Der Bundespräsident besucht die Grüne Woche
Man kann über Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner politisch denken, was man will, aber man kommt nicht umhin, ihr eine ganze Menge Charisma und Kommunikationsfähigkeit zuzugestehen. Die Frau hat endlich wieder frischen Wind in die bislang jedenfalls politisch recht verschnarchte Agrarlandschaft gebracht. Mehr Politik als auf der Grünen Woche 2019 dürfte kaum gehen. Der Bundespräsident, die Bundeskanzlerin und Minister*innen aller Art gaben sich auf der Grünen Woche ein Stelldichein, ganz zu schweigen von Partei-, Fraktions- und Landesgruppenchefs von Dobrindt über Göring-Eckardt und Hofreiter bis Lindner (in alphabetischer Reihenfolge). Alle verkündeten, jeweils auf ihre politische Gefolgschaft zugeschnitten, das Bekenntnis, es sei nun wirklich an der Zeit, für gleichwertige Lebensverhältnisse in städtischen und ländlichen Räumen zu sorgen.
Diese Prämisse ist ja nicht neu, sie steht im Koalitionsvertrag und sinngemäß sogar im Grundgesetz. Besonders seit der Vereinigung bedeutet der Begriff, dass zwischen Ost und West gleichwertiger Lebensstandard geschaffen werden soll(te). In Fortschreibung dieser Bedeutung gehört nicht viel Hellseherei zu der Voraussage, dass das Jahr 2019 vor allem im Zeichen der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zwischen dem ländlichen Raum und den urbanen Ballungszentren steht.
Im Kongressteil der Grünen Woche machte das Zukunftsforum Ländliche Entwicklung genau das zum Thema. Alle fokussierten dabei auf die Digitalisierung und die Versorgung des ländlichen Raums mit Breitband- und/oder 5G-Technologien, wobei der neue Mobilfunkstandard fast noch wichtiger ist, denn gerade in der Landwirtschaft muss sich vieles über Funktechnologien steuern lassen, soll digitales Arbeiten auf dem Acker und im Wald Einzug halten. Ob irgendwann autonom fahrende Autos zur Serie werden, darüber können wir dann später reden. Jetzt geht es eher darum, die neuen Technologien für effiziente, nachhaltige Landwirtschaft und die Möglichkeit zu nutzen, auch auf dem Land wettbewerbsfähige Arbeitsplätze und Produktionsstätten zu schaffen.
Dass das flache Land nicht mehr der Arsch der Welt ist
Plakativ zusammengefasst: Es kommt darauf an, dass das „flache“ Land nicht mehr der Arsch der Welt ist. Diese drei kleinen Wörter zierten eine Stellwand ganz in der Nähe des Standes, auf dem der Bundespräsident seinen Rundgang in der Halle 4.2 begann wollte. Nahebei hat auch das Bundeslandwirtschaftsministerium einen großen Stand. Weitere Flächen hat es verschiedenen Initiativen zur Verfügung gestellt, die sich die geforderte Aufbesserung der Lebensverhältnisse auf die Fahnen geschrieben haben.
Im Vorfeld der präsidialen Präsenz hatte das Staatsoberhaupt zwar die Parole ausgegeben: „Wegen mir muss hier nichts verändert oder umgestellt werden.“ Das sagt sich leicht gegenüber einem Protokoll, vor dessen geistigem Auge schon ein Steinmeier-Video mit der Schrift „Arsch der Welt“ im Hintergrund auf allen sozialen Medien mit entsprechenden Kommentaren rauf und runter läuft. Natürlich wurde das Wort unsichtbar, als Steinmeier kam.
Lieber Herr Bundespräsident, das wäre Ihr Anblick gewesen:
Sein Programm passte nahtlos in das Digitalisierungs-, Startup- und Innovations-Framing der Grünen Woche. Er absolvierte drei Stationen in der Halle, bevor er zum großen Vortrag im CityCube ansetzte. Schon als er, einen eiskalten Luftzug vorausschickend, durch das Außentor zum Stand der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Höxter mbH kam, brach er sofort die protokollarische Steifheit und lieferte einen Beweis für ostwestfälische Beredsamkeit, indem er Julia Klöckner statt mit „Einen schönen guten Morgen, Frau Ministerin“ mit einem kurzen, verschmitzt gelächelten „Na!?“ begrüßte.
