Berliner Kupferstichkabinett von April bis August 2024.

Anlass der Lektüre: Besuch der Ausstellung.

Bewertung: Aufschlussreiche Details sowohl über Leben und Ziele eines Künstlers im 16. Jahrhundert, über Zeichentechniken und über das Rom der Renaissance. Wen das interessiert, der ist mit diesem Buch gut bedient. Der hohe Preis ist angesichts der eindrucksvollen Drucktechnik und der wahrscheinlich geringen Auflage wohl gerechtfertigt.

(140) Bossong, Nora: Reichskanzlerplatz. Roman

Heute lieferbar: Berlin: Suhrkamp Verlag 2024. Gebunden, 296 Seiten, ISBN 978-3-518431900. 25,–€

Über den Autor: Bossong (* 1982 Bremen) ist Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Berlin. Ihre Romane lehnen sich oft an reale historische Gegebenheiten an, so „Schutzzone“ (2019), der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Das gilt auch für das vorliegende Werk, das Mitte August für die diesjährige Auszeichnung auf die Longlist kam.

Inhaltsangabe: Das Leben von Magda Goebbels, der Ehefrau zunächst des schwerreichen Industriellen Günther Quandt, dann des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels, geschildert aus der Perspektive eines homosexuellen Liebhabers.

Anlass der Lektüre: Auf der Suche nach Lektüre entdeckt, gekauft, gelesen.

Bewertung: Das Leben von Magda Behrend (-Ritschel), adoptierte Friedländer, geschiedene Quandt, verheiratete Goebbels, die kurz vor dem Ende des NS-Regimes ihre sechs Kinder ermordete oder zumindest die Tötung durch einen Arzt zuließ und anschließend Selbstmord beging, war in seiner ganzen Grausamkeit und Tragik schon mehrfach Gegenstand der Literatur. Mangels einer Ehefrau Hitlers erfüllte sie während ihrer Ehe quasi die Aufgaben einer First Lady des Dritten Reiches. Die Erwartungen an eine neuerliche Beschäftigung dürfen also hoch sein. Sie werden in diesem Buch nicht erfüllt. Es liest sich gut, stellt auch in Ansätzen die fragwürdigen Charaktereigenschaften des Protagonisten und seine Unfähigkeit vor, sich vom Dritten Reich zu distanzieren, für dessen diplomatischen Dienst er bis zum Schluss arbeitete. Aber wirklich beleuchtet werden sie nicht. Die Handlung endet vor dem Kriegsende und erst recht vor den Versuchen, solches Verhalten aufzuarbeiten. Das wäre auch ein Romanthema gewesen.

Der beste Satz: „Danach [nach Sex zwischen Magda und Hans, dem Ich-Erzähler] lag sie in meinem Arm, und ich las ihr aus einem Aufsatz von Walter Benjamin vor.“

(141) Lewis-Stempel, John: Das geheime Leben der Eule. Übersetzt von Sofia Blind.

Heute lieferbar: Köln: DuMont Buchverlag GmbH 2023. Taschenbuch, 125 Seiten (davon 17 Leseprobe eines anderen Buches), ISBN 978-3-83216711-0. 13,– €

Über den Autor: Lewis-Stempel (*1967 Herefordshire, UK) ist Landwirt und Autor mehrerer Bücher des Genres „Nature Writing“. Er ist zweifacher Preisträger des renommierten Wainwright Prize for Nature Writing. (https://books.google.de/)

Inhaltsangabe: Vorstellung der bekanntesten Eulenarten und ihrer Bedeutung in der Natur und der menschlichen Mythologie.

Anlass der Lektüre: Lag auf dem Wühltisch der Spandauer Thalia-Filiale.

Bewertung: Wenn man sich nicht an dem Titel „Das geheime Leben…“ stört, der derzeit inflationär genutzt wird, bietet das Buch viele Informationen über die mythisch beladenen Vögel, die man nicht nach Athen tragen sollte, wie ein Zitat des antiken Tragöden Aristophanes 414 v. Chr. vorschlägt. Insbesondere die Anführung literarischer Erscheinungen der Eulen unterhält. Gute Kombination aus Nature Writing mit Kultur.

Warum ich das blogge

Warum ich das blogge? Mit „Nachhaltig lesen“ ist für mich eine neue Freizeitbeschäftigung entstanden. Sie besteht aus mehr als nur „Lesen“. Zunehmend wurde mir bewusst, dass ich nicht mehr einfach nur zum Zeitvertreib lesen und mich bestenfalls in die Welt der Handelnden oder des beschriebenen Sachgebiets hineindenken wollte. Vielmehr habe ich mir mit der selbst gegebenen Archivierungsstruktur ein bisschen Disziplin verordnet, nämlich: das Was, Wie und Warum jedes Buches zu erkennen und im Kopf mitteilungsfähig aufzuarbeiten. Am Ende hat man so tatsächlich mehr von der Lektüre. Um dem Vergessen vorzubeugen, lese ich nicht nur weiter, sondern schreibe die gewonnenen Erkenntnisse auch weiter in diesem Blog auf.

Zur Auswahl der Bücher

Wie immer, ist die Auswahl der Bücher mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Dass ich hier Beschreibungen meiner Lektüre veröffentliche, hat folgenden Hintergrund: Oft sind mir Inhalte der Lektüre nach einiger Zeit nicht mehr präsent. Da habe ich mir gedacht, ich schreibe sie nach der Lektüre kurz auf. Und wenn ich das schon tue, dachte ich mir weiter, kann ich das Geschriebene auch gleich in das Blog stellen, um vielleicht andere Menschen zu Lektüre anzuregen.

Natürlich lese ich keine Bücher zu Themen, die mich überhaupt nicht interessieren, oder Romane, die mir schon vom Klappentext her nichts zu bringen scheinen. Meine Auswahl wird bestimmt durch das Bedürfnis, das Wissen in einem bestimmten Gebiet zu vertiefen. Oder (Vor-) Urteile innerhalb der Gesellschaft zu verifizieren oder zu falsifizieren. Oder die Bücher werden mir als Besprechungsexemplare angeboten. Oder Neugier. Oder eine Empfehlung oder einfach ein „Festlesen“ in einem Buch, das einem beim Nachschlagen in einem anderen auffällt. Oder ich greife mir aus meinen überfüllten Regalen eins, das ich schon immer mal lesen wollte. 

Die mehr als 140 Bücher, die seit Pandemiebeginn bereits über meinen Nachttisch gegangen sind, finden Leserinnen und Leser beim Blättern durch den Blog https://www.schienestrasseluft.de

Für Anregungen und konstruktive Kritik bin ich jederzeit dankbar. Falls jemand sich in irgendwelchen Rechten verletzt fühlen sollte, bitte ich vor der Einleitung rechtlicher Schritte um ein klärendes Gespräch. Probleme lassen sich bestimmt gütlich und ohne Aufwand lösen.