Der Bundespräsident machte sowohl beim Rundgang als auch in seiner Rede deutlich, dass er wusste, wovon er sprach. Er kommt nämlich aus dem kleinen ostwestfälischen Ort Brakelsiek (“früher 900 Einwohner, jetzt weniger”) und er fordert, dass zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der Stadt und auf dem Land „Kommunikation, ärztliche Versorgung, Schienen – ja, und auch Straßen“ gehören, auf denen nicht nur die Einwohner selbst, sondern auch Busse fahren können. Google Maps zum Beispiel antwortet auf die entsprechende Frage: Die Route von “Brakelsiek, 32816 Schieder-Schwalenberg” nach “Höxter Rathaus, 37671 Höxter” mit öffentlichen Verkehrsmitteln konnte nicht berechnet werden. Spoiler: Es gibt natürlich mehrere Straßenverbindungen für die rund 27 Kilometer lange Distanz. Aber mit dem öffentlichen Nahverkehr scheint es in seiner ostwestfälischen Heimat nicht so weit her zu sein, so dass der Ironie und Satire nicht abgeneigte Steinmeier sicher einen Spruch parat gehabt hätte, wenn er die Schrift vom „Arsch der Welt“ hätte sehen können.
An den ersten beiden Stationen schafften er und Klöckner es, die Begegnung mit dem Staatsoberhaupt auf Augenhöhe runterzubrechen, indem er am Höxter-Stand interessiert nachfragte, wie sie denn die Kooperation mit dem Nachbarkreis Lippe (seiner Heimat) gestalteten, und eine ausführliche Antwort bekam, ebenso wie die Bemerkung, dass versucht werde, die „Jugend durch Partizipation einzubinden“, damit sie nicht in die Stadt abwandere oder damit sie wengistens nach der Ausbildung zurückkomme. Bei den Lokalhelden ließ er sich erzählen, wie ein Start-up-Unternehmer eine App gebaut hat, die die Landmarks und Highlights von Dörfern oder kleinen Städten individualisiert erläutert.
Aber auf Klöckners eigenem Stand schafften es weder der Bundespräsident noch die Hausherrin, eine steife Runde von Präsidenten des Deutschen Landkreistages, des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und des stellvertretenden Hauptgeschäftsführers des Deutschen Industrie- und Handelstages aufzubrechen. Die Herren leierten in jeweils etwa anderthalb Minuten ihre Statements vor einer aufwändigen Multimediawand herunter, sodass der Bundespräsident am Ende fragte: „Aber ich gehe doch recht in der Annahme, dass es sich hier nicht um eine Lobbyismusveranstaltung für Rheinland-Pfalz handelt?“ Scheinbar herzliches Lachen.
Aus mit dem bundespräsidialen Protokoll vertrauten Kreisen verlautete die Absprache, dass im CityCube bei Ankunft des Präsidenten keine besonderen Begrüßungszeremonien stattfinden sollten. Der Unterschied zwischen dem derzeitigen Status Frank-Walter Steinmeiers und (zum Beispiel) Elizabeth von Windsor besteht ja unter anderem darin, dass er der oberste Diener des Staates und der „Bundespräsident aller Deutschen“ ist und nicht ein qua Geburt ins Amt gekommener Monarch. Was aber tat der Moderator des Forums? Er stellte sich vor das mehrere hundert Köpfe starke Publikum und verkündete stolz, dass der ganz besondere Gast gleich komme, eben der Bundespräsident, und „dass wir den doch bitte angemessen begrüßen“. Als Steinmeiers Vorhut die Tür aufriss, rief er: „Meine Damen und Herren: Begrüßen Sie mit mir den Bundespräsidenten!“, und es brandete nicht nur anhaltender Beifall auf, sondern die Zuhörer erhoben sich geschlossen. Es folgte dementsprechend ein Einmarsch wie beim Parteitag.
Steinmeier ließ sich nichts anmerken und hielt seine Rede, launig unter mehrfacher Anspielung auf seine Herkunft vom Lande, und mit deutlichen Forderungen nach beschleunigtem Abbau von Funklöchern ebendort. Ein einziges Mal gab es Szenenbeifall, nämlich als er unter Bezug auf den schleppenden Breitbandausbau sagte: „Darüber lamentieren wir jetzt schon viel zu lange.“ Zu dem zweiten Szenenbeifall musste er das Publikum selbst auffordern. Der erscholl nämlich, nachdem er die Ehrenamtlichen gelobt hatte, die vielfach aufopferungsvoll wichtige Dienstleistungen auf dem Lande erbringen.
Internet sei heutzutage wichtig wie Strom und Wasser. Stimmt ja auch. Das Staatsoberhaupt schloss mit den Worten: „Wo immer die Menschen arbeiten, brauchen sie schnelles Internet.“ Wenn es nur alle Regierungsmitglieder verinnerlichen und danach handeln würden. Und weiter: „Es ist Land in Sicht…“ Damit nahm er den Titel einer Broschüre des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement auf, das sich der Demokratiestärkung im ländlichen Raum verschrieben hat, gefördert von Klöckners Ministerium. „…das Land der Zukunft. Arbeiten wir dafür“, sagte Steinmeier. Und wieder brandete Beifall auf